MOZ, Nummer 51
April
1990

1917-1989: Überlegungen zur Revolution

Begann 1917 ein Irrweg, der 1989 behoben wurde?

1917 war der erste entscheidende und einschneidende Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal umzuwälzen, aus dem Kapitalismus aus- und in den Sozialismus einzusteigen.

1989 brachte die (wenn auch nicht freiwillige) Rücknahme dieses Versuchs.

Ist also 1917 welthistorisch zu einem zweitklassigen Ereignis geworden? Hat die Niederlage der real existierenden sozialistischen Staaten auch die Bedeutung von 1917 minimiert?

Solch Denken muß als kurzsichtig zurückgewiesen werden, solch Denken verabsolutiert die unmittelbaren Ereignisse, oder noch besser: die vermittelten Eindrücke zu einer ahistorischen Gültigkeit.

Hüten wir uns vor der Überinterpretation des JETZT! Was heute selbstverständlich ist, kann morgen schon überwunden, von den historischen Bewegungen schon weggewischt und beseitigt sein.

1917 war das seltene Beispiel einer gelungenen Revolution, die aber in der Folge national wie international scheitern sollte. Es war ein Beben gegen die Alte Welt, es erschütterte nicht bloß in Rußland die Fundamente der kapitalistischen Welt.

1989 hingegen war ein Zusammenbruch der falschen Neuen Welt, Emanzipation wie Restauration in einem, wobei die Züge der letzteren immer deutlicher und die der ersteren immer unkenntlicher werden. Bei den internationalen Kräfteverhältnissen kein Wunder.

Mit den Deformationen wird heute zugleich auch der Sozialismus über Bord geworfen. Was den Revolutionsträgern zumindest vordergründig nicht zu verübeln ist, gerät weltweit zu einer Katastrophe für alle revolutionären Regungen. Ohne Ostblock und/oder mächtige Bewegungen in den Zentren des Kapitals ist jeder emanzipatorische Versuch an der Peripherie zum Scheitern verurteilt. Und sie scheitern auch schon. Der Osten ist als Bündnispartner für den Süden passé — wohlgemerkt, er tat es nicht bloß aus selbstlosen, sondern auch aus imperialen (nicht jedoch imperialistischen) Interessen —, im Westen ist keiner in Sicht.

Daß der Sozialismus in einem Land, wie die Sowjetunion ihn aufbauen wollte, zum Scheitern verurteilt war, das wußten schon so bedeutende Sozialisten wie Lenin, Trotzki oder Rosa Luxemburg.

Lenin 1921: „Es war uns klar, daß ohne Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch nachher dachten wir entweder sofort oder zumindest sehr rasch wird die Revolution in den übrigen Ländern kommen, in den kapitalistisch entwickleteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen.“

Sie blieb isoliert und ging zugrunde. Die Ausweitung auf einen Block und die Ausdehnung in die unterentwickelt gehaltenen Länder konnte über die ökonomischen Schwächen im Kampf gegen den Imperialismus nicht hinwegtäuschen. In dieser Hinsicht war die These von Stalin bis Chrustschow vom Einholen und Überholen des Kapitalismus richtig wie unrichtig. Richtig dahingehend, daß nur eine entsprechende Entwicklung der Produktivkräfte und eine dem Kapitalismus ebenbürtige Ärbeitsproduktivität überhaupt erst den Wettbewerb der Systeme gewährleiste. Unrichtig dahingehend, daß der Anschluß von halbbis nichtindustrialisierten Ländern an das Niveau der führenden kapitalistischen Mächte unter den gegebenen Wirtschaftsbeziehungen ganz einfach nicht machbar war. UND IST!

Da nützten auch Stalins hervorragende Wirtschaftsdaten nichts, vom Wollen und Willen der Revolutionäre ganz zu schweigen. Die Marxsche Voraussicht, daß der Sozialismus nur von den höchstentwickelten kapitalistischen Länder ausgehend und international aufbaubar sei, muß wider die StalinBucharinsche Theorie vom Sozialismus in einem Lande als bestätigt angesehen werden.

Die Nichtrevolutionierung des Westens war jedenfalls eine — wenn nicht die wichtigste — Voraussetzung für die Deformationen im östlichen Sozialismus. Denn Sozialismus war das zweifelsohne, wenn auch nicht von der Sorte, wie ihn das westliche, d.h. auch unser Herz begehrt.

Sozialismus meint mehr als ein soziales oder moralisches Korrektiv der Gesellschaft. Das zentrale Prinzip des Sozialismus bleibt nach wie vor die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, was die gesellschaftliche Verfügung über die Entwicklung der Produktivkräfte miteinschließt. Er ist ohne die Expropriation der Expropriateure nicht machbar. Unter dieser Forderung gibt es keinen Sozialismus, sondern bloß Sozialdemokratismus. Das sollte nicht in Vergessenheit geraten.

Die aktuelle Rücknahme des ersten sozialistischen Großversuchs mag tragisch sein und desillusionierend wirken für die Träger sozialistischen Gedankenguts in den westlichen Ländern. Verschlechtert sie doch auch hier die Emanzipationsbedingungen und läßt viele Anstrengungen als nutzlos erscheinen.

Und doch ist der Sozialismus mehr als eine Versuchung. Er bleibt nach wie vor das einzig mögliche Projekt einer menschlichen Zukunft. Womit noch gar nichts über seine (aktuelle) Möglichkeit gesagt ist. Wir befinden uns im Zeitalter des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsformation, auch wenn die aktuellen Ereignisse in die andere Richtung deuten.

Das sind (schwere) Rückschläge, wie sie die Revolution immer wieder wird hinnehmen müssen. Die Hauptrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung, die wir nach wie vor behaupten und glauben beweisen zu können, ist dadurch nicht aufgehoben, möglicherweise aber für Jahre oder Jahrzehnte aufgeschoben (was sich an Hand der ökologischen Gefahren verheerend auswirken kann). Sie wieder zu erkennen und Schritte auf den richtigen Weg zu setzen, ist aktueller, aber auch mühsamer denn je.

Das Dilemma in manchen linken Köpfen läßt sich wie folgt zusammenfassen: Der Sozialismus wird immer notwendiger wie unmöglicher. Dieser Schein bedarf der praktischen Widerlegung.

Worum es geht, ist eine Debatte über den GANG DER WELTREVOLUTION. Manche werden an dieser Stelle unweigerlich zu lachen beginnen.

Nun, ein bißchen Gelächter wird man schon aushalten müssen.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

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