Streifzüge, Heft 2/2002
Juni
2002

Aber sag’s nicht weiter

Zum Privaten, Politischen und Öffentlichen

Zu einem der am meist bekannten Slogans der Neuen Linken, die aus der 68er-Revolution [1] hervor gegangen ist, zählt der vom Privaten, das politisch ist. Dieser Slogan war abgeleitet aus den Erfahrungen neuer Lebensweisen von Kommunen, tribes, hippies und wurde in der Neuen Linken zum Kampfmittel. Während die 68er einfach die Welt in Besitz nahmen und sich darin rücksichtslos, vielleicht auch ohne große Reflexion einrichteten, wie es ihnen gefiel, machte die Neue Linke aus diesen Erfahrungen ein Instrument, nicht nur um sich vom „kleinbürgerlichen, anarchistischen, unproletarischen, unpolitischen“ Wesen der 68er („Studenten, Bürgerkinder etc. „, wie die von den Kommunistischen Parteien sich abspaltenden Kaderorganisationen sie nannten und verächtlich machten) abzustossen, sondern auch, um die neuen Lebensformen als attraktive Alternative zur bürgerlichen Geselligkeit und als Keimformen des Sozialismus zu propagieren. Sehr schnell war dabei das politische Private zu einem Kontrollmechanismus der eigenen GenossInnen geworden, und der ursprüngliche Gedanke, eine andere, befreite Gesellschaft brauche auch andere Menschen, die diese Befreiung schon an und in sich trügen, wich sehr schnell der repressiven Vorstellung, das Private sei dem Politischen, also den Erfordernissen des Klassenkampfs unterzuordnen. Dass das Private politisch sei, zeigte sich also nicht mehr in Lebensformen, die eine andere Sexualität, Erziehung, Sozialisation oder was auch immer zum Inhalt hatte, sondern nur noch im (bald auch abstoßenden) Vorbildcharakter der Kader.

Auf eine höchst ironische Weise wurde aber das Wort vom Privaten, das politisch sei, erfüllt: und zwar dadurch, dass unter dem Druck des fordistischen Wirtschaftswunders so viele Menschen in den Produktionsprozess gesogen wurden, dass die herkömmlichen Familienstrukturen versagten und sich auflösten, ohne dass die 68er irgend etwas dazu getan hätten. Kindergruppen und Wohngemeinschaften waren so mit der Demokratie ebenso wie mit der bürgerlichen Gesellschaft kompatibel geworden, wurden ebenso zu Keimzellen des Staats wie ehedem die Familien und zum Feld der Auseinandersetzung um WählerInnen und Klientel. Wenn heute in Kindergruppen und Wohngemeinschaften Demokratie und soziale Verantwortung geübt werden, dann auch unter dem Gesichtspunkt, wer wie viel zur gemeinsamen Kassa beiträgt, unter dem Gesichtspunkt, wie Konflikte gelöst werden, unter dem Gesichtspunkt, dass hier eine Schicht von überzeugten und vorbildlichen DemokratInnen (und Entscheidungsträgerinnen und Systemerhaltern und politischen und gesellschaftlichen Eliten) sich breit macht.

Gleichzeitig hat das demokratische flashback die Hirne und Herzen mit einer weiteren ironischen Volte beglückt, insofern es nun wieder zum guten Ton gehört, sich der Geselligkeit nicht zu versagen, sondern sein Engagement, richtiger: seine Betroffenheit, vor aller Welt auszubreiten, gleichzeitig aber sich nicht auf erworbene und errungene Überzeugungen zu berufen, sondern auf Meinungsfreiheiten, die ja nun wirklich dazu angetan sind, Alles und Jedes gelten zu lassen, und eine persönlich vorgebrachte Interessensäußerung sogleich als Bürgerrecht1 adeln, das inhaltlich nicht in Frage zu stellen ist. Und so ist dann das Politische privat geworden und zahnlos nebenbei, indem es nur noch als demokratischer Konsens wirkt, indem ein Jedes sagen kann, was es will, denn wir haben ja die Meinungsfreiheit.

Was denn öffentlich zu bemerken ist, ist nicht mehr die politische Auseinandersetzung, von der ja ohnedies angenommen wird, sie würde zu nichts führen, denn Sachzwänge ließen keine wie immer gearteten Wahlen [2] zu, abgesehen davon, dass, wer es sich richten kann, es sich sowieso richtet; nur noch der bloße Konsens, die Gesellschaft in ihrem Innersten zusammen zu halten und ihr anzugehören, drückt sich in der Öffentlichkeit aus. Dabei verlieren die politischen Auseinandersetzungen ihren Charakter als res publica, als eine für alle verhandelbare Angelegenheit, die zur Entscheidung, Durchführung und Bewährung ansteht. Blanker Konsens, willkürliches Einverständnis nicht zu einem gestaltbaren Prozess sondern zu einem vorgefertigten und voraus gesetzten Ergebnis lösen so die Debatten ab. Dieser Konsens zeigt sich in der Gemeinschaft der Gläubigen und in der Verhandlung darüber, wer ihr wie zuzurechnen sei. Dabei muss nicht einmal ein besonderes Anliegen, das da öffentlich verhandelt wird, vorliegen. Es muss auch kein Vergehen gegen das Betragen und die Sitten der bürgerlichen Geselligkeit gegeben sein, um das Inter- esse der Öffentlichkeit zu wecken, es kann auch unauffälliges, genormtes Verhalten für die Herstellung von Öffentlichkeit reichen. Genauso wenig muss es sich dabei immer um die Prominenz handeln. Natürlich aber ist die Prominenz für die öffentliche Vorführung ganz besonders geeignet.

Wenn nun durch Öffentlichkeit vor allem Konsens hergestellt wird, dann kann dies auf verschiedenen Ebenen geschehen, auf der Ebene des Besonderen wie des Allgemeinen, auf der Ebene des Verwerflichen ebenso wie des Tugendhaften, auf der Ebene des Prominenten wie des Anonymen. Die Personnage, die in die Öffentlichkeit gestellt wird, muss dabei in den Genuss der Aufmerksamkeit gar nicht wegen ihrer Prominenz kommen; auch der unbekannte Mensch kann sich in diesem Licht sonnen. Als auslösendes Moment gehen Unfall, spektakuläres Schicksal, Glück oder Unglück, Vergehen oder Verlobung, Krankheit oder die Rettung eines Lebens durch, kurz alles, woran sich der Mensch einer Teilhabe an der Geselligkeit versichern kann. Dass diese Teilhabe eben nur öffentlich zu bekommen ist, macht ihren fetischistischen Charakter aus; sie tritt an die Stelle gegenseitig erfahrbarer Solidarität, sei sie nun privat oder politisch, und hebt gleichzeitig diese beiden Sphären bürgerlicher Sozietät auf.

Das besondere Merkmal der Öffentlichkeit ist ihre Mittelbarkeit. Öffentlichkeit bedeutet nicht, dass an einem Vorgang aktiv teilgenommen, dass ein Vorgang aktiv bezeugt wird. Sie bedeutet, dass ein Vorgang vermittelt wird, das Ergebnis aber nicht Information, sondern bloße Teilhabe ist; nicht Teilhabe am Ereignis sondern Teilhabe überhaupt. Öffentlichkeit und Teilhabe kann dem Star und dem Publikum zugeordnet werden. Der Star hat dabei die Aufgabe, stellvertretend für das Publikum seine Sehnsüchte zu formulieren und darzustellen, die Erreichbarkeit dieser Wünsche zu bestätigen und sich mit dem Publikum gemein zu machen. [3] Der Star kann dabei gemacht werden, wie es gerne in Shows wie Taxi Orange oder beim Konstruieren von Teenie-Bands schon geschehen ist, der Star kann sich auch selber machen wie Baumeister Lugner, er kann es aber auch schon immer gewesen sein kraft Abstammung. In jedem Fall aber verkörpert der Star die Möglichkeiten, die die Demokratie für alle bereit hält, auf ideologischer und anschaulicher Ebene, was Andy Warhol genauso wie Walter Benjamin schon erkannt haben, wenn beide auf ähnliche Weise und in verschiedenem Zusammenhang formulieren, jeder Mensch hätte die Möglichkeit oder das Recht auf seine eigene (kurze) Berühmtheit. Das Publikum nimmt diese Anschauung und Betrachtung als seine eigene an, und wie der Star an sein Publikum gebunden ist, so ist das Publikum nur durch den Star der Teilhabe fähig. Beide zusammen machen erst das öffentliche Ereignis möglich, stellen Öffentlichkeit her.

Diese Mittelbarkeit hat auch das Wesen des Zeugnis wesentlich verändert. Wer zum Zeugen wird, legt nun nicht mehr Zeugnis ab von etwas Geschehenem, braucht sich um keine Wahrheitspflicht mehr zu sorgen. Was bezeugt wird, ist die eigene Anwesenheit, die sofort in Starruhm übergeht. Dies bezieht sich nicht nur auf die sogleich in s Fernsehen übertragene zufällige Anwesenheit bei irgend welchen Vorfällen, die sich in stupidester Fragerei manifestiert, die nur noch durch die Blödheit der Antworten übertroffen wird. Selbst in Pädagogik und Wissenschaft hat sich die kritiklose Hinnahme der Äußerungen von Zeitzeugen zu Ungunsten der kritischen Behandlung der Quelle durchgesetzt. Das Verdikt Goethes, „Und ihr seid dabei gewesen“, anlässlich der Kanonade von Valmy, hat noch auf das Ereignis selbst abgestellt, ebenso wie das Napoleons, „Dreitausend Jahre blicken auf Euch herab“. Die Größe des Ereignisses, das Überwältigende an der Geschichte hat noch den Ruhm für sich. Die Menschen davor sind zur Ehrfurcht und Reflexion angehalten. Heute hingegen zieht ein Jedes, das sich zu einem Ereignis äußert, den Glanz der Ereignisse auf sich und kann dann dazu sagen, was es will, wenn es nur öffentlich ist. So muss sich der Historiker Mommsen in einem Gespräch zur Wehrmachtsausstellung mit Peter Huemer im Radio zur Feststellung hinreißen lassen, „Die Geschichte sollte schon den Historikern überlassen werden, dem selbst Erlebten fehlt der Überblick. “

Wenn aber Öffentlichkeit aus dem Star und seinem Publikum besteht, wenn ein Jedes die gleichermassen gültige Möglichkeit hat, Publikum wie Star zu sein, wenn weiters diese Art von Öffentlichkeit allgemein zugänglich ist und darin besteht, dass sie jeder Zeit, unabhängig vom Anlass, Teilhabe ermöglicht, dann hat das natürlich auch seine Auswirkungen auf das alltägliche Bewusstsein der Individuen. So macht sich das Individuum, das in der Tramway seinen Anverwandten coram publico mitteilt, in der Tramway zu sitzen, ebenso zum Star und seine Mitfahrenden zum Publikum, wie sich das Individuum zum Star macht, das via www gerade Internetseiten besucht und dort seine Spuren in der Öffentlichkeit hinterlässt und seine e-mail- Kommentare absondert oder zum Publikum, das in der Zugriffsstatistik mit gezählt wird. Die neuen Technologien werden zur Folie, auf der sich diese Öffentlichkeit entfalten kann, ohne besonders aufzufallen.

Öffentlichkeit verbindet so das Publikum und den Star durch ihre gemeinsame Einsamkeit. Nie können Publikum und Star wirklich zu einander kommen, ihre Begegnung ist Schimäre, ihre Beziehung ist die vereinzelter, atomisierter Subjekte. Der Star spricht zwar das Publikum an, aber nicht, um es zu gemeinsamer Aktion zu überreden, sondern indem er vorgaukelt, ein jedes Einzelne in der Publikumsmasse persönlich anzusprechen. Und so wird die Teilhabe auch verstanden: nicht als die Solidarität, die aus gemeinsamer Erfahrung und Praxis erwächst, sondern als ein Erlebnis, das für Einzelne als konsumierende und sich ihrer selbst vergewissernde Subjekte gedacht ist. Dieses Erlebnis selbst, e. g. die Teilhabe an einer Hochzeitsshow im Fernsehen mit oder ohne Publikumswahl oder die Teilhabe am Konzert einer Retortenband, ist für Star wie Publikum das Gleiche; ebenso ist es völlig egal, ob und in welcher Form das Publikum Teil hat. Wesentlich für die Öffentlichkeit ist, dass sie aktives Teilnehmen, soziale Interaktion, Entscheidung und Überzeugung hintan hält und in selbstreferentieller Gleichgültigkeit Schicksal Anstrengung durch ein event ersetzt. [4]

Das hat natürlich seine Auswirkungen auf das individuelle Leben nicht nur im Persönlichen, sondern auch im Typischen. So werden etwa die Intellektuellen und KünstlerInnen kraft ihrer bügerlichen Existenz schon zu Stars in der Öffentlichkeit, die nun gehalten sind, zu Allem und Jedem eine Meinung, die Konsens herstellt, abzusondern. Die logische Konsequenz ist, dass ehedem höchst wichtige Fragen, die gerne, intensiv und kontrovers diskutiert wurden, heute als obsolet angesehen werden; Fragen wie die nach der Verantwortung von Intellektuellen und WissenschafterInnen, Fragen wie die nach der Übereinstimmung von Leben und Werk, wo jetzt die Kluft zwischen Privatem (und seiner Garantie der Unantastbarkeit) und dem Politischen (mit seiner Garantie des Ansehens) durch allgegenwärtige Öffentlichkeit geschlossen ist. Es interessiert nicht mehr, ob sich in einem Werk, einer Anstrengung, einer Philosophie Authentizität der Schaffenden wiederfindet; auch interessiert es nicht, wenn sich diese Identität nicht oder nur gebrochen vorfinden lässt, ob nun das Geschaffene durch diesen Bruch berührt, das Werk noch glaubhaft ist. Die Frage, ob die Künstlerinnen und Wissenschafter durch den Schutz ihrer Privatsphäre und Intimität noch immer in ihren Hervorbringungen Ansehen finden, auch wenn ihnen genau dieser Schutz das Privileg garantiert, zu Hause die unangenehmsten Ekel sein zu dürfen, ist heute völlig irrelevant. Das Werk tritt wie die Person hinter dem Star und seinem Publikum zurück.

Genauso erklärt sich die sonderbare Folgenlosigkeit öffentlich verhandelter Skandale (soweit sie nicht strafrechtlich relevant sind) daraus, dass Privates und Politisches in der Öffentlichkeit verschmolzen sind. So wirft eine Beleidigung oder eine Lüge bloß noch die Frage nach ihrem Unterhaltungswert, nicht aber nach ihrer Sühne auf. Jemandem an die Ehre [5] zu gehen (privates Moment), um ihn in der Gesellschaft unmöglich zu machen (politisches Element), was wieder nur durch die Herstellung der Ehre mit Blut im Duell oder im Suizid beantwortet werden kann (Synthese von privatem und politischem Moment durch eine Tat, wie sie privater nicht sein kann, aber den Platz in der Gesellschaft zum Inhalt hat) – Verhalten dieser Art stoßen heute auf profundes Unverständnis und es weiß keines mehr, was satisfaktionsfähig bedeutet. An die Stelle der Unantastbarkeit der Ehre ist heute die Garantie getreten, am Spektakel teilhaftig zu sein. Wenn dabei die Ehre oder deren Reste befleckt werden, ist das kein Grund zu Rache oder Scham, sondern nur Anlass zur nächsten Vorstellung: Beleidigte und Beleidigende wie deren Rechtsvertretungen und das Gericht als Star, der Rest als Publikum, nach dem Spruch weiter keine Konsequenzen.

Überhaupt muss an dieser Stelle noch einmal auf die Fußnote verwiesen werden, wonach mit dem Begriff der Ehre das Feld gemeint ist, das zwischen Privatem und Politischem vermittelt und für beide Sphären das gemeinsame auf einander bezogene Handeln ermöglicht. Da wird auch klar, warum ein Diskurs um Werk und Person nach der Integrität der Schaffenden fragt. Die Ehre stellt auf der Folie des Persönlichen die Überzeugungskraft dar, die auf der Ebene des Gesellschaftlichen von der Ideologie (die ebenso ohne Ehrlichkeit nicht zu haben ist) ausgeübt wird, was immer auch gegen Ehr- und Ideologiebegriffe kritisch vorgebracht werden könnte. Es geht also um den Bereich, der Konsens konstituiert, und dieser Bereich wird heute durch Ehrlosigkeit gekennzeichnet (sowie durch einen Mangel an Ideologie – sofern nicht der Platz in der Mitte als ideologische Position verstanden werden will). Zwar konnte Ehre nicht hergestellt und erworben werden, bloß verteidigt. Aber diese Verteidigung ist aktives konsensuales, auf die Gesellschaft und den Platz in ihr bezogenes Handeln. Der Konsens aber, der durch Öffentlichkeit hergestellt wird, ist keiner mehr, der durch die Beachtung und Bewahrung der Ehre herrührt, sondern einer, der, aufgehoben in passiver Teilhabe, nur noch das konsumierende Element der Zwangsernährung enthält.

Ähnliches gilt für die Widmung. Ein Werk jemandem zu widmen, war einst ein äußerst schwieriges Unterfangen, das Privates und Poli- tisches (oder Gesellschaftliches) in einem komplizierten Reigen von Riten und Höflichkeiten verklammerte. Schließlich wurde ja der Widmungsträger nicht nur verehrt und gewürdigt, er wurde ja auch für das Werk zum Zeugen und Vertreter genommen und so betrachtet. Eine Widmung war also nicht nur eine Sache der Freundschaft, ich bin versucht zu sagen: eher das Gegenteil. Eine unerwünschte Widmung konnte gesellschaftliche Positionen und private Beziehungen zerstören, auch nur ein kleiner, einer Widmung nahe kommender Satz auf dem Vorblatt eines zugeeigneten Buches aus der ersten Auflage oder die Tatsache des Verschenkens des Buches selbst. Wenn heute ein Kicker sein Goal einem Freund, seinem Kind, seinen Eltern, seinem Beichtvater widmet, so haben wir ein Spektakel vor uns, wo nur noch möglichst Originalität gesucht wird: Inhalt uninteressant, Hauptsache Star und Publikum kommen öffentlich überein und ob irgendeins Verwendung für ein Tor hat, tangiert nicht weiter.

Dieses asozial Planmäßige der Öffentlichkeit, dieses fetischistische Konstrukt von Gemeinschaft, diese vorgetäuschte Konkretion von Ereignissen kann überall und ein Jedes treffen. So muss sich jetzt auch der Bundespräsident mit der Gesellschaft, die er als deren Funktionär repräsentiert, in aller Öffentlichkeit herum schlagen. Alle Ingredienzien sind schon gemischt: der Bundespräsident mit seiner Frau als Star, ein Publikum, das er bedienen muss und das sich mit ihm in der Beurteilung seines Auftretens – positiv oder negativ – identifizieren muss, ein Anlass, wie er zufälliger, bedeutungsloser und konstruierter nicht mehr sein kann, und die Öffentlichkeit ist in ihr Recht gesetzt.

[1Ich spreche von Revolution und meine, dies kurz begründen zu müssen. Jedenfalls handelt es sich nicht um eine Revolution entsprechend dem bürgerlichen Paradigma mit revolutionären Parteien, die um die Machtübernahme im Rah- men der staatlichen Institutionen streiten. Aber wir hatten es damals mit einer sehr eigenartigen gesellschaftlichen Entwicklung zu tun, die dadurch geprägt war, dass eine kleine Schicht vor allem von Jugendlichen sich radikal von der Gesellschaft abwandte, ihre eigenen Lebensformen weniger propagierte als viel mehr (in einer Art Doppelherrschaft) entwickelte und handhabte. Themen, die später von der Neuen Linken und der autonomen Frauenbewegung angesprochen und theoretisch entwickelt wurden, waren diesen Revolutionären größtenteils fremd. Ihr Angriff bezog sich direkt auf ihre Umgebung, die sie bedingungslos und intolerant mit ihrer Lebensart konfrontierte. Als Beispiel mag erhellen, dass die hippies, freaks, Gammler, tribes, families – die Langhaarigen eben – sicher noch einem unbegriffenen machismo frönten, wenn auch der durch love and peace gemildert war. Aber was den direkten Angriff auf das establishment ausmachte, war, dass – wie sich die Leute entrüsteten und beschwerten – Männer und Frauen bei den Langhaarigen nicht unterschieden werden konnten. Das war bedrohend und traf. Dazu kam dann auch noch, dass es sich beileibe nicht bloß um das Phänomen einer Subkultur handelte; keines war davor gefeit, dass nicht in seiner engsten Umgebung plötzlich ein langhaariges Wesen auftauchte und sonderbar lächelte. Wir waren überall und es war unsere Welt.

[2So erklärt sich auch die Munterkeit, mit der der Bundeskanzler an die Zähmung des Landeshauptmanns geht: im festen Vertrauen darauf, dass auch er sich nach der Decke wird strecken müssen und schon erkennen wird, dass ihm die Sachzwänge keinen Spielraum lassen. Lasst ihn nur Verantwortung übernehmen, dann wird er schon kleinlaut werden und es billiger geben. Was vom Bundeskanzler übersehen wird, ist die Dimension des Öffentlichen, die sich um Realitäten nicht kümmert, sondern nur um sich und ihre Jünger. Der moderne Politiker, richtiger der postmoderne, sucht daher auch gar nicht die Konfrontation mit Problemen, bietet keine überraschenden oder originellen Lösungsvorschläge an, sucht nicht, Sachzwänge zu mindern, zu kontrollieren oder zu verwalten. Er sucht nur Zustimmung zu sich selbst, die er postwendend seinem Wahlpublikum zurück gibt.

[3Etwa wenn Jazz-Gitti in ihren Couplets von Figur- und Beziehungsproblemen und dem Umgang damit so berichtet, als wollte sie allen, die ihre Platten kaufen oder Auftritte besuchen, wirklich Hilfe geben und Mut machen. Dass sie dabei ehrlich und authentisch wirkt, ist keine persönliche oder moralische Errungenschaft eines guten Menschen (selbst wenn es die Künstlerin wirklich ist), sondern nur der konformistische und konfirmierende Gehalt, den Öffentlichkeit bereit hält: Wir alle wissen, wovon wir reden, wir alle sind gleich, haben die gleichen Probleme und Sorgen und Ängste. In dieser Gleichheit verständigen wir uns durch versicherndes Murmeln und Raunen.

[4Dabei ist es vollkommen egal, ob Star ist, wer gerade das Mobiltelefon in der voll besetzten Strassenbahn benützt oder wer die Freizeitbande im club mediterrannée in ihr Vergnügen führt. In jedem Fall geht von einem quasi schon zufälligen Kristallisationspunkt in einer Masse von Individuen eine Selbstversicherung aus, die alle zu Teilhabern an einem Leben macht, das die Dichotomie von Privatem und Politischem durch die Versöhnung von Individualisiertem und Öffentlichem ersetzt hat.

[5Die Ehre ist dabei das Feld, auf dem Politisches und Privates auf einander einwirken. Ähnliche Felder sind etwa Authentizität und Identität, die genauso wie die Ehre im Interesse des Privaten wie auch des Gesellschaftlichen stehen und von beiden beansprucht werden. Öffentlichkeit aber saugt Gesellschaftliches und Privates unterschiedslos in sich ein, ohne die beiden einander zu vermitteln. Sie löst sie im Konsens der Individuen auf, für die alle das Gleiche gilt, egal an welchem Ort.

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