Café Critique, Jahr 2007
Juni
2007

Anders als der Bürger

Über Antisemitismus, Voluntarismus und Determinismus bei Ulrich Enderwitz und in der Wertkritik

Eine in der Tradition der Adornoschen Kritischen Theorie stehende Wert- und Fetischkritik ist aus unterschiedlichen Richtungen mit dem Vorwurf konfrontiert, sie reklamiere für sich, bezogen auf die gesellschaftliche Totalität, eine Art exterritorialen Standpunkt, da nur von diesem aus der Verblendungszusammenhang kritisiert werden könne.

Ausgehend von einer an Foucault orientierten Diskurstheorie meinen Günther Jacob und andere, die von ihnen als „pseudo-objektivistische Ideologiekritik der adornitischen Ex-Leninisten“ abqualifizierten gegenwärtigen Ausprägungen Kritischer Theorie würden „eine privilegierte Position außerhalb des sozialen Geschehens“ beanspruchen, „von der aus dessen verschleierte Funktionsmechanismen ausgelotet werden können“. (Jacob u. a. 1998, 18)

Bei Ulrich Enderwitz findet sich der Vorwurf, der Kritik des Fetischismus erscheine die falsche Totalität aufgrund des allgemeinen Verblendungszusammenhangs zwar nach wie vor als kritikwürdig, aber als „eben­so unaufhebbare … Gegebenheit“. (2005, 49)

Für den Gegenstandpunkt, der aus der Marxistischen Gruppe hervorgegangen ist, impliziert das Insistieren auf der konstitutiven Rolle des Waren-, Geld- und Kapitalfetischs für Bewusstsein wie Praxis in der kapitalakkumulierenden Gesellschaft das Abstreiten der Möglichkeit von Erkenntnis innerhalb der wertförmigen Vergesellschaftung. (1996, 83 f.)

Tatsächlich geht es bei einer Kritik des Fetischismus jedoch nicht darum, die Möglichkeit von Erkenntnis und daraus resultierender Kritik zu leugnen, sondern die Bedingungen, unter denen Erkenntnis und Kritik stattfinden müssen, und die Schwierigkeiten, die sich aus diesen Bedingungen ergeben, aufzuzeigen. Weder in der klassischen Kritischen Theorie und in jenen Ausprägungen materialistischer Kritik, die sich in Anlehnung an die Kritische Theorie artikulieren, noch in der fundamentalen Wertkritik von Robert Kurz oder der Krisis wird ein außerhalb der Gesellschaft stehender Standpunkt im Sinne einer privilegierten Erkenntnismöglichkeit oder eine völlig hermetische Verblendungsstruktur behauptet.

Adorno sprach zwar von der Übermacht der verdinglichten Verhältnisse, wies aber zugleich darauf hin, dass diese Übermacht doch auch Ideologie ist, dass der undurchdringliche Bann doch nur ein Bann ist, der sich auch lösen kann. (GS 8, 370) In der fundamentalen Wertkritik wird stets betont, dass die Fetischkonstitution der Subjekte wie der Gesellschaft „keineswegs eine absolute“ (Kurz 1993, 91) ist. In Publikationen, die in der Tradition der Kritischen Theorie stehen, wird betont, dass kein Standpunkt außerhalb der Gesellschaft denkbar ist und dass sich die Position der Kritik nur auf den letztlich nicht begründbaren kategorischen Imperativ beziehen kann. (Scheit 2004, 38)

Der für die Kritik des Fetischismus zentrale Begriff des notwendig falschen Bewusstseins bezieht sich auf die gesellschaftliche Totalität. (Ebd., 207) Das Individuum verfügt immer über die Freiheit zur Kritik, die aber gerade nicht von einem exterritorialen Standpunkt aus formuliert werden kann. Kritiker der bestehenden Verhältnisse sind als Individuen so lange Teil der gesellschaftlichen Totalität, wie diese besteht. Das Subjekt der Kritik „steht nicht als Individuum, sondern lediglich als Kritiker außerhalb des Zwangsverhältnisses kapitalistischer Vergesellschaftung“. (Wertmüller 1998, 323)

Es ist unmöglich, die in der fetischistischen Gesellschaft trotz aller Verblendung existierende Dialektik von Freiheit und Zwang in irgendeine Richtung aufzulösen. Mit Adorno kann festgehalten werden: „Soviel Freiheit des Willens war, wie Menschen sich befreien wollten.“ (GS 6, 262) Eine Kritik des Fetischismus bestreitet nicht die grundsätzliche Möglichkeit eines jeden Einzelnen, „durch Abstraktion aus der falschen Unmittelbarkeit herauszutreten und sich selbst und die Verhältnisse … zu reflektieren und zu kritisieren“. (Wertmüller 1998, 323) Durch Reflexion und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse kann eine Kritik des Fetischismus allerdings darauf verweisen, dass ein derartiges Verhalten eher unwahrscheinlich denn naheliegend ist.

Allgemein gilt: „Die unter fremden und feindlichen Verhältnissen leidenden Menschen, die gewissermaßen nur zwischen Notwendigkeiten wählen können, sind verantwortlich für alles, was geschieht, ohne frei zu sein.“ (Böckelmann 1998, 137) Was aber heißt das für den Antisemitismus?

Wenn das Bewusstsein der Menschen als notwendigerweise von gesellschaftlichen Fetischverhältnissen geprägtes aufgefasst wird, ist auch – unabhängig von einer moralischen Verurteilung der Protagonisten des Antisemitismus – die antisemitische Ideologie etwas außerhalb ihres selbstbewussten Willens Existierendes. Was aber ist ein selbstbewusster Wille bei einem bürgerlichen Subjekt, bei einer Warenmonade? Und kann der Antisemitismus in gleicher Weise jenseits eines moralischen Elements abgehandelt werden wie der Waren-, Geld- und Kapitalfetisch? Diese Fragen sollen hier in Diskussion einiger Überlegungen von Ulrich Enderwitz zu beantworten versucht werden.

Enderwitz hat in Hinblick auf den Nationalsozialismus geschrieben: „Dabei kann die Ungeheuerlichkeit, dass eine bloß symbolische Aktion praktisch mit allgemeiner Duldung beziehungsweise Zustimmung in der Ermordung von Millionen Menschen resultiert … als Indiz dafür gelten, wie sehr das pathologisch handelnde Subjekt, das am Ersatzobjekt seinen Widerspruch abreagierende faschistische Staatskonstrukt, dem Dafürhalten und Wollen der einzelnen entzogen ist, wie sehr es sich zu einem ohne Rückbezug auf die empirischen Staatsbürger, ohne Rückkoppelung an individuele Urteils- und Meinungsbildungsprozesse prozedierenden und nur mehr seiner eigenen Irrenlogik verpflichteten Herrschaftsautomaten verselbständigt hat. Dass der faschistische Staat seinen Ersatzhandlungsgelüsten, ungeachtet ihrer empirischen Folgenschwere, so freien Lauf lassen, dass er seine Symptome ohne Rücksicht auf ihre massenmörderischen Konsequenzen ausagieren kann  … ist nicht nur Beweis für seine zutiefst pathologische Verfassung, es ist zugleich Ausdruck der Selbstverständlichkeit, Unanfechtbarkeit und Unhinterfragbarkeit, mit der er auch noch in seinen scheinbar oder tatsächlich irrationalsten Äußerungsformen, seinen scheinbar oder tatsächlich willkürlichsten Resolutionen dem Staatsbürgervolk entgegentritt. Er ist die objektive Macht, der die von ihr Beherrschten, die Staatsbürger, ebenso willen- wie besinnungslos ausgeliefert sind und der sie bis nach Stalingrad, bis in die KZ-Wachmannschaften, bis in die Luftschutzkeller, bis in den Volkssturm, bis in den Kadavergehorsam der verbrannten Erde Folge leisten müssen.“ (1998, 26 f.)

Enderwitz verabsolutiert den Staat als Subjekt des Antisemitismus. Die Staatsbürger, die „Beherrschten“, erscheinen als reine Anhängsel der Staatsmaschinerie und seiner „Irrenlogik“, der sie folgen „müssen“. Enderwitz hat hinsichtlich der bürgerlichen Subjekte und dem Zwang, sich kapitalproduktiv und staatsloyal zu betätigen, festgehalten, dass die Menschen zu ihrem Handeln „gezwungen (sind), aber das bedeutet nicht unbedingt, dass sie es wider Willen tun“. (1998, 53)

Das kann nicht in gleicher Weise für den Antisemitismus gelten, da der Zwang hier ein anderer ist. Enderwitz, der die in seinen Texten oft nur zu erahnenden Konsequenzen hinsichtlich der individuellen Verantwortung der unter dem Diktat von Wertverwertung und staatlicher Herrschaft stehenden Subjekte in einer Diskussion ohne jegliche, in den vorliegenden Texten meist anzutreffende Relativierung ausgesprochen hat (zum Folgenden: Enderwitz/Scheit 2002), suggeriert aber, dass der Zwang zum antisemitischen Handeln jenem ebenbürtig wäre, der Menschen in kapitalakkumulierenden und staatlich organisierten Gesellschaften zu ihrem fetischistischen Verhalten führt.

Der Grund für die Virulenz des Antisemitismus im Deutschen Reich wird von Enderwitz nur mehr funktionalistisch darin verortet, dass der Bismarcksche und der faschistische Staat den Antisemitismus „gebraucht“ hätten. Der Antisemitismus im Nationalsozialismus ist plötzlich nur mehr ein „wesentliches Mittel zur Stiftung von Einheit“.

Den Subjekten wird jegliche Autonomie abgesprochen. Sie handelten nicht aus freiem Willen, sondern aufgrund von Zwängen, die auf sie einwirken. Deshalb sei es auch keine „individuelle Entscheidung, ob jemand als Antisemit agiert oder nicht“. Diese Auflösung des unauflösbaren Widerspruchs von Freiheit und Determination kulminiert in der Aussage, die Subjekte agierten im Nationalsozialismus als „Marionetten der gesellschaftlichen Zwänge“.

Da die Marionette hier nicht wie in einer treffenden Formulierung der fundamentalen Wertkritik als eine Marionette verstanden wird, „die selber die Fäden zieht“ (Kurz 1993, 57), sondern als in vollkommener Unfreiheit ferngesteuerte Puppe, die nur entscheiden kann, ob sie das, was sie ohnehin tut und tun muss, auch noch subjektiv begrüßt, ist von Joachim Bruhn gegen diese Enderwitzsche Entschuldigung der deutschen Volksgenossen im Nationalsozialismus mit dem Hinweis auf einen Bombenleger aus freiem Willen ebenso lapidar wie zutreffend eingewendet worden: „Johann Georg Elser hätte als Marionette in der Lage sein müssen, den eigenen Faden, an dem er hängt, durchzuschneiden. Das kann man von keinem Pinocchio erwarten.“ (Enderwitz/Scheit 2002)

Die Kritik des Fetischismus zeigt, wie sehr die Subjekte in der wertverwertenden Gesellschaft von den von ihnen selbst konstituierten gesellschaftlichen Strukturen determiniert sind. Doch jede Festlegung auf diesen Determinismus würde falsch. Die Kritik der Gesellschaft ist zum ständigen Schwanken zwischen Determinismus und Voluntarismus verurteilt. Die Auflösung dieses Widerspruchs würde weder den gesellschaftlichen Zwängen noch der Freiheit des Individuums, die trotz dieser Zwänge immer bestehen bleibt, gerecht. Die Freiheit jedes einzelnen Menschen, sich jederzeit entscheiden zu können, dagegen zu sein, bleibt gerade in der fetischhaft konstituierten Gesellschaft konstitutiv für die Kritik.

Seine Konzentration auf den Staats- und Herrschaftsautomaten verstellt Enderwitz den Blick darauf, dass dieser Automat doch immer in jedem empirischen Staatsbürger und Volksgenossen vorhanden ist und nicht unabhängig von diesen existieren kann. Die Interaktivität, die zwischen Staat und Staatsvolk gerade im Nationalsozialismus existierte, blieb bereits in Enderwitz’ Buch Antisemitismus und Volksstaat ausgeblendet. Der Staat manipuliert und formt dort die Gesellschaft nach seinen wie auch immer wahnhaften Bedürfnissen, aber die zur Volksgemeinschaft transformierte Gesellschaft kommt gar nicht mehr vor. So können auch die durchaus eigenständigen, aus der Pathologie der Konstitution bürgerlicher Subjektivität resultierenden Forderungen aus der Gesellschaft an den Staat gar nicht thematisiert werden, wodurch die Charakteristik dieses Staats selbst verfehlt werden muss. (Krug 2003, 90 ff.)

Auch wenn es die Aufgabe einer an der Fetischkritik aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie orientierten Antisemitismustheorie ist, den Zusammenhang zwischen den Antisemiten und der Gesellschaft, die sie hervorbringt, sichtbar zu machen, so gilt es doch zugleich, deutlich zu machen, dass dieser innige Zusammenhang weder zur Entschuldigung der Antisemiten noch der Gesellschaft taugt. So wie die Wahrheit des Kapitals nur in seiner Abschaffung bestehen kann, so kann auch die Wahrheit über den Antisemitismus „immer nur darin bestehen, ihn realiter unmöglich zu machen“. (Scheit 2004, 14)

Dennoch ist gegen Versuche, den Antisemitismus im Zusammenhang mit einer Kritik an der fetischistischen Praxis und dem fetischistischen Bewusstsein in der wertverwertenden und staatlich organisierten Gesellschaft zu untersuchen, der Vorwurf erhoben worden, zu einer Entschuldigung der Subjekte des Antisemitismus beizutragen. Wie am Beispiel von Enderwitz gesehen, ist derartiges auch keineswegs ausgeschlossen. Dennoch beruhen diese Vorwürfe auf einem Missverständnis der Wert- und Fetischkritik. Die Kennzeichnung von Antisemiten als Träger von falschem Bewusstsein im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie wäre nur dann eine Entschuldigung (so der Vorwurf bei Jacob u. a. 1998), wenn sie im Sinne einer absolut gesetzten Notwendigkeit postuliert und wenn keine Unterscheidung zwischen dem Waren-, Geld- und Kapitalfetisch einerseits und dem Antisemitismus andererseits getroffen würde.

Genau das wird aber in jener Wert- und Fetischkritik, wie sie sich mit Bezug auf die Kritische Theorie seit Anfang der 1990er Jahre entwickelt hat, stets zurückgewiesen. In der Kritik an dieser wird die begründete Kritik an der Enderwitzschen Auflösung der Widersprüchlichkeit von Freiheit und Notwendigkeit hin zur reinen Notwendigkeit unbegründeterweise auf alle Versuche übertragen, den Antisemitismus im Zusammenhang mit jenerVergesellschaftungsform zu sehen, in der er existiert.

Gleichzeitig wird in dieser unbegründeten Kritik die Dialektik von Determinismus und Voluntarismus dahingehend aufgelöst, dass als alleiniger Grund für den Judenmord der Wille der Mörder zu eben diesem Mord fungiert, während jeglicher Versuch einer ideologiekritischen Rekonstruktion des Bewusstseins der Mörder und seines Bezugs auf die fetischhaft konstituierte Gesellschaft unter den Generalverdacht des heimlichen Verständnisses für die Antisemiten gestellt wird. (Exemplarisch bei Küntzel u. a. 1997; 1998. Zur Kritik an diesen Versuchen einer Diskreditierung einer Kritik des Fetischismus siehe Nachtmann 1998, 21 ff.)

Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, ist die Differenz zwischen dem Antisemitismus einerseits und dem Waren-, Geld- und Kapitalfetischismus andererseits deutlich zu betonen – insbesondere, da sowohl in der Kritischen Theorie als auch bei Moishe Postone eben diese Differenz in einigen Formulierungen zu verschwimmen droht.

Im Antisemitismus wird die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse personifiziert, wobei es zum Wesen dieser Personifizierung gehört, dass „die Weltverschwörung, die der Antisemit phantasiert, ebenso in der anonymen Masse des Judentums ungreifbar bleiben, wie in der einzelnen Person greifbar werden muss“. (Scheit 2002, 23) Die sich im Waren-, Geld- und Kapitalfetisch ausdrückende Verdinglichung der sozialen Verhältnisse ist aber eine automatische, durch die gesellschaftliche Struktur vorgegebene Fetischisierung. In der Personifikation des Antisemitismus gerät die Verblendung jedoch zu einer, „die subjektiv bejaht werden muss, um zu funktionieren“. (Scheit 1999, 50)

Bei dem in der Kritik der politischen Ökonomie thematisierten, aus der Wertform zugleich entspringenden und sie konstituierenden Fetischismus kann von einem notwendig falschen Bewusstsein gesprochen werden. Darin unterscheidet sich der Fetischismus, wie er der Kapitalakkumulation zu eigen ist, vom Antisemitismus.

Zwar ist man angesichts der Geschichte und der Gegenwart verleitet, auch beim Antisemitismus von einem notwendig falschen Bewusstsein zu sprechen, aber es handelt sich dabei zumindest um eine andere Art von Notwendigkeit. Der Antisemitismus impliziert immer eine persönliche Entscheidung. Der Fetischismus der bürgerlichen Produktionsweise ist schon insofern notwendig, als er alleine durch das Handeln, unabhängig vom Bewusstsein, praktiziert wird und praktiziert werden muss.

Für die Identifikation der Juden mit der Wertdimension, mit der abstrakten Seite der Warenwirtschaft, bedarf es hingegen der Agitation. Auch der Nationalsozialismus musste für den Antisemitismus agitieren. Dieser war alles andere als eine automatische Reaktionsweise, was auf die individuelle Verantwortung eines jeden Antisemiten verweist. Insofern ist es falsch, davon zu sprechen, der Antisemit verfahre „nicht anders als jeder gewöhnliche Bürger“. (Heinz 2000, 45) Der gewöhnliche Bürger muss permanent Dinge tun, von denen er nichts weiß. Antisemit muss er nicht sein.

Besonders deutlich wird diese Differenz, wenn man den Kritiker sowohl des Antisemitismus als auch des Waren-, Geld- und Kapitalfetischs in die Argumentation mit einbezieht. Auch der schärfste Kritiker muss sich in der kapitalakkumulierenden Gesellschaft fetischistisch verhalten, selbst wenn er aufgrund seiner Kritik kein fetischistisches Bewusstsein im Sinne des Waren-, Geld- und Kapitalfetischs hat. Allein die Tatsache, dass sich die Dinge zur Bedürfnisbefriedigung in der Form von Waren befinden und, so man nicht mit dem organisierten Gewaltmonopol in Konflikt geraten möchte, bezahlt werden müssen, nötigt auch den Kritiker der fetischistischen Verhältnisse zu einem fetischistischen Verhalten, indem er Geld benutzen muss und jenen Akt, in dem völlig inkommensurable Dinge miteinander gleichgesetzt werden, immer aufs Neue vollziehen muss. Kein Mensch jedoch kann einen Kritiker des Antisemitismus zwingen, Antisemit zu sein.

Emanzipation und Barbarei

Die Situation, in der sich eine materialistische Kritik an Staat und Kapital heute befindet, ist dermaßen beschaffen, dass man eine Art kategorischen Imperativ für diese Kritik formulieren kann: Keine Staatskritik kann dem Marxschen und dem Adornoschen kategorischen Imperativ genügen, die sich nicht über die Besonderheit der israelischen Staatlichkeit als „prekäre Nothilfemaßnahme gegen die antisemitische Raserei“ (Nachtmann 2003, 77) bewusst ist. Und jede Kritik am Kapital muss sich zuallererst einen Begriff bilden von der auch aktuellen Möglichkeit der negativen Selbstaufhebung des Kapitals, wie sie im Antisemitismus zum Ausdruck kommt. Wesentlicher Propagandist solch einer negativen Selbstaufhebung, die stets bestrebt ist, den zivilisatorischen Überschuss bürgerlicher Gesellschaften zu kassieren, ist heute der Islamismus.

Deran Adorno und Horkheimer orientierten Kritik des ubiquitären Antisemitismus wird vorgeworfen, sie würde den islamischen und panarabischen Antisemitismus, und damit die kapitalentsprungene Barbarei, in einer dichotomischen Setzung der aufgeklärten bürgerlichen Zivilisation als das ganz Andere gegenüberstellen. (Enderwitz 2005, 104 ff.) In dieser Kritik wird aber stets versucht, ein sich anbahnendes Bündnis zwischen islamischer Regression und beispielsweise kommunitaristisch-deutsch-europäischer Elendsverwaltung zu beschreiben, um die „negative, selbstzerstörerische Dialektik der kapitalisierten Gesellschaften“ (Wertmüller 2004, 7) kenntlich zu machen.

Die Entwicklungen, die sich in zahlreichen Trikontländern zeigen, werden komplettiert durch gesellschaftliche und politische Veränderungen gerade in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus. Die Fetischkritik versucht, diese Entwicklungen unter dem Begriff einer Transformation des Postnazismus zu fassen, in der sich die sekundäre, demokratisierte und verinnerlichte Volksgemeinschaft voll entfaltet (Scheit 1998). Vor diesem Hintergrund kann der transformierte Postnazismus mit seiner Individualisierung und Entstaatlichung als Hochform fetischistischer Vergesellschaftung begriffen werden, in der jeder als „sein eigenes Staatssubjekt Kapital“ (Scheit 2001, 102) agiert.

Sowohl im transformierten Postnazismus mit seinem verschlankten Etatismus als auch in der islamischen Elendsverwaltung drückt sich die immanente Utopie von Demokratie als moderner Herrschaftsform dahingehend aus, dass die äußeren Zwangs­gewalten dadurch zurückgenommen werden, dass die Individuen sie in sich rückverlagern und sich selbst aus einem vermeintlich freien Willen heraus auferlegen. (Nachtmann 2000, 40)

Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge wird in der Kritik am ubiquitären Antisemitismus das, wofür der politische Islam steht, nicht als ein Phänomen einer zurückgebliebenen Kultur, sondern als Ausdruck einer Entwicklung, die längst auch in den industrialisierten Zentren eingesetzt hat, begriffen; einer Entwicklung, die als „Überführung der Gesellschaft in identitär-kommunitäre Elendsselbstverwaltung“ (Krug 2002, 14) charakterisiert werden kann.

Vor diesem Hintergrund sind für die fetischkritisch reflektierte Kritik am ubiquitären Antisemitismus „weder die Nazis noch die Islamisten ‚vormoderne Relikte‘, sondern originäre Produkte einer an sich selbst zugrunde gehenden Aufklärung“. (Nachtmann 2002) Barbarei, Opferkult und Vernichtungswahn stehen der bürgerlichen Zivilisation nicht dichotomisch gegenüber, sondern werden als einer vom Kapital gestifteten Zivilisation entsprungen kenntlich gemacht. Barbarei und Vernichtungswahn sind dadurch aber in ihrem Ursprung nicht wesensgleich. Die Zivilisation als ihr Ursprung wird vielmehr „in ihr Gegenteil verkehrt und widerrufen“. (Ebd.)

Ummasozialismus und Nationalsozialismus

Enderwitz charakterisiert den Islamismus als „regressiven Antimodernismus“. (2005, 34) Er sieht im arabisch-palästinensischen Antisemitismus nur das Rückwärtsgewandte, auf die Bewahrung des Status quo Ausgerichtete, nicht das durchaus Moderne und in die Zukunft – wenn auch eine höllische – weisende. Die Massaker des arabischen und islamischen Antisemitismus, die von selbstbewussten, stolzen und in der Regel den Mittelschichten entstammenden Attentätern begangen und häufig von Multimillionären organisiert und finanziert werden, charakterisiert er als „buchstäbliche Verzweiflungstaten“. (Ebd., 63) Als einen der zentralen Unterschiede zwischen deutschem und palästinensischem Antisemitismus macht er den „offensiven Charakter“ des einen und die „defensive Natur“ des letztgenannten aus. (Ebd., 97 f.) Dem Islamismus bescheinigt er, angeblich anders als der Nationalsozialismus eine „von der Destruktivität des kapitalistischen Systems indirektausgelöste … Verschiebung“ (ebd., 61) zu sein. Anders als der deutsche Faschismus sei der Islamismus zudem eine „Technik des Widerstandskampfes“. (Ebd., 62)

Wo soll hier aber die Differenz zum Nationalsozialismus liegen? Wenn auch vor einem völlig anders gearteten politökonomischen Hintergrund, ist auch die nationalsozialistische Ideologie eine durch die Destruktivität kapitaler Vergesellschaftung ausgelöste Verschiebungsleistung. In seinem Selbstverständnis war der Nationalsozialismus ebenfalls eine Art Widerstandsbewegung, eine Revolte gegen jene Kräfte, die man gerade durch die Verschiebungsleistung für alles Elend verantwortlich machte.

Zum einen erklärt Enderwitz jegliche Überlegung zu Kontinuitäten vom nationalsozialistischen zum islamischen Antisemitismus für „an den Haaren herbeigezogen“. (Ebd.) Zum anderen beschreibt er selbst eine ganze Reihe von Kontinuitäten, Übereinstimmungen und Parallelen. Er konstatiert, dass „zwischen dem Antisemitismus des Faschismus und dem des Islamismus eine Überlieferungsgeschichte existiert, eine alle Bedingungen diffusionistischen Einwirkens erfüllende Traditionslinie“. (Ebd., 65) Er gesteht zu, dass die „palästinensisch-arabische Feindseligkeit gegen das als pars pro toto der Juden aufgefasste israelische Volk als Antisemitismus stricto sensu definiert (ist)“. Dies erlaubt es, diese Feindseligkeit „bis in die inhaltlichen Einzelheiten, in denen sie sich artikuliert, bis hinein also in die Denunziation der Juden als geschworene Feinde der Menschheit, weltweite Verschwörer, diabolische Zerstörer, dem Antisemitismus des deutschen Faschismus zu parallelisieren“. (Ebd., 70)

Dennoch meint Enderwitz, Nationalsozialismus und islamischer Fundamentalismus seien „offensichtlich inkomparabel in jeder nur denkbaren Hinsicht“, (ebd.,64) um kurz darauf einzugestehen, dass es mit dem Antisemitismus „eine Gemeinsamkeit und Kontinuität“ (ebd., 64) gibt. Die ideologischen Schnittmengen beschränken sich aber keineswegs nur auf den Antisemitismus. Diese Schnittmengen, die nicht mit einer Identität zu verwechseln sind, lassen sich für Islamismus und Nationalsozialismus in einer Reihe weiterer Bereiche zeigen, die zugleich deutlich machen, dass die islamistische Ideologie sehr viel mehr Anleihen bei der deutschen Form des Faschismus als etwa der italienischen oder spanischen genommen hat.

Der politische Islam ist ähnlich wie die nationalsozialistische Bewegung basisdemokratisch im Sinne der Verunmittelbarung von Herrschaft, wohlfahrtsstaatlich im Sinne einer Almosenökonomie, egalitär im Sinne der repressiven Gleichheit einer Volks- oder Religionsgemeinschaft, antikapitalistisch im Sinne eines Aufstands gegen die abstrakten und unpersönlichen Seiten des modernen warenproduzierenden Systems, antiimperialistisch im Sinne einer auf die authentische Volkskultur setzenden, gegen Verwestlichung gerichteten Regression. (Wertmüller 2002, 36 ff.)

Dass Enderwitz diese Gemeinsamkeiten nicht sehen kann, die viel weniger den Herrschaftsbedürfnissen von Staaten oder pseudostaatlichen Rackets als vielmehr den ideologischen Bedürfnissen der Basisbewegungen entspringen, dürfte in seiner bereits kritisierten staatsfixierten Betrachtungs­weise des Nationalsozialismus liegen.

Niemand leugnet die offenkundigen Unterschiede zwischen dem deutschen Nationalsozialismus an der Macht und der jihadistischen Mobilmachung. So man nicht von einem islamischen Nazismus sprechen möchte, wäre eine treffende Bezeichnung eventuell der bisher nicht verwendete Begriff Ummasozialismus. Er signalisiert sowohl eine Anlehnung als auch eine Abgrenzung der Jihadisten zu ihrem nationalsozialistischen Vorbild, fasst die wohlfahrtsstaatlichen Elemente der islamistischen Ideologie mit ihrer Almosenökonomie, der Gemeinwohlverpflichtung und dem Ressentiment gegenüber dem Zins, wie es schon für diverse frühsozialistische Entwürfe charakteristisch war, und verweist auf die Umma als antinationales Projekt einer Gemeinschaft aller Muslime.

Enderwitz blendet die Tradition des arabischen und islamischen Antisemitismus aus. Diese ist zwar sowohl in qualitativer wie quantitativer Hinsicht keine der europäisch-christlichen Tradition der Judenfeindschaft gleichartige, aber dennoch existiert sie. Enderwitz sieht den Antisemitismus ausschließlich als Resultat des Nahost-Konflikts, nicht als eine seiner zentralen Ursachen. Hinsichtlich Israels heißt es bei ihm als Schlussfolgerung aus seinen Überlegungen zum arabisch-palästinensischen Antisemitismus: „Das Ergebnis ist, dass dem Staat Israel in seiner derzeitigen Orientierung die zum Antisemitismus überdeterminierte Feindseligkeit der arabisch-­palästinensischen Nachbarn in specie und der muslimisch-islamistischen Welt in genere als Rechtfertigungsgrund oder Plausibilität heischender Vorwand für seine als aktive Partizipation am imperialistisch-terroristischen Antiterrorkampf betriebene Macht- und Okkupationspolitik ebenso zupass kommt, wie sie den arabischen Nachbarn und der muslimischen Welt als Alibi und Rationalisierung für die Verdrängung ihrer inneren Probleme und die Aufrechthaltung eines falschen Scheins von nationaler Geschlossenheit beziehungsweise intentionaler Resolution ans Herz gewachsen ist. Beide Seiten … ziehen also den sekundären Lustgewinn beziehungsweise den ephemeren taktischen Vorteil, den die Krankheit Antisemitismus ihnen verschafft, einem Verfahren vor, das irgend verspräche, wenn schon nicht die Krankheit durch Beseitigung ihrer Ursachen zu heilen … , so jedenfalls doch durch Beseitigung des Nährbodens, auf dem sie sich symptomatisch entfaltet, sie als solche … erkennbar und greifbar werden zu lassen.“ (2005, 102 f.)

Hier fällt alles in eins. Israel hat, so es der selbstverständlichen Aufgabe eines jeden Souveräns nachkommen will und das Leben seiner Staatsbürger schützt, gegen den Terror und seine Infrastruktur in irgend­einer Weise vorzugehen. Die arabischen Gesellschaften hingegen haben die Wahl. Niemand zwingt sie, innere Konflikte mittels des Antisemitismus auf äußere Feinde zu projizieren.

Der Nährboden, von dem Enderwitz spricht, ist nicht nur die israelische Repression, sondern in erster Linie genau das, wogegen sich diese Repression in der Regel richtet: die terroristische und propagandistische Infrastruktur, die gerade notwendig ist, um bei den palästinensischen Massen jene Verschiebung zu gewährleisten, die dazu führt, dass sie sich mehrheitlich nicht nur gegen eine als illegitim empfundene Okkupation auflehnen, sondern erklärtermaßen einen antisemitischen Feldzug zur Befreiung „ganz Palästinas“, zur „moralischen Erneuerung“ der eigenen Gesellschaft führen, zur Verwandlung erst der Region und perspektivisch der Welt in eine regressive Hölle. Wie ausgeführt, geschieht diese Verschiebung keineswegs automatisch, und dementsprechend ist die Verhinderung der Propaganda für diese Verschiebung eine der Voraussetzungen für die Deeskalation der Gewalt im Nahost-Konflikt.

Enderwitz bringt auch hier seine bereits kritisierte Auflösung der Dialektik von Voluntarismus und Determinismus in Anschlag. Die Wahl der ummasozialistischen und arabisch-nationalistischen Rackets, anstatt einen Kampf um Emanzipation zu führen den antisemitischen Jihad aufzunehmen, resultiert bei Enderwitz nicht aus einer Entscheidung, sondern es handele sich um einen „in den Wahnsinn getriebenen Antiimperialismus“. (Ebd., 106)

So offensichtlich es ist, dass die westlichen Staaten durch die Auslöschung nahezu jedes sozial emanzipativen Widerstands in den Trikontländern in den vergangenen Dekaden die Voraussetzungen für den Islamismus deutlich verbessert haben, so falsch ist es, die Jihadisten, ganz so wie die Staatsbürger im Nationalsozialismus, nur als Getriebene zu charakterisieren.

Auch in diesem Fall gilt: Der Fetischkonstitution bürgerlicher Vergesellschaftung kann sich niemand entziehen, da sie selbst noch den Fetischkritiker zum fetischistischen Verhalten in der kapitalakkumulierenden Gesellschaft nötigt; aber auf diese fetischistische Vergesellschaftungsform mit der Identifizierung alles Bösen und als bedrohlich Wahrgenommenen mit den Juden oder dem jüdischen Staat zu reagieren und einen mit allen Mitteln zu führenden Kampf gegen das „jüdische Prinzip“ auszurufen, mit welchem immer auch die Inhalte der allgemeinen Emanzipation gemeint sind, bleibt selbst in einer noch so unfreien Welt eine zu verantwortende Entscheidung jedes Einzelnen.

Redaktionell bearbeiteter Vorabdruck aus Stephan Grigats Buch Fetisch und Freiheit – Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, das demnächst im Freiburger ça ira-Verlag erscheinen wird. (ca. 400 Seiten, ca. 22,- Euro)

zuerst erschienen in: Jungle World, Nr. 25, 20. Juni 2007

Literatur

  • Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften (GS). Frankfurt/M. 1997
  • Böckelmann, Frank: Über Marx und Adorno. Freiburg 1998
  • Enderwitz, Ulrich: Antisemitismus und Volksstaat. Freiburg 1991
  • Enderwitz, Ulrich: Was ist Ideologie? In: Bahamas, Nr. 25, 1998
  • Enderwitz, Ulrich: Konsum, Terror und Gesellschaftskritik. Münster 2005
  • Enderwitz, Ulrich/Scheit, Gerhard: Deutschland und das Kapital. Streitgespräch auf dem Kongress Antideutsche Wertarbeit. Freiburg 2002. MP 3-Mitschnitt
  • Gegenstandpunkt: Was sich mit Marx doch alles anstellen lässt! In: Gegenstandpunkt, Nr. 4, 1996
  • Heinz, Tina: Bericht aus der Akademie. In: Bahamas, Nr. 33, 2000
  • Jacob, Günther u. a.: Falsches Bewusstsein oder diskursive Praxis. In: Jungle World, Nr. 2, 1998
  • Krug, Uli: Pazifistische Bruderschaft. In: Bahamas, Nr. 37, 2002
  • Krug, Uli: Mobilisierte Gesellschaft und autoritärer Staat. In: Grigat, Stephan (Hg.): Transformation des Postnazismus. Freiburg 2003
  • Küntzel, Matthias u. a.: Goldhagen und die deutsche Linke. Berlin 1997
  • Küntzel, Matthias u. a.: Auschwitz und die Krise der Theorie. In: Jungle World, Nr. 28, 1998
  • Kurz, Robert: Subjektlose Herrschaft. In: Krisis, Nr. 13, 1993
  • Nachtmann, Clemens: Gehorsam ohne Befehl. In: Bahamas, Nr. 21, 1998
  • Nachtmann, Clemens: Über die Entnazifizierung des Faschismus. In: Bahamas, Nr. 33, 2000
  • Nachtmann, Clemens: Begierde des Rettens. In: Jungle World, Nr. 29, 2002
  • Nachtmann, Clemens: Krisenbewältigung ohne Ende. In: Grigat, Stephan (Hg.): Transformation des Postnazismus. Freiburg 2003
  • Scheit, Gerhard: Der Führertyp der demokratischen Volksgemeinschaft. In: Weg und Ziel, Nr. 4, 1998
  • Scheit, Gerhard: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Freiburg 1999
  • Scheit, Gerhard: Die Meister der Krise. Freiburg 2001
  • Scheit, Gerhard: Deutscher Realismus. In: Bahamas, Nr. 39, 2002
  • Scheit, Gerhard: Suicide Attack. Freiburg 2004
  • Wertmüller, Justus: Intellektuelle, individuelles Handeln und politische Organisation (Diskussion). In: Fried, Barbara u. a. (Hg.): Erkenntnis und Parteilichkeit. Berlin – Hamburg 1998
  • Wertmüller, Justus: Politische Theologie. In: Bahamas, Nr. 39, 2002
  • Wertmüller, Justus: Al-Qaida proudly presents: eine Lektion in Demokratie. In: Bahamas, Nr. 44, 2004