Streifzüge, Heft 1/2002
März
2002

Afghanistan: „Kein Krieg um Öl“

Im Jahre 1900 nahmen die Großmächte die Ermordung des deutschen Gesandten im Zuge des sogenannten Boxeraufstands in China zum Anlass, dieses riesige Land in einem äußerst blutigen Feldzug endgültig zu einer Halbkolonie zu machen. Der deutsche General von Moltke notierte am 11. Juli in seinem Tagebuch: „… denn wenn wir ganz ehrlich sein wollen, so ist es Geldgier, die uns bewogen hat, den großen chinesischen Kuchen anzuschneiden. Wir wollen Geld verdienen, Eisenbahnen bauen, Bergwerke in Betrieb setzen, europäische Kultur bringen, das heißt in einem Wort ausgedrückt, Geld verdienen“. [1]

Diese Perspektiven der blutigen „Heldenzeit“ des Imperialismus wären 100 Jahre später – sollte sie jemand sehen – reine Halluzination. Mit nichts von Moltkes Plänen oder deren zeitgemässem Pendant lässt sich in Afghanistan und Umgebung heute reüssieren. Dafür wäre eine Militäraktion hinausgeschmissenes Geld.

In den exsowjetischen Nachbarrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan wäre kein Aufstand zu befürchten, wollten dort mehr westliche Investoren „Geld verdienen“. Im Gegenteil: roter Teppich beim Empfang und hohe Orden wären ihnen gewiss. Das Problem ist nicht ein „Boxeraufstand“, nicht eine „nationalistische Regierung“, die ausländisches Kapital aussperren würde, sondern mehr als alles andere die für dieses Kapital betrübliche Tatsache, dass die Erschließung des Rohstoffreichtums angesichts des Überangebots auf dem Weltmarkt und der darniederliegenden Preise zuwenig Zinsen und Dividenden bringt. – Nicht einmal der Krieg gegen Afghanistan konnte verhindern, dass auch der Oktober des vergangenen Jahres von Stagnation und Preis-und Kursrückgängen auf dem Rohstoffsektor und an den Börsen gekennzeichnet war. [2] Für eine Kriegskonjunktur ist – bei allem Leid, das den Menschen in Afghanistan mit dem Krieg angetan wird – der Aufwand für die Zerstörung des Landes schlicht zu klein.

Die wirkliche ökonomische Bedeutung des „Kriegs gegen den Terror“ liegt eher darin, dass USA, NATO-Mächte und Gefolge damit dokumentieren müssen, dass sie trotz des Desasters von New York nach wie vor Herren der Welt sind, „Ordnung schaffen“ und „Sicherheit gewährleisten“ können. Da seit dreißig Jahren weder der Dollar als „Weltgeld“ noch sonst eine Währung eine Goldbindung hat, besteht die Deckung im Grunde darin, dass US-Armee, NATO und Hilfstruppen die Aufrechterhaltung der Weltwirtschaftsordnung garantieren können. Das ist zwar in hohem Maße Glaubenssache, entspricht damit aber durchaus dem hochspekulativen Agieren der Finanzmärkte und setzt die Weltgendarmen von der amerikanischen Generalität bis hinab zu den lokalen Mannschaftsdienstgraden gehörig unter Druck. Die „europäische Kultur“ von Moltke & Nachfolger braucht nicht erst nach Innerasien gebracht werden. Sie war schon da – meist in Form der sowjetischen Industrialisierung und Einführung der Geld- und Warenwirtschaft. Sie ist allerdings nicht tief gedrungen, speziell in Afghanistan nicht. Aber auch das Bisschen war zu viel – es ist wie in so vielen anderen Ländern der „Peripherie“ auf dem Weltmarkt gescheitert, zu einem großen Teil statt „modernisiert“ als überflüssig zugesperrt worden. Dabei ist es bis heute geblieben – durchaus zum Leidwesen der Banken, Konzerne und sonstigen Anleger in aller Welt. Der Wunsch, brach liegende Ressourcen zu verwerten, scheitert in erster Linie an den immer weiter steigenden Produktivitätsvorgaben in der Weltwirtschaft und den gerade dadurch überversorgten Märkten. Daran kann auch die siegreichste Militärintervention und der umsichtigste „Sicherungseinsatz“ kaum etwas ändern – selbst in Bosnien hat sich nach sechs Jahren NATO-Frieden „das Investitionsklima … noch immer nicht durchgreifend gebessert.“ [3]

Nicht einmal der Umstand, dass mit G. W. Bush und R. B. Cheney zwei ausgewiesene Ver treter des Ölgeschäfts an der Spitze der US-Regierung stehen, kann verhindern, dass die hochfliegenden Aufschließungs- und Pipeline-Pläne auf den Landkarten der Zeitschriften und Internetseiten, in den Planungsbüros bzw. in den Schubladen der Konzernzentralen zu bleiben drohen. Die in der Mitte der Neunzigerjahre in Aussicht genommene Pipeline eines Konsortiums unter Führung des kalifornischen Unocal-Konzerns durch Afghanistan ans Meer in Pakistan wird zwar von manchen geradezu zum Zweck des US-Überfalls hochstilisiert, sie ist aber 1998 nicht nur wegen der ungeklärten Sicherheitslage, sondern auch wegen mangelnder Rentabilität angesichts der niedrigen Ölpreise ad acta gelegt worden. [4] Selbst von der noch durch Präsident Clinton stark favorisierten Baku-Tbilisi-Ceyhan-Pipeline, die kaspisches Öl aus Aserbaidschan unter Umgehung Russlands über Georgien an die türkische Mittelmeerküste bringen soll, ist nach sieben Jahren Verhandlungen und Untersuchungen noch immer „unklar, ob sie schlussendlich auch gebaut wird“. [5] Und wenn doch, dann – auch wenn das gegen die althergebrachte Gedankenwelt der Regierungen in Washington, Berlin und Moskau, aber auch eines Großteils der Linken verstoßen mag – nicht im Zeichen imperialistischer Konkurrenz zwischen USA, EU und Russland, sondern mit dem Geld „vaterlandsloser“ Investoren aus aller Welt. Wie wenig nämlich dabei die nationale Herkunft des Kapitals zählt, zeigt die Tatsache, dass neben britischen und amerikanischen Firmen die italienische ENI Agip beteiligt ist und auch die russische Lukoil eine namhafte Beteiligung ankündigt. [6] Dazu kommt noch, dass die „strategische Bedeutung“ der Öl- und Gasvorkommen in der Region von Antiimperialisten meist maßlos überschätzt wird. So machen etwa die Reserven der gesamten ehemaligen UdSSR nur zwei Drittel derjenigen des (übrigens seit über zehn Jahren weitgehend vom trotzdem zeitweise sehr überschwemmten Ölmarkt ausgeschlossenen) Irak aus. Von diesen Reserven aber befinden sich weit über 80% nicht in der kaspischen Region, sondern auf dem Territorium Russlands, Weißrußlands und der Ukraine. [7]

Womit in Afghanistan tatsächlich Geld gemacht wird, ist Opium und seine Derivate. Die letzten Wirtschaftszahlen der UNO stammen von 1991. Damals wurden die offiziellen Exporte des Landes auf 140 Mio. $ berechnet. [8] Allein 1999 jedoch „dürften die Steuereinnahmen der Taliban“ aus der Rauschgiftproduktion „gesamthaft rund 100 Mio. $ betragen haben“. Das Drogengeschäft war schon in den achtziger Jahren die Geldquelle für den Kampf gegen die sowjetischen Truppen – „unter stiller Duldung, erwiesenermaßen aber auch aktiver Partizipation des pakistanischen Geheimdienstes ISI, der Armee und des amerikanischen Geheimdienstes CIA“. Auch der afghanische Bürgerkrieg wurde auf allen Seiten mit dem Erlös dieser Produktion finanziert. [9] Und der globale „Drogenjäger“ USA wird auch jeder künftigen afghanischen Regierung von seinen Gnaden dieses Geschäft zubilligen müssen, wenn überhaupt je wieder eine Regierung in ganz Afghanistan durchsetzgesetzt werden kann, wovon die USA auch nach einem halben Jahr „Sieg in Afghanistan“ weit entfernt sind. Es ist bezeichnend für die ökonomische und „menschenrechtliche“ Qualität des heutigen globalen Kapitalismus, dass immer mehr ökonomisch gescheiterte Regionen nur noch über illegale Wirtschaftszweige wie Drogen- und Menschenhandel an den Weltmarkt angeschlossen sind, sodass jede effektive Unterdrückung, aber auch jede Legalisierung in diesen Bereichen die gleichen Wirtschaftskatatstrophen zur Folge hätten.

Die klassischen Kriegsgründe geben für den heutigen Imperialismus nicht mehr allzu viel her. Er ist der Erbe seines Vorgängers und würgt an den ererbten Früchten. Nirgendwo rüstet ein zu spät gekommener Räuber gegen die etablierten Konkurrenten zum Krieg um seinen „Platz an der Sonne“ eines expandierenden Weltkapitalismus. Die Frage der Vormacht ist durch die Übermacht der verbliebenen Supermacht USA auf unabsehbare Zeit geklärt, die Konkurrenz wird „zurück ins Glied“ geschickt. Der amerikanische Verteidigungshaushalt ist mehr als fünfmal so groß wie der der nächstgrößeren Militärmächte, Russland und China. Die Vereinigten Staaten geben mehr als doppelt soviel Geld für neue Rüstungsgüter aus wie die deutsche Bundeswehr insgesamt als Budget zur Verfügung hat. Der US-Verteidigungshaushalt ist etwa so groß wie das Gesamtbudget der BRD. Die Selbständigkeitsbestrebungen der von Deutschland und Frankreich geführten EU-Militarisierung sprengen in keiner Weise den Rahmen, den die Führungsmacht setzt, die ihren militärischen Vorsprung im Gegenteil weiter ausbaut. [10] Die Umrüstung der verbündeten und befreundeten Armeen (inklusive des öster reichischen Bundesheeres) auf Interventionskapazitäten liegt bei allen Streitigkeiten im Detail im gemeinsamen „Weltinteresse“ und wird von den USA nicht behindert, sondern aktiv betrieben. Die aktuelle „Allianz gegen den Terror“ soll aus den „Ordnungshütern“ und „Sicherheitskräften“ dieser Welt eine hierarchisch abgestufte Weltpolizei zur Verteidigung der Weltordnung eines globalisierten Kapitals machen.

Die Grenzen der Welt stehen offen, die Ressourcen aller Länder harren – meist schon fast bedingungslos – der Verwertung durch das Kapital, für fast alle ist es die schlimmste Strafe, wenn das Kapital sie ignoriert. Das unendliche Wachstum, das absurde Zwangsgesetz der Markt und Profitwirtschaft, stößt in einer endlichen Welt unvermeidlich an Grenzen, führt zu Umweltvernichtung und scheinbar ausweglosem Elend für wachsende Massen von Menschen. Das immer deutlicher sichtbar werdende Scheitern dieser Wirtschafts und Lebens(un)art beschleunigt diese Entwicklung noch.

Die neue Herausforderung an die Gewalt des sich herausbildenden globalen „Imperiums“ liegt auf derselben Ebene: Es ist die Gewalt des Mords durch Selbstmord – die destruktive und perspektivlose Antwort auf eine für Milliarden schon völlig destruktive Ordnung ohne Perspektive. Der „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan und bald wohl auch anderswo ist der aussichtslose, im Grund irrationale Versuch der Weltherrscher, einem Feind einen Namen und eine Adresse zu geben, den man militärisch und polizeilich nicht besiegen kann, dessen eventuell abgeschlagener Kopf wie bei der sagenhaften Hydra zweifach nachwächst. Nicht nur in seiner zugespitztesten Form als Selbstmordattentat und Terror, sondern auch als immer effektiver organisierte Kriminalität und ganz allgemein als Zerfall jedes gesellschaftlichen Zusammenhangs im Zeichen schrankenloser Konkurrenz. Dieser Feind entsteht aus genau der „Ordnung“, die ihn bekämpft.

Die gegenwärtige Entwicklung läuft nicht auf den nächsten imperialistischen Weltkrieg hinaus. Allerdings ist das keineswegs eine Entwarnung. Was uns der heutige Kapitalismus zu bescheren droht, ist eine endlose Kette von Terror und Kriminalität auf der einen und internationalen „Polizeiaktionen“ samt der allmählichen Verwandlung aller Länder in Polizei- und Spitzelstaaten mit blühenden Gefängnis-Landschaften wie in den schwärzesten Filmen Hollywoods auf der anderen Seite. Und dies alles in einem Milieu sozialen Niedergangs und wachsenden Elends. Die Alternative ist nicht die illusionäre Wiedereinführung eines früheren Stadiums der kapitalistischen Entwicklung, wo die Welt angeblich „noch in Ordnung war“, sondern die Ersetzung dieser „Ordnung“ der Geldherrschaft und Konkurrenz. Darunter ist eine wirkliche Besserung wohl nicht mehr zu haben.

[1Zitert nach „Guernica“ 2/2001.

[2Angaben der deutschen Commerzbank: „Die Rohölnotierungen sanken im Oktober deutlich. Mit durchschnittlich 20,7 Dollar pro Fass musste für die Sorte Brent 19% weniger als im Vormonat bezahlt werden. Auch die hier betrachteten NE-Metalle notierten zum Großteil schwächer als im Vormonat. Am stärksten fiel der Preisrückgang beim Aluminium aus. So kostete die Tonne mit durchschnittlich 1281,5 Dollar knapp 4,8% weniger als im Vormonat. Jedoch auch Zink (-4,71%), Nickel (-4,4%) und Kupfer (- 3,55%) verzeichneten im Oktober deutliche Rückgänge in der durchschnittlichen Notierung. Dagegen war die Tonne Blei um 1,0% und Zinn sogar um 1,7% teurer als im September. Bei den hier betrachteten Edelmetallen ging der Durchschnittspreis für eine Feinunze Platin mit 431,6 Dollar stark zurück (-5,8%) und auch Gold (-0,2%) notierte schwächer als im Vormonat. Die Ausnahme bildete hier die Feinunze Silber, die im Oktober einen höheren Durchschnittspreis erzielte (+1,7%).“ (http:// www.commerzbank.de/ daten/preise/preise. htm).

[3So schreibt es selbst der bis zur Peinlichkeit berufsoptimistische „OWDZ- Informationsdienst“ (12/2001) des Ost-West-Zentrum Kassel.

[4Das Konsortium mit einer 48% Beteiligung von Unocal nahm 1997 eine Pipeline aus Turkmenistan über Afghanistan nach Karachi in Pakistan in Aussicht. Das Vorhaben spekulierte auf die Taliban als Ordnungsmacht, doch „am 8. Dezember 1998 kündet Unocal an, sich aus dem Konsortium zu verabschieden, da das Projekt aufgrund des afghanischen Bürgerkrieges zu hohen Risiken ausgesetzt sei und u. a. die tiefen Ölpreise das Unterfangen unrentabel machen würden.“ (Gian-Franco Camuso, Bomben die USA den Weg für Gas- und Ölpipelineprojekte frei? in: http://www.kommunistenonline.de/Kriegstreiber/pipline.htm) siehe auch die Stellungnahme von Unocal in: http://www.unocal.com/uclnews/98news/ centgas.htm.

[5Howard Chase, Director of International Affairs for BP Amoco, Washington D. C. (Führung des Konsortiums, das die Baupläne vorantreibt) in: Eurasianet, Question & Answer 10.12.01, http://www.eurasianet.org/departments/ qanda/articles/eav031501. shtml. Die Pipeline ist nach Verzögerungen nach wie vor im ersten technischen Planungsstadium. Über die immer noch offene Frage eines Baubeginns im Sommer 2002 sagt H. Chase im zitierten Interview weiters: „The real indicator of whether the pipeline will be built is whether investors put their resources into it, because without investors there will be no pipeline.“

[7Siehe dazu die Publikation des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: „Die Energiewirtschaft am Kaspischen Meer: Enttäuschte Erwartungen – unsichere Perspektiven“ von H. Engerer und Chr. von Hirschhausen www.diw.de/deutsch/ publikationen/diskussionspapiere/docs/papers/dp171.pdf Statistiken finden sich in: http://www.esso.de/ueber_uns/info_service/publikationen/downloads/files/oeldorado2001.pdf.

[8Fischer Weltalmanach 2001 s. v. Afghanistan.

[9Neue Zürcher Zeitung 11.11.2000.

[10Otfried Nassauer, Leiter des Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) in „Friedensforum 1/99“ http://www.friedenskooperative.de/ff/ff99/125.htm. Zum wachsenden qualitativen Rüstungsvorsprung der USA vor der BRD siehe die Ausführungen des Wehr- und Sicherheitspolitischen Arbeitskreises der CSU in http://www.wehrpolitik.com/noframe/mai_ 2000/tragik.html. Zum ziemlich hoffnungslosen Zurückbleiben der russischen Atommacht gegenüber der USA siehe die Analyse der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in: http://www.weltpolitik.net/policy-forum/article/210.html. Die am 13.12.01 erfolgte Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA ist der jüngste Ausdruck der weiter wachsenden militärischen Überlegenheit der verbliebenen Supermacht. Der Verzicht der deutschen Regierung auf die Übernahme des Kommandos über die „Friedenstruppen“ in Kabul ist ebenfalls kein Beleg für angebliche deutsche Weltherrschaftsambitionen.

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