Heinrich Wölfflin
Beiträge
Context XXI, Heft 3-4/2005

La paz que mata

Carl Einstein aus der Asche
Juni
2005

Schweissfuß klagt gegen Pfurz in trüber Nacht! ... ... heißt ein Romanfragment von Carl Einstein aus dem Jahre 1930. In diesem beschreibt er wohl deutlich, was ihm seine Person und ein Gerede über diese bedeutet: „ICH der banalste Kollektivplatz, in Präservativ gewickelt.“ (1993, S.32) Er wollte (...)

Heinrich Wölfflin (Foto von Rudolf Dührkoop)

Heinrich Wölfflin (* 21. Juni 1864 in Winterthur; † 19. Juli 1945 in Zürich) war ein Schweizer Kunsthistoriker.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Heinrich Wölfflin war ein Sohn des Klassischen Philologen und Professors Eduard Wölfflin und dessen Ehefrau Bertha Wölfflin, geb. Troll, sowie der ältere Bruder von Ernst Wölfflin. Am 12. April 1880 trat er aus der Studienanstalt in Erlangen in die zweite Gymnasialklasse des Münchner Maximiliansgymnasiums über und legte hier 1882 das Abitur ab.[1] Er studierte Philosophie an der Universität Basel und an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, später auch Kunstgeschichte in München. 1886 schrieb er dort seine Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur bei dem Archäologen Heinrich Brunn. Ein daran anschließender zweijähriger Aufenthalt am Deutschen Archäologischen Institut in Rom führte zu seiner Habilitationsschrift Renaissance und Barock. 1893 wurde er als Nachfolger seines Lehrers Jacob Burckhardt Professor für Kunstgeschichte an der Universität Basel. Dort unterrichtete er auch Frauen wie Adele Stöcklin (1876–1960), die später in Volkskunde promoviert wurde und am Kupferstichkabinett tätig war, die Musikerin und Malerin Maria Lotz, Emmy Elisabeth Koettgen (1868–1948), die in Zürich die Maturität erworben hatte und dann in Waldenburg Lehrerin wurde, sowie Maria Gundrum, mit der Wölfflin brieflichen wie persönlichen Kontakt pflegte.[2]

Es folgten Rufe an die Universitäten Berlin 1901, mit Aufenthalt in Rom in der Villa Strohl-Fern im Wintersemester 1903, er war mit seiner Berliner Professur beurlaubt worden, 1912 München und 1924 Zürich. Zu seinen Schülern zählen August Grisebach, Erwin Anton Gutkind, Ernst Gombrich, Kurt Gerstenberg, Carl Einstein, Ernst Zipperer, Hermann Beenken, Ernst Gall, Max Sauerlandt, Paul Frankl, Walther Rehm, Erwin Panofsky, Kurt Martin, Justus Bier und Hans Rose, sowie der Künstler Alf Bayrle.

Als Wölfflin Ende des Wintersemesters 1924 München verließ und in die Schweiz übersiedelte, wollte er ein Abschlussfest geben. Da Hugo Bruckmann und seine Ehefrau Elsa ihr Haus dafür nicht zur Verfügung stellten, öffnete dafür Maria Gundrum ihr Haus. Auch während Wölfflins Gastsemester im Winter 1926/27 trafen sich dort die Schüler mit Wölfflin. Den Kern der Teilnehmer des «Gundrum Zirkels» bildeten die Studenten der Kunstgeschichte aus der Schweiz.[3]

Wölfflin wurde 1941 mit dem Dr. med. h. c. der Universität Zürich und 1944 dem Dr. h. c. der Universität Berlin geehrt. Seit 1922 war er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.[4]

Heinrich Wölfflin (1864–1945) Kunsthistoriker. Professor der Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Familien Grab auf dem Friedhof Wolfgottesacker, Basel
Grab auf dem Friedhof Wolfgottesacker in Basel

Wölfflins Grabstätte befindet sich auf dem Basler Wolfgottesacker. Seine Bibliothek und seine Photosammlung vermachte er der Universität Zürich.

Systematik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wölfflins kunsthistorischer Ansatz gilt als Formalismus, da er Kunstwerke nach ihrer äußeren Form, also ihrem Stil, betrachtete. Er war einer der ersten Kunsthistoriker, der in seinen Vorlesungen konsequent zwei Diaprojektoren verwendete, die es ihm erlaubten, Kunstwerke direkt miteinander zu vergleichen.[5] Hauptsächlich über den Vergleich von Werken der Renaissance mit Werken des Barock entwickelte er in seinem Hauptwerk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915) fünf begriffliche Gegensatzpaare, mit denen formale Unterschiede zwischen Kunstwerken der Renaissance und des Barock beschrieben werden können[6]:

Linear Malerisch
Fläche Tiefe
Geschlossen Offen
Vielheit Einheit
Klarheit Unklarheit und Bewegtheit

Mit seiner Systematik hat Wölfflin die Periodizität und Übertragbarkeit der Begriffe archaisch, klassisch, barock etc. begründet. Wölfflin selbst bezeichnete seinen Ansatz als Kunstgeschichte ohne Namen, da weniger der einzelne Künstler im Zentrum seiner Betrachtungen stand als vielmehr die Entwicklung einer Stilgeschichte, in der er Gemeinsamkeiten der Kunst bestimmter Epochen oder Länder aufdecken und benennen wollte.

Obwohl seine Begriffspaare heftiger Kritik ausgesetzt waren, gilt seine Arbeit als eine der wichtigsten Grundlagen der formalen Kunstbetrachtung. Vor allem seine Termini linear und malerisch sind auch heute noch gängige Kategorien zur Beschreibung des künstlerischen Stils. Seine Stiltypologie wurde in den 1920er Jahren von Fritz Strich auf die Literaturwissenschaft übertragen und wirkte dort weiter.[7] Wölfflins Theorie eines regelmäßigen Wandels zwischen linearen und malerischen Perioden wird in der Kunst- und Literaturgeschichte als Wellentheorie bezeichnet.

Eine weiterführende Interpretation des Begriffspaars linear/malerisch findet sich auch in Lambert Wiesings philosophischem Buch Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins von 2020. Hier bezeichnen die Grundbegriffe linear und malerisch ontologische Grundkategorien; nämlich zwei extreme „Daseinsstile“, in denen ein Mensch sich seiner selbst bewusst wird und seinen Selbstwert, sein Verhältnis zum eigenen Körper und zur materiellen Welt erlebt.

Motive[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In einer Zeit, als sich die Geisteswissenschaften gegen die Konkurrenz der Naturwissenschaften behaupten mussten, suchte Wölfflin objektive Kriterien für die Kunstbetrachtung und strebte dabei nach einem Brückenschlag zwischen Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie. Seine Dissertation bemühte sich um «ein grundlegendes Verständnis der Bedingungen, die für unsere Wahrnehmung zu allen Zeiten ihre unumstössliche Gültigkeit behalten».[8]

Zitat[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Heinrich Wölfflin, vielleicht der bedeutendste Kunsthistoriker seiner Generation, war so empfänglich für den damals vorherrschenden ästhetischen Purismus, daß er eine Technik der Dissoziation entwickelte die ebenso extrem war wie diejenige Remy de Gourmonts.“

– Edgar Wind: Kunst und Anarchie (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Nr. 1163). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, S. 27

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Wilhelm Zils (Hrsg.): Geistiges und künstlerisches München in Selbstbiographien. Kellerer, München 1913, S. ? (Digitalisat).
  • Festschrift Heinrich Wölfflin. Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte, zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern (mit einer Laudatio im Vorwort). Mit 123 Abbildungen und 19 Aufsätzen zu Themen aus der Kunstgeschichte. Verlag Hugo Schmidt, München 1924.
  • Gerhard Lüdtke (Hrsg.): Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender. de Gruyter, Berlin 1931, S. 376.
  • Schweizer Zeitgenossenlexikon. 2. Ausg., 1932. – Neues Schweizer Zeitgenossenlexikon (1938), S. 315.
  • Herrmann A. L. Degener (Hrsg.): Wer ist’s? 10. Ausgabe, Leipzig 1935.
  • Hanna Levy: Henri Wölfflin. Sa théorie. Ses prédécesseurs. Dissertation, Univ. Paris, M. Rothschild, Rottweil a. N. 1936.
  • Eduard His (Hrsg.): Basler Gelehrte des 19. Jahrhunderts. Schwabe, Basel 1941 (Fotografie).
  • Richard Zürcher: Zum Tode von Heinrich Wölfflin, in: Architektur und Kunst, Bd. 32, 1945, S. 385–388.
  • Biographisches Lexikon verstorbener Schweizer 2, 1948, S. 499.
  • Andreas Staehelin (Hrsg.): Professoren der Universität Basel aus fünf Jahrhunderten. Bildnisse und Würdigungen. Basel 1960, S. 411 (Fotografie).
  • Wolfgang Müller: Die Grundbegriffe Heinrich Wölfflins im Französischen. Dissertation, Univ. Tübingen 1969. Tübingen 1969, DNB 482602961.
  • Werner Schuder (Hrsg.): Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Nekrolog 1936–1970. Walter de Gruyter, Berlin 1973.
  • Meinhold Lurz: Heinrich Wölfflin, Biographie einer Kunsttheorie (= Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N. F., Band 14). Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1981, ISBN 3-88462-003-7.
  • Andreas Eckl: Kategorien der Anschauung. Zur transzendentalphilosophischen Bedeutung von Heinrich Wölfflins «Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen». Dissertation, Univ. Bonn 1994. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-3072-1.
  • Edgar Wind: Kunst und Anarchie (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Nr. 1163). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-518-28763-X, S. 27–30 u. 136–140.
  • Lambert Wiesing: Die Logik der Sichtweisen. Heinrich Wölfflin (1864–1945). In: Ders.: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Campus, Frankfurt am Main 2008, S. 95–141.
  • Andreas Ay: Nachts: Göthe gelesen. Heinrich Wölfflin und seine Goethe-Rezeption. V&R unipress, Göttingen 2010, ISBN 978-3-89971-581-1.
  • Hans Christian Hönes: Wölfflins Bild-Körper. Ideal und Scheitern kunsthistorischer Anschauung. Diaphanes, Zürich 2011, ISBN 978-3-03734-167-4.
  • Matteo Burioni, Burcu Dogramaci und Ulrich Pfisterer (Hrsg.): Kunstgeschichten 1915. 100 Jahre Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Dietmar Klinger Verlag, Passau 2015, ISBN 978-3-86328-136-6.
  • Elisabeth Eggimann Gerber: Wölfflin, Heinrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz. (2015).

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Heinrich Wölfflin â€“ Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. ↑ Jahresbericht über das K. Maximilians-Gymnasium in München für das Schuljahr 1881/82.
  2. ↑ Dorothea Roth: Wölfflis Studentinnen. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 96, 1966, S. 156. Abgerufen am 12. November 2019.
  3. ↑ Dorothea Roth: Münchner Gundrum-Zirkel. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 96, 1966, S. 201. Abgerufen am 12. November 2019.
  4. ↑ Heinrich Wölfflin Nachruf von Hans Jantzen im Jahrbuch 1946 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (PDF-Datei).
  5. ↑ Ernst H. Gombrich: Die Kunst der Renaissance I. Norm und Form. Nachdruck Klett, Stuttgart 1985, S. 119, ISBN 3-608-76146-2.
  6. ↑ Tristan Weddigen: Morphologie einer Wissenschaft. Vor hundert Jahren erschienen Heinrich Wölfflins «Kunstgeschichtliche Grundbegriffe». In: Neue Zürcher Zeitung, 12. Dezember 2015, S. 48.
  7. ↑ Vgl. etwa Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960.
  8. ↑ Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. München 1886.