Heft 7-8/2000
Dezember
2000

Alptraum ‘pataphysisch

Oder die Kunst, die Welt so zu sehen, daß einem dabei lachend schlecht wird.

Alle Jahrzehnte einmal bricht sie wieder hervor, die Wissenschaft der erfundenen Lösungen und der Ausnahmen: die ’Pataphysik. Vielleicht genau dann, wenn die Welt ruhig betrachtet am verrücktesten, am brutalsten wirkt, verwirrt, nur Probleme, aber keine Lösungen bietet. Die ’Pataphysik bietet dann zwar keine Erlösung, jedoch eine unendliche Anzahl von Lösungen an, da sie sich methodisch ausschließlich mit diesen beschäftigt, nach dem immer verträglichen und brutalen Motto: zuerst die Lösung, dann das Problem.

Wenn mensch beginnt, gänzlich in der ‘pataphysischen Herangehensweise aufzugehen, dann scheint ihm diese auch als einzig möglicher Weg, um sich vom etablierten, lizenzierten, gesellschaftlichen Wahnwitz, auf den wohl nicht näher eingegangen werden muß, nicht anstecken zu lassen und seinen eigenen zu entwickeln. Ihm wird bewußt, daß jenseits der ’Pataphysik nichts ist, sie die letzte Instanz darstellt, die letzte Instanz von allem, das absolute Dogma. Ein ’Pataphysiker argumentiert leicht, da er keine Berührungsängste mit dem Größenwahn zu haben braucht

’Pataphysik gibt es natürlich schon seit immer und sie war überall auf dieser Welt vorhanden. Erst aber um das Jahr 1900 wurde sie bewußt eingesetzt, nämlich vom Schriftsteller Alfred Jarry. Obwohl sie bis heute hauptsächlich von Literaten gepflegt und gepredigt wird, ist sie keine philosophisch-literarische Schule, die in Paris gegründet wurde, um der Gefräßigkeit von Buchstabenkonsumenten vorgeworfen zu werden. Sie ist eine Wissenschaft mit eigener Hochschule, dem Collège de ’Patasphysique in Paris, mit einem globalen Forschernetz und vielen medienwirksamen Anhängern, zumindest alle paar Jahrzehnte einmal, wenn sie wieder auftaucht.

Folgende Erklärung wurde einmal herangezogen, um ’Pataphysik verständlich zu machen: ’Pataphysik steht über der Metaphysik, genauso wie die Metaphysik über der Physik steht. Illustriert wurde die Erklärung dann so: ein Mann wartet in einem Café, die Frau auf die er wartet, kommt durch die Tür; das ist Physik. Ein Mann wartet in einem Café, denkt in dem Moment an die Frau, auf die er wartet, als sie durch die Tür kommt; das ist Metaphysik. Ein Mann wartet in einem Café, verliert die Geduld und geht, zur gleichen Zeit kommt die Frau durch die Hintertür, der Mann ist weg, die Frau wartet auf den Mann; das ist ’Pataphysik. In aller Einfachheit kann mensch jedoch auch sagen: ’Pataphysik ist die Wissenschaft.

Wie überall, wo mensch sich ans Erklären der ’Pataphysik heran macht, wird auch hier näher auf Alfred Jarry eingegangen werden müssen. Guy Debord schreibt in Dieser schlechte Ruf über ihn: „Selbst wenn man nicht Kafka gelesen haben muß, geht man seit rund 60 Jahren ziemlich schnell davon aus, daß er den Großteil des Grauens dieses Jahrhunderts angekündigt hat. Genauso weigert man sich jedoch seit noch längerem anzuerkennen, daß Jarry ein noch viel enormeres Grauen ankündigte.“ Was kann denn ein enormeres Grauen sein, als die ’Pataphysik, ist die ’Pataphysik doch alles. Durch die Schaffung vor allem zweier Figuren wurde der 1873 geborene und 1907 gestorbene Jarry berühmt und mit ihm die ’Pataphysik: König Ubu und Doktor Faustroll. Ersterer war die Atombombe der ’Pataphysik, zweiterer der Erfinder oder besser Wiederfinder, der Einstein der Wissenschaft der Wissenschaften.

Doktor Faustroll braucht sich mit keinem Teufel einzulassen, um einiges auf den Kopf zu stellen. In Taten und Ansichten von Doktor Faustroll läßt Alfred Jarry den Wissenschaftler auf die Menschheit los. Dieser überschüttet diese dann darin mit ‘pataphysischer Methodik und Theorie (siehe Kasten) und zieht alle, die sich einlesen, in seinen Bann, wie ein Doktor seine weißen Mäuse in den Bann zieht.

Bewußtseinsträchtiger als der grau schillernde Theoretiker war jedoch der Supergau namens Ubu, dessen Geschichte unter anderem im Theaterstück König Ubu — übrigens slang-genial von H.C.Artmann ins deutsche übertragen — erzählt wird. Ubu ist ein Monster von einem Wesen, ein wenig dumm, von einer gleichwertig brutalen, aber vielleicht helleren und ehrgeizigeren Ehefrau angetrieben; der Mutter Ubu, die ihn motiviert, den König zu massakrieren und sich selbst zum solchen zu machen. Als Gardehauptmann fällt ihm dann der Mord auch nicht wirklich schwer. Auf den ersten Blick könnte mensch sagen, es handle sich um eine Macbeth Parodie, doch ist Ubu selbstverständlich mehr als nur das.

Ubu par Pablo Picasso
(paru dans la brochure destinée à la représentation d’Ubu enchaînée 1932)

Ubu wird von vielen eher als ein Mythos, als die Symbolfigur für die sich verselbstständigende Mutwilligkeit der Macht, denn einfach nur als eine Figur des Theaters oder der ’Pataphysik gesehen. Ubu steht bei erster Betrachtung für den nimmersatten, machthungrigen, kleinbürgerlichen Diktatortypen, im Großen wie im Kleinen, den das XIX. Jahrhundert geboren und welcher das XX. Jahrhundert verwüstet hat. Die, die Jarrys Stück König Ubu gelesen oder gesehen haben, empfinden den Hochputscher und Regierungsstapler als einen Klischeetyrannen, einen Vorbildverwüster, als einen zur Grausamkeit getrimmten und stehenden Staatsapparat, in dessen Wanst nicht nur Tonnen von Fressen, sondern vor allem die unzählbaren Opfer seiner Willkür passen. Philippe Sollers beschrieb Ubus Wirkung folgendermaßen: „Im Zuschauerraum erschauender Schrecken. Dieser Ubu ist weder Erzieher noch Reformator. Er wartet auf keinen Godot und glaubt nicht einmal, daß die Welt absurd ist.“

Es ist jedoch nicht das 1896 uraufgeführte Stück an sich, welches in die Geschichte eingegangen ist, sondern die Figur des Ubu. Selbst wenn in Frankreich die wenigsten je eines der Ubu-Stücke in Theater oder Fernsehen gesehen haben, außer vielleicht in der Schulzeit, ist der Begriff „ubuesque“ ein allgemein geläufiger, den man gerne verwendet, um von etlichen Figuren der Geschichte oder der Gegenwart zu reden. Vor einigen Jahren forderte der Politologe Pascal Ory sogar ein eigenes Studienfach: die „Ubulogie“ (hat natürlich nichts mit ’Pataphysik, bzw. alles mit ihr zu tun), die Erforschung der Tyrannei.

Alfred Jarry, affiche pour la représentation d’Ubu Roi

Warum beschäftigen sich aber avantgardistische Schriftsteller, solche die mensch als revolutionär humanistisch umschreiben kann, wie Boris Vian, Raymond Queneau u.v.a. in den 50er Jahren dann plötzlich nicht nur mit der ’Pataphysik, sondern leben und vertreten sie auch, ganz im Sinne Ubus? Sie organisierten sogar das ’Pataphysische Collège, welches stark an die Strukturen der katholischen Kirche, vor allem an den Jesuitenorden erinnerte, und zwar in einer dermaßen übertriebenen Form, daß dieser automatisch ins Lächerliche gezogen wurde. Die Erklärung, warum mitten im kalten Krieg, mitten im Atombombenzeitalter die ’Pataphysik ein taugliches Element der Kritik sein konnte, ist einfach: mit der wissenschaftlichen Nonsens-Methode der ’Pataphysik können alle Phasern der Gesellschaft neu verzerrt und somit nicht selten ins richtige Licht gerückt werden, kann das, was der Mensch allen Ernstes von sich gibt, als eindeutig un-ernst enttarnt werden. Ohne zu relativieren, will die ’Pataphysik eine übertriebene Realität darstellen, die der Realität sehr nahe kommen soll. Ganz klar, für Vian, Queneau u.v.a. war die ’Pataphysik der Schwarze Humor im Dienste der Revolution und des Humanismus.

Im Essay An der Schwelle der ’Pataphysik von seiner Magnifizenz (ein hoher ‘pataphysischer Würdentitel, daneben gibt es auch den General-Aufseher-Adjunkt und Bittsteller, u.v.m.) Roger Shattuck, gibt es eine prägnante Stelle, die ausreichend illustriert, wie Realität sich ohne ‘pataphysisches Zutun schon selbst ins Unernste, ins Groteske verzerrt: „Einige Monate zuvor hatte ein Versehen offenbart, dass Diplomaten ihren Ruf und die Zukunft ihres Landes aufs Spiel setzen durch ihre Gewandtheit, im Verlaufe der Konferenz Wörter wie“Einhorn„,“Hermaphrodit„oder sonst irgendein seltsames Wort, auf welches die Partner sich geeinigt haben, mit aller Natürlichkeit zu gebrauchen. Es galt die Regel, es als erster zu sagen, ohne daß es gekünstelt schien.“ Wenn diese der Realität entsprungene Geschichte eher an Monty Python erinnert, ist dazu nur zu sagen, daß diese ebenfalls bekennende ’Pataphysiker waren.

Die ’Pataphysiker exerzieren in ihren Alpträumen, ähnlich wie schon einst Marquis de Sade, vor, wie grauslich die Welt ist, sie sind Spiegel aus schwarzem Humor und über das gesehene Abbild seiner selbst muß mensch lachen, auch wenn dieses Lachen noch so unpassend und demaskierend ist. Sie lassen sich nicht auf die Diskussion ein, ob sie es ernst meinen oder nicht, einzig die Darstellung des Wahnwitzes als menschliche Komödie steht im Vordergrund. Im Gegensatz zu Ödön von Horváth, der behauptet hat, daß das einzelne Schicksal eine Tragödie und das Schicksal aller eine Komödie ist, zeigen die ’Pataphysiker, daß jedes einzelne Schicksal eine Komödie darstellt, ohne Widerruf.

Aber jeder Alptraum, egal wie groß, ist nur eine Ausnahme. Grund genug, die Hoffnung nicht zu verlieren? Die ’Pataphysik als letzte Instanz läßt nur Ausnahmen zu, keine Allgemeinregel, somit auch keine Hoffnung. Nicht jeder Mensch ist Ubu, vielleicht aber nur jeder, der regieren will, und wer will das nicht? Die ’Pataphysik bringt keine neuen Kenntnisse, behauptet sie sowieso, daß jede Form von Kenntnis ‘pataphysisch ist, sie will nur die grotesken Seiten der Menschheit, die in ihrer Normalität schon jeden Schrecken eingebüßt haben, so darstellen, daß sie wieder unerträglich werden. In einem Hörspiel nach Alfred Jarry von H.C.Artmann spielte Helmut Qualtinger den König Ubu, in einem Ton, der nicht umsonst an den Herrn Karl erinnerte.

Alfred Jarry / Doktor Faustroll Elemente der ‘Pataphysik

(www.gatzke.org/patata.htm)

Definition: Die Pataphysik ist die Wissenschaft imaginärer Lösungen, die den Grundmustern die Eigenschaften der Objekte, wie sie durch ihre Wirkung beschrieben werden, symbolisch zuordnet.

Die gegenwärtige Wissenschaft stützt sich auf das Prinzip der Induktion: die meisten Menschen haben ein Phänomen oft genug einem anderen vorausgehen oder nachfolgen sehen, und schon schließen sie daraus, dass es immer so sein muss. Nun trifft dies aber nur meistens zu, hängt vom Standpunkt ab und unterliegt dem Gesetz der Bequemlichkeit - und dennoch! Sollte man nicht, statt das Gesetz des freien Falls der Körper auf einen Mittelpunkt hin zu formulieren, vielmehr die These vom Aufsteigen der Leere zu einer Peripherie hin vorziehen, indem man die Leere als Einheit der Nicht-Dichte betrachtet, eine Hypothese, die viel weniger willkürlich ist als die Festlegung auf die konkrete, positive Dichte-Einheit Wasser?

Denn eben dieser Körper ist Voraussetzung und Gesichtspunkt für die Summe der Massen, und damit wenigstens seine Eigenschaften, wenn schon nicht seine Natur, nicht allzu sehr variieren, muss notwendig vorausgesetzt werden, dass die Körpergröße der Menschen immer sichtbar konstant und untereinander gleich bleibt. Die weltweite Übereinkunft ist schon ein fast wunderbares und unbegreifliches Vorurteil. Warum behauptet jeder, die Form einer Uhr sei rund, was offensichtlich falsch ist, weil sie im Profil ein rechteckiges, schmales, zu drei Vierteln elliptisches Bild bietet, und warum, zum Teufel, nimmt man ihre Form erst in dem Augenblick wahr, wo man die Tageszeit abliest? Vielleicht geschieht es unter dem Vorwand der Nützlichkeit. Aber dasselbe Kind, das die Uhr rund zeichnet, zeichnet auch das Haus viereckig, nach der Fassade, und das ganz offensichtlich ohne zwingenden Grund; denn außer auf dem Land sieht es selten ein alleinstehendes Gebäude, und in einer Straße erscheinen sogar die Fassaden als sehr schräge Trapeze.

So muss man wohl oder übel zugeben, dass die Masse (einschließlich kleiner Kinder und Frauen) zu grobschlächtig ist, um elliptische Figuren zu begreifen, und dass die Einzelnen sich der sogenannten weltweiten Übereinkunft anschließen, weil sie nur Kurven registrieren, die zu einem gemeinsamen Brennpunkt streben; denn es ist leichter, sich in einem Punkt zu treffen als in zweien. Tangential, mit dem Rand ihrer Bäuche kommunizieren sie und halten sich im Gleichgewicht. Nun, selbst die Masse hat gelernt, dass das wahre Universum aus Ellipsen besteht, und selbst die Bürger füllen ihren Wein in Fässer ab und nicht in Zylinder.

Um auch in einer Abschweifung unser übliches Beispiel, das Wasser, nicht zu verlassen, wollen wir also darüber nachdenken, was der Geist der Masse in folgendem Satz respektlos von den Adepten der Wissenschaft der Pataphysik sagt:

Faustroll kleiner als Faustroll

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’Pataphysik (französisch ’Pataphysique, ein Wortspiel mit den homophonen Formulierungen patte à physique, pas ta physique und pâte à physique) ist ein absurdistisches Philosophie- und Wissenschaftskonzept des französischen Schriftstellers Alfred Jarry (1873–1907), das sich oftmals als nonsensische Parodie der Theoriebildungen und Methoden moderner Wissenschaft gibt.

Begriff[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jarry in Alfortville

Der von Jarry geprägte Begriff erschien zum ersten Mal gedruckt am 28. April 1893 in der Zeitschrift L’Echo de Paris litteraire illustré. Im Roman Taten und Meinungen des ’Pataphysikers Doktor Faustroll (Gestes et opinions du docteur Faustroll, erschienen in Folgen an verschiedenen Orten 1898–1903, vollständig erst 1911) beschreibt Jarry ’Pataphysik als die Wissenschaft des Partikulären, also des Einzelfalls, im Gegensatz zu Aristoteles’ wirkungsreicher Definition, nach der sich Wissenschaft immer nur mit dem Allgemeinen beschäftigen könne.

„Ein Epiphänomen ist das, was zu einem Phänomen hinzukommt. Die ’Pataphysik, deren Etymologie mit epi (meta ta physika) zu schreiben ist, ist die Wissenschaft von dem, was zur Metaphysik hinzukommt – sei es innerhalb, sei es außerhalb ihrer selbst – und die sich ebenso weit jenseits dieser ausdehnt wie diese jenseits der Physik […] Sie soll die Gesetze untersuchen, die diesen Ausnahmen unterliegen, und will das zu dem existierenden zusätzlich vorhandene Universum deuten.“

Alfred Jarry: Doktor Faustroll

Die ’Pataphysik präsentiert sich als scheinbar logische Erweiterung der Wissenschaft und Philosophie:

„Die ’Pataphysik steht zur Metaphysik so wie die Metaphysik zur Physik.“

Die Erweiterung gibt Raum für ein künstlerisches Paralleluniversum, das an die Stelle der bekannten Welt treten könnte. Gefragt sind beispielsweise absurde wissenschaftliche Untersuchungen. Eine typische ’pataphysische Untersuchung ist die Berechnung der Oberfläche Gottes. ±Gott ist der kürzeste Weg von 0 bis ∞ (im einen oder anderen Sinne), so Jarrys Zusammenfassung des ’pataphysischen Spiritualismus.

„Die ’Pataphysik (epi meta ta physika) hat präzise und ausdrücklich folgenden Gegenstand: die große Kehre, die Überwindung der Metaphysik […]. So dass man das Werk Heideggers als eine Entfaltung der ’Pataphysik begreifen kann, und zwar in Übereinstimmung mit den Prinzipien von Sophrotatos dem Armenier und seinem ersten Schüler Alfred Jarry.“

Gilles Deleuze: Kritik und Klinik

Wirkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In den 1960er Jahren wurde ’Pataphysik als konzeptualistisches Prinzip benutzt. Elemente der Produktion in ’pataphysischer Tradition können Zufall und gezielte Beliebigkeit sein, wie in Werken von Marcel Duchamp und John Cage. Sprachspiele wie Palindrome sind ein anderes von ’Pataphysikern gerne verwendetes Prinzip, auf das Robert Wyatt mit einem Musikstück auf dem Album Volume Two (1968) der Musikgruppe Soft Machine anspielt. Die prominenteste Erwähnung der ’Pataphysik ist im Beatles-Song Maxwell’s Silver Hammer zu hören: “Joan was quizzical, studied pataphysical / Science in the home / Late nights all alone with a test tube” (Album Abbey Road, 1969). Paul McCartney soll den Begriff pataphysical als Bezeichnung für einen bestimmten Zweig einer unsinnigen Wissenschaft zum ersten Mal 1966 in der Hörspielversion des Theaterstücks Ubu Cocu[1] gehört haben.

Ungefähr zur gleichen Zeit bezeichneten die Situationisten die ’Pataphysik als neue Religion (Asger Jorn).

François Le Lionnais, ein Mathematiker, und Raymond Queneau gründeten 1960 einen Autorenkreis Oulipo (franz.: Ouvroir de la Literature potentielle – „Werkstatt für Potentielle Literatur“), der anfangs vor allem aus Mitgliedern des Collège de ’Pataphysique bestand.

’Pataphysische Vereinigungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Père Ubu

Jarrys ’Pataphysik blieb bis zur Gründung des Collège de ’Pataphysique 1948 eine weitgehend nur literarische Idee, die Künstler und Schriftsteller inspirierte. Die später berühmt gewordene ’pataphysische Vereinigung, gegründet zu Alfred Jarrys Ehren in der Librairie des Amis des Livres in Paris, hatte auf die Weiterentwicklung der ’Pataphysik wesentlichen Einfluss. Zu den Gründern zählten Raymond Queneau und Boris Vian. Spätere prominente Mitglieder waren hauptsächlich Künstler, Musiker und Schriftsteller, wie Marcel Duchamp, Max Ernst, Eugène Ionesco, Joan Miró, Groucho, Harpo und Chico Marx, Jean Baudrillard, Dario Fo, Umberto Eco, Man Ray und Harald Szeemann.

Weitere ’pataphysische Vereinigungen:

  • Istituto ’Patafisico Milanese, Mailand, gegründet 1963
  • Nederlands Instituut voor ’Patafysica (NIP), Amsterdam, gegründet 1972
  • Collage de ’Pataphysique, Sovere, gegründet 1989
  • ’Pataphysisches Institut Braunschweig, Braunschweig, gegründet 1997
  • The London Institute of ’Pataphysics, London, gegründet 2000
  • Institut de ’Pataphysique Appliquée (I'PA), St. Gallen, gegründet 2008
  • Pataphysisches Institut Basel (PIB), Basel, gegründet 2013

Einige Abteilungen des London Institute of ’Pataphysics:

  • Büro für die Untersuchung subliminaler Bilder
  • Komitee für Behaarung und Pogonotrophie
  • Abteilung für Dogma und Theorie
  • Abteilung für Potassons
  • Abteilung für Rekonstruktive Archäologie
  • Büro für Patenterei

Das London Institute of ’Pataphysics organisierte u. a. die Retrospektive des Werks von Anthony Hancock unter Bezugnahme auf den Film The Rebel von 1960, in dem der britische Komiker Tony Hancock den Künstler Anthony Hancock spielt.[2]

2022 gründeten Raphaela Edelbauer und Simon Nagy die „Pataphysische Gesellschaft Wien“, eine basisdemokratische Gemeinschaft von Menschen, Tieren und Pflanzen, ausgestattet mit der „Tatkraft eines Hebekrans“ und der „Leichtigkeit eines brennenden Zeppelins“, wie es bei der Premierenveranstaltung im Wiener Volkstheater hieß. Gegründet wurde ebenfalls ein Kammerorchester der Pataphyischen Gesellschaft, das sich aus Profimusikern, Laien, sowie absoluten Anfängern zusammensetzt, wobei alle Musizierenden ihr Instrument erst drei Proben vor der Aufführung zugewiesen bekommen.[3][4]

’Pataphysik und Humor[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

’Pataphysik wird manchmal als fäkaler Pennälerscherz oder beliebiger Nonsens missverstanden. ’Pataphysikalischer Humor ist jedoch anspielungsreich, grausam und philosophisch begründet.

„Die Götter und die Morgende, die singen, sind aus diesem obszönen Gas hervorgegangen, das angesammelt wurde, seitdem die Welt Welt ist und seitdem der pyramidale Ubu uns verdaut, bevor er uns pataphysisch in die Leere herausschleudert, die verdunkelt wird beim Geruch des erkalteten Furzes – der das Ende der Welt und aller möglichen Welten sein wird […] –
Der Humor dieser Geschichte ist grausamer als die Grausamkeit Artauds, der nur ein Idealist ist. Und vor allem ist er unmöglich. Er beweist, dass es unmöglich ist, pataphysisch zu denken, ohne sich umzubringen. Er ist, wenn man so will, der Aktionsradius einer unbekannten sphärischen Wampe, die nur durch die Dummheit der Sphären begrenzt wird, die aber unendlich wie der Humor wird, wenn sie explodiert. Aus dieser Explosion von schwachköpfigen Pfahlgeistern entsteht der Humor, aus ihrer kriecherischen und naiven Art und Weise, als Furze und Angsthasen zur Natur zurückzukehren – sie, die sich für so schlau hielten, die Wesen, und nicht nur Gas – und einer nach dem anderen legen sie den Funken an den unermesslichen Humor, der am Ende der Welt erstrahlen wird – die Explosion von Ubu selber.“

Jean Baudrillard: Pataphysik[5]

Telekolleg ’Pataphysik von Jörg Kalt präsentiert pataphysischen Humor in Form eines Kurzfilms (15 Min, 1997).[6][7]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Henri Bouché, François Lachenal: Was ist ’Pataphysik? Elementare Prolegomena zu einer Einführung in die ’Pataphysik. Offenbach 1959.
  • Alastair Brotchie: Alfred Jarry: A pataphysical life. 2011, ISBN 978-3-905799-25-5.
  • Cal Clements: Pataphysica. iUniverse, 2002, ISBN 0-595-23604-9.
  • Riewert Ehrich: Individuation und Okkultismus im Romanwerk Alfred Jarrys. München (Fink) 1988. Darin: Kap. II: Jarrys „Pataphysique“ – zur Genese und Verwendung des Begriffes innerhalb seines Gesamtwerkes, S. 29–48.
  • Riewert Ehrich: Jarry et la ’Pataphysique en „Germanie“. In: L’Etoile-Absinthe. No. 83–84, 1999, S. 66–69. (Vortrag zur deutschsprachigen Jarry-Rezeption, gehalten am 8. Februar 1999 in Paris, Org. Centre Georges Pompidou hors les murs, Salle Delvaux).
  • Thomas M. Scheerer (Hrsg.): Phantasielösungen. Kleines Lehrbuch der Pataphysik. Illustriert von Peter Kaczmarek. Mit Texten von Alfred Jarry, Raymond Queneau und Irénée-Louis Sandomir. CMZ Verlag, Rheinbach-Merzbach 1982 (1. Auflage), 1983 (2. Auflage).
  • Manfred Geier: Doktor Ubu und ich. Pataphysische Begegnungen. Illustriert von Peter Kaczmarek. CMZ Verlag, Rheinbach-Merzbach 1983.
  • Klaus Ferentschik: Pataphysik. Versuchung des Geistes. Die Pataphysik und das Collège de ’Pataphysique; Definitionen, Dokumente, Illustrationen. Matthes & Seitz, Berlin 2006.
  • Klaus Ferentschik: Der Weltmaschinenroman. Matthes & Seitz, Berlin 2008.
  • Gabriele Killert, Richard Schroetter: Wer hat Angst vor König Ubu? Alfred Jarrys Modernität. Radio-Feature. Produktion von DLF, SWR u. NDR, Sendungen vom 30. Oktober und 2. November 2007 (Mit Beiträgen von Riewert Ehrich, Klaus Ferentschik, Peter Stein, Klaus Völker u. a.).
  • Beate Ochsner (Hrsg.): Jarry – Le Monstre 1900 / Jarry – Das Monster 1900. Shaker Verlag, Aachen 2002.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Paul Muldoon: Einleitung von Paul Muldoon. In: Paul McCartney: Lyrics. 1956 bis heute. Hrsg. mit einer Einleitung von Paul Muldoon. Aus dem Englischen übersetzt von Conny Lösche. C. H. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-77650-2, S. XXVI–XXXI, hier: S. XXVIII.
  2. Anthony Hancock, Paintings & Sculpture: A Retrospective Exhibition -- The London Institute of 'Pataphysics.
  3. Raphaela Edelbauers „Pataphysisches Kolloquium“ als gelehrter Wahnsinn, derstandard.at, 21. Oktober 2022, abgerufen am 6. Oktober 2023.
  4. Pataphysische Gesellschaft Wien: Klangerotische Ponygarde der pataphysischen Kirtagswitwen, ntry.at, abgerufen am 6. Oktober 2023.
  5. Jean Baudrillard: Pataphysik. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM), 2002, abgerufen am 22. April 2009 (Aus dem Französischen von Ronald Voullié).
  6. Xenix Kino / Bar. Abgerufen am 6. September 2019.
  7. Video erhältlich unter www.polyvideo.at/Pressematerial/PH-JoergKalt.pdf: Telekolleg ´Pataphysik (Kurzfilm).