Streifzüge, Heft 46
Juni
2009

Alltag, zweidimensional

Wider die Diktatur der Bilder

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Kein Zufall: Die flachste Zeitung des Landes ist Bild betitelt.

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Berlin-Mitte, U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße, aschgrauer Tag und Regenhimmel, wenige Schritte vom U-Bahnhof-Ausgang hinüber nach einem Wohnblock, dabei auch Plattenbauten, gehst du auf einen begrünten stillen Hof. Es ist unweit der Spree mit ihren Touristenlokalen. Hier triffst du überraschend auf einen Bärenkäfig. Wahrzeichen der Stadt oder vielmehr plumpe atmende Wirklichkeit, graubraun und massig: Das an Wälder gewohnte Tier schnauft müde, zeigt dir volle Breitseite, ein Junges dabei – mitten im Großstadtalltag. Vielleicht sagst du dir, du solltest diesen Augenblick mit Staunen füllen – noch erstaunlicher, dass eine Gruppe Gutgelaunter, neben dir vor dem Gitter stehend, andächtig die kleinen rechteckigen Apparate gezückt und die blau leuchtenden Flächen vors Aug gehalten hat. Wenn sie das Tier auf die Displays – zwei mal drei Zentimeter – ihrer Telefonierapparate kriegen, werden sie zufrieden sein wie durch einen Besitz. Das Erleben ist wieder dem Abbilden geopfert – doch fast sieht es aus, wenn die AusflüglerInnen in ihren Regenjacken die Handys auf Augenhöhe mit gradem Arm dem Tier entgegenhalten, als wollten sie die Wirklichkeit bannen.

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Sie haben ganze Vorräte von Herzensbildern darin verstaut, als wären ihre Herzen viereckig, metallicfarben, elektrisch aufgeladen, sie zeigen dir den kleinen Lukas, der schon so groß ist, wie er im Kindersitz sitzt (2 x 3 Zentimeter), den Hund Susi, den Freund Ron vor seinem Studio-Appartement in London, das letzte Wochenendhaus in Meck-Pomm (Seeblick) und freuen sich außerdem über die hohe Auflösung. Vielleicht ist es ihnen ihr tragbarer Lebenslauf (in Bildern), in der Tasche tragbar, aber was veranlasst sie, mit ihrem Eigensten so geizig zu sein, auch gegen sich? Was veranlasst sie, dass sie das Erzählen aufgeben zugunsten des Zeigens, dass sie dir, und sich selbst, nichts mehr erzählen?

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Das Bild wurde ihnen Gebot, es geht also natürlich nicht um die Frage, ob Bilder zu stürmen seien, sondern: wie sich in der neuen Armut behauptet werden kann, die die Armut des Fühlens, des Gedankens, der Erzählung ist. Homer war blind.

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Na schön, „das edelste der Sinnesorgane“ (das Auge), für die leviathanischen AufklärerInnen, die auf Aristoteles sich beriefen und die bis heute (mehrere niedergemetzelte Revolutionen später) darauf sich berufen, dass der Staat den Menschen, „diesen Wolf“, immer noch kontrollieren müsste. Aber ihre Argumente, sprich Bilder, sind nur für kindliche Sicht geeignet, wenn man kein Gift argwöhnt und nur nach dem Bunten begehrt: Die prallen riesigen Schalen der Hybridfrüchte im Supermarkt, die großformatigen Plakate der Strom- oder Talkline-Konzerne an den U-Bahnhöfen, die Displays der Handies: Sie sind allgegenwärtig, aber sie überzeugen nicht.

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Die interessantesten Maler die, die sogar dem Bild misstrauten. Rembrandt, Turner, später Duchamp, Magritte. In einen fetten, pulsenden Schatten neben der Aristotelesgestalt in „Aristoteles betrachtet die Büste Homers“ malte Rembrandt mehr lebendiges Ungestüm hinein als Caravaggio auf eine präzis gezeichnete Arschbacke. Die, die sich mit dem Trug und vermeintlichem Abbilden befassten, ahnten schon zu Hobbes’ Zeit, entgegen seiner Philosophie, diese Gefahr: dass wir zu Augenidioten werden könnten. Keine Moral, sondern Drang, weiterzukommen: Von ihrem Instrument des Malens streckten sie sich nach etwas anderem, nach dem, was sie im Leben, was sie im Ganzen erfuhren, nicht nur mit dem Auge – der gestaffelte Wolkenhimmel Courbets, die „vierte Dimension“ Duchamps lassen das ahnen oder anmelden.

Eine Malerei, die großartig die eigenen Betrügereien thematisierte, wäre heute noch interessant, aber ist grad gar nicht en vogue. Nur etwas Op-Art nach der Mode der sechziger Jahre, etwas Pornografie, das ist gefragt, und die Werbeindustrie kauft sich die Kunst, die ihr hilft „zu überzeugen“ – das heißt, den selbständigen Gedanken fernzuhalten.

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Foto: Ihre Verschwendung von Bildern, von Schnappschüssen (sie leben von Schnappschuss zu Schnappschuss). Nun gehen sie längst durch den Tag mit dem Daumen am Knopf. Keine Selbstverständlichkeit ist, was die VertreterInnen westlicher Kultur als Wirklichkeitsmedium anderen aufdrängen. Das Bild bedeutet noch immer Kontrolle (die Kameras kraft höherem, staatlichen Diktat an Straßenecken und U-Bahnhöfen, verdeutlichen es), da muss sich gewappnet werden, ganz individuell. Verteidige jedeR, was möglich ist, gegen das Auge! Eine persönliche Erfahrung, als ich durch den Iran reiste: Der Schnappschuss war da unbekannt. Als ich vor meinen GastgeberInnen die Kamera zückte, arrangierten sie, ärmliche MarktverkäuferInnen wie auch moderne Geschäftsleute, erst den Augenblick, in aller Bereitwilligkeit: Man musste sich erst vorbereiten, in Position stellen, lächeln. Die Frauen legten ihr bestes Kopftuch an und legten Lippenstift auf. Die Ablichtung – ein besonderer Moment. Die Forderung westlicher Bilder-ProduzentInnen, jedes Foto in jedem Moment von jedem zu kriegen, was ist sie anderes als die Forderung, das eigene Konzept durchzusetzen? So wird Virtuelles hergestellt, aber mit Abbildung der Wirklichkeit, gar Kommunikation hat das nichts zu tun.

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Elias Canetti über „Den Blinden“ in seinen fünfzig Charakteren („Der Ohrenzeuge“): Dieser Blinde ist kein physisch Blinder, aber einer, der alles auf Fotografien bannen und präsentieren will und (zwanghaft) muss.

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Vielleicht hätte der Kapitalismus nicht so lange gedauert, wenn wir alle augenlos geboren wären. Die Täuschung des Ohres, fällt sie so leicht wie die Täuschung des Auges, und was können wir von den physisch Blinden alles lernen, wie viele von ihnen sind in Parlamenten, Konzernen, aber auch in Bürgerinitiativen überhaupt vertreten? Es gibt keine Studien über den Zwang zum Outfit: Ein körperbetontes Kostüm, ein paar modische Turnschuhe, Krawatte und Anzug wirken noch immer argumentlos Wunder. Fiele das alles weg, bliebe wenig mehr übrig, als das Argument, um zu überzeugen, doch es steht nicht zur Debatte – wenn die Bereitschaft zum Outfit nicht da ist. Zwar gibt es im Kapitalismus auch die Wörter, wie „Effizienz“, „Sicherheit“, die sich ihren eigenen Flor umlegen, so wie der lichtblaue Flor um Personen und Parolen auf den Abbildungen der Parteienwerbungen. Aber wer sich auf sein Gehör verlässt, blind, durchdringt wohl auch diesen Flor mit geschärften Sinnen bis auf das Mark der Stimmen, die da sprechen, und auf die Chronik der Ereignisse, die im Gedächtnis bleiben. Es ist wohl nicht ganz so leicht, mit der Stimme zu lügen, wie mit einer Krawatte. Dass die PolitikerInnen, die Aufsichtsräte logen, dass die Versprechen leer blieben, dass mit mechanischen Stimmen uns die Konsolidierung, die Beseitigung der Krisen versprochen werden, hätten wir früher durchschauen können, wenn wir so viel gelernt hätten wie sie – die Blinden. Also lasst uns die Augen schließen und hören.

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Ich glaube den zeitgenössischen BildverehrerInnen ihre stimmige, ihre ungetrübte Weltsicht erst, wenn sie HungerkünstlerInnen geworden sind. Denn ihre Bilder kommen dem Magen und seiner Logik stets zuvor. Es können immer nur SiegerInnen sein, die das Foto, den Trailer kultivieren, den anderen fehlt das Interesse zu so etwas. Wahnwitzig ist die beruhigende Kraft von TV – wenn nur gezeigt wird, was nicht mit Leben zu tun hat, ja im Gegenteil: wenn das Grummeln und Zwitschern von den Talkshows sich wie ein Pflaster auf die Existenzkämpfe der Leute diesseits des TV-Monitors legt, wenn Frau Z. zugleich in der engen Wohnung zuhause bügelt oder Herr X. im Krankenhaus sich langweilt. Am deutlichsten die Kochsendungen, die derzeit so sehr boomen und die zugleich bemänteln und stimulieren: Zu den Pastas mit Garnelen, zu dem besonderen Tafelwein bei Biolek haben Zigtausende hierzulande nicht das Geld, aber wohl noch ein ästhetisches Verlangen. Sie schenken selbst diesen Bildern noch ein Vertrauen, das nur von anderen Krücken, vom letzten geborgten Kredit oder anderem Sicherheitsgefühl, noch gestützt sein kann. „Guten Appetit“ wünscht der Sender Arte, wenn „wir bei einer andalusischen Familie zum Ragout eingeladen sind“ und die Bäuche der AsylbewerberInnen und auch mancher Erwerbsloser knurren. Das Bild lebt von der Zufriedenheit, aber es verhilft nicht lange zu dieser.

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Glaube keiner Institution, die nicht ohne Bildplakate auskommt!

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Aber oft sind es sie, die AnbeterInnen der Bildertechnik, die dir von Realität reden: dann, wenn du ohne Bilder bei ihnen antanzt, wenn du von der neuen Armut sprichst, von der Ausgrenzung der Flüchtlinge hierzulande (kaum Fotos und Filme kursieren von ihnen, die Asylbewerberheime in Wäldern und Industriegebieten machen sie unsichtbar, das ist Kalkül), wenn du sagst, gewisse Arbeitsbedingungen seien unhaltbar. Sie fordern direkt oder indirekt, du müsstest deinen Standpunkt erstmal präsentieren im Bilderkampf, so wie sich ihre Firma, ihre Partei, ihre Chefetage präsentiert – mit einem Slogan, einem Model, einem ausgesuchten Design und ausgesuchten Farben auf Websites, im TV. Sie ahnen wohl, dass sich noch etwas anderes täglich abspielt als das allgemein Präsentierte, aber beunruhigend und unüberschaubar wäre es ihnen, sich damit zu befassen – die Bildlosen hingegen sind das neue Lumpenproletariat, und: sie werden immer mehr.

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Erst im 20. Jahrhundert wurde das Bild ja Sache der ProletInnen auch – ich denke da etwa an die Arbeiter Illustrierte Zeitung in der Weimarer Republik, die, mit Fotos und Fotoreportagen vollgestopft, von den Unterschichten berichtete, und für diese. Den Ärmsten, die zum Lesen ungeschult oder zu erschöpft waren, lieferte sie die Neuigkeiten, die für sie Belang hatten. Jahrhunderte zuvor durften sich die UntertanInnen vom Bild erzählen lassen, welch edel gesonnener Feldherr Konstantin war oder wie tugendreich und schmuck die Familie des Herrn Senator. Heute steht es vielleicht wieder ähnlich, da das Monopol auf die weitest verbreiteten Bilder immer noch bei den Springer und Konsorten, bei den Bertelsmann und Kirch verbleibt – und die regieren das Denken. Es ist kein Sieg der Demokratie, wozu das Foto genutzt wurde, im Gegenteil.

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Und doch gibt es Bilder, die nicht täuschen, sondern entlarven. Wenn in den TV-Talks Menschen mit goldbraunen Gesichtern, blondgefärbten Haaren, geworfen in Anzug-und-Krawatte, reden: über Faulheit und Auf-der-Tasche-Liegen Erwerbsloser, da fragt sich, warum wir uns das gefallen lassen. Es ist auch sehr viel strategische Dummheit in der Bilderpolitik, da deren BefürworterInnen für nichts andres mehr Sinne haben.

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Botschaften. Gewiss verfügt jedes Bild über eine Botschaft, aber wie viel davon ist suggeriert, also unaufrichtig? Und wenn selbst das Bild eine Botschaft hat, ist doch nicht sichergestellt, ob die/der BildproduzentIn eine hat.

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Video: Von den Zwölf- bis Neunzehnjährigen, heißt es, hätten 92 Prozent ein Handy, und wen wundert’s: Junge Leute sind konformistisch, wollen dazugehören, wollen überhaupt erst sein und tätig werden, halten sich an das, was ältere ihnen vormachen. Letztere schaffen damit eine Bezugsebene in pädagogischen Projekten, das Bild schleift sich ein als schulisches Medium. Die SchülerInnen dürfen Videos drehen über gesunde Ernährung, über Antirassismus etc. Für den letzteren Zweck, ein Projekt in Frankfurt /Main, kamen die Handies der SchülerInnen zum Einsatz. Bemerkenswert ist an solchen Projekten, dass diese die Möglichkeit haben, selbst als BotschafterInnen zu agieren, wenn sonst von Staat und Konzernen bis zum Überdruss mit Bildern gebotschaftet wird. Wenn sie sich dabei nur nicht das Filmkonzept der Autoritäten zu eigen machen! Mögen sie staatskritisch den glatten bunten Trailer über ein moralisches Motto, sprich die Propaganda, auseinandernehmen und mit etwas Ungereimtem erwidern. Mögen sie eigene Erfahrung gegen mediales Klischee setzen, nur nicht zu PropagandakünstlerInnen werden, die reibungslos plotten. Es wäre viel verloren, wenn sie sich zu IllustratorInnen des gesellschaftlichen Konsenses machen ließen. Und wenn nur die Autoritäten keine solchen glatten Ergebnisse von ihnen erwarten! Das würde heißen, Heranwachsende auf das virtualisierte, kommerzialisierte Selbstbild unserer Gesellschaft einzustimmen – das niemals dem Leben entspricht. In Filme sind bereits fertige Positionen gebannt. Kann man sich mit Filmen überhaupt auf das Leben vorbereiten? Der Konflikt, das Ringen um Haltung, die Weigerung oder das wütende Suchen brauchen Raum, also die dritte Dimension – das alles spielt sich vor der Fläche der Projektionen ab. Hingegen die FilmemacherInnen, die mit viel Routine durch die Gegenden streifen, „cannes-reife“ Szenen zusammendrehen und unsere Stadt zur Kulisse erklären – sie erscheinen nur wie Erzengel zwischen Oben und Unten, Erleben und Klischee.

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Zeitgenössisch ist das Drängen nach Anschaulichkeit, und zwar in jeglichem Bereich. Das ist, als würden wir uns pausenlos in Fabeln unterhalten. Nicht einmal das, denn zur Fabel muss mensch noch Phantasie hinzunehmen, den Raben und den Fuchs sich selbst vor Augen führen. Mit dem fraglichen Medium geht es anders: Filmreportagen zeigen deinen Augen alles, und dein Gehirn schweigt. Und dabei musst du glauben, dass es sich nur um diesen einen Raben und um diesen Fuchs dreht. Das ist der Fall, wenn du dich an die medial verhandelten Tagesthemen hältst. Von gewissen Ereignissen, den Überlebenskämpfen der ArbeiterInnen auf brasilianischen Palmölplantagen oder auf den Baumwollfeldern der westlichen Textilfirmen in Malawi, geht ohnehin kein Rauschen über die Bildschirme.

Fatale Entwicklung in der Augen-Zulieferindustrie, in den Reportagen: Selbst noch die kurzen TV-Clips über Menschennöte in den Gebieten, in denen die Nato Krieg führt oder eine neue Flutkatastrophe die Ärmsten heimsuchte, finden Gewöhnung. Zunächst forderte die Öffentlichkeit ein anschauliches Corpus Delicti zu allem, und das Bild zu jedem Bericht sollte die BürgerInnen in Erregung versetzen. Die Bilder strömten ohne Unterlass. Mittlerweile wurde das Anschauliche zum Beruhigungsmittel, kein Übel ist mehr glaubhaft. Es scheint, als würden wir alles Verhängnis in 2-D bannen, um es uns vom Leib zu halten. Der Wahnwitz ist: Was sich nicht auf 2-D abspielt, interessiert schon gleich gar nicht.

Aber ich sollte schleunigst davon loskommen. Ein Bild kann mir Signal sein, doch nicht mehr. Ich sollte Berichte lesen, Fragen stellen, Sachverhalte aufspüren und abwägen. Ich habe zudem Phantasie nötig, mir vorzustellen, was da vor sich geht – mir die lebendige Dimension zu den Zahlen, Statistiken, Satzfetzen aus der Ferne herzuschaffen. Gerade auch was die Nöte betrifft, die dort, außerhalb meines Lebensumfelds, vor sich gehen. Die Wirklichkeit ist nicht anschaulich, sondern vorstellbar. Sie muss sich immer neu vor Augen geführt werden – bis zur möglichen Anteilnahme. Anderenfalls würde ich vollendete Zuschauerin – was Schlimmeres könnte mir passieren?

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