Internationale Situationniste, Numéro 9
 
1977

Antwort auf eine Untersuchung für eine sozio-experimentelle Kunst

1. Warum fühlt sich das Volk nicht von der Kunst betroffen? Warum bleibt die Kunst ein Vorrecht gewisser kultivierter Schichten der bürgerlichen Klasse?

Die Wichtigkeit des Themas der vorliegenden Untersuchung des Zentrums für eine sozio-experimentelle Kunst und der den Antworten zugeteilte, begrenzte Raum zwingen uns zu einem bestimmten Schematismus. Die Position der Situationisten bei diesen Themen ist in den verschiedenen Zeitschriften der S.I. — Situationistische Internationale, Der deutsche Gedanke, Situationistisk Revolution — genauer dargelegt worden, sowie in dem im Juni in Dänemark herausgegebenen Katalog anlässlich der Manifestation „Zerstört RSG 6“.

Das Volk — d.h. die nicht herrschenden Klassen — darf sich zu Recht durch nichts in der Kultur bzw. der Organisation des gesellschaftlichen Lebens betroffen fühlen, die sich außerhalb seiner Beteiligung und seiner Kontrolle — und sogar mit voller Absicht gegen diese Beteiligung oder diese Kontrolle entwickeln. Das Volk kann nur illusorisch durch die zu seinem Konsum bestimmten Nebenprodukte betroffen werden — und zwar durch alle Formen der spektakulären Werbung und Propaganda für Verhaltensmuster und verfügbare Produkte.

Doch kann man nicht einfach daraus folgern, dass die Kunst als ein „Vorrecht“ der bürgerlichen Klasse fortbesteht. In der Vergangenheit hat jede herrschende Klasse ihre Kunst gehabt — aus den selben Gründen, wie eine klassenlose Gesellschaft keine haben und über jede Kunstpraxis hinaus sein wird. Die historischen Bedingungen unserer Zeit aber, die gerade mit dem Überschreiten einer Schwelle im Aneignungsprozess der Natur durch den Menschen und damit mit dem konkreten Projekt einer klassenlosen Gesellschaft verknüpft sind, sind so beschaffen, dass sie eine zwangsläufig revolutionäre Kunst hervorgebracht haben. Das, was man die moderne Kunst genannt hat, ist von seiner Herkunft im XIX. bis zu seiner Blüte im ersten Drittel des XX. Jahrhunderts eine Kunst gegen die Bourgeoisie gewesen. Die gegenwärtige Krise der Kunst ist mit derjenigen der Arbeiterbewegung seit der Niederlage der russischen Revolution und der Modernisierung des Kapitalismus verbunden.

Eine künstliche Folge der modernen Kunst — formelle Wiederholungen, werbungsmäßig verpackt und von der ursprünglichen Kritik getrennt — sowie der heißhungrige Konsum von Teilen und Bruchstücken alter Kulturen, die von ihrer ganzen Bedeutung getrennt sind (deren komischster „theoretischer“ Verkäufer Malraux war, der sie heute in seinen „Häusern der Kultur“ zur Schau stellt), machen heute genauer gesagt das fragwürdige „Vorrecht“ der neuen Schicht von geistigen Arbeitern aus, die sich zusammen mit der Entwicklung des tertiären Sektors der Wirtschaft ausbreitet. Dieser Sektor ist mit dem des gesellschaftlichen Spektakels eng verbunden: diese geistige Schicht (durch deren Bildungs- und Beschäftigungsbedingungen sich gleichzeitig das quantitative Wachstum und der Verfall des Unterrichtswesens erklären lassen) ist zugleich diejenige, die das Spektakel am unmittelbarsten produziert und ihren eigentlich kulturellen Teil konsumiert.

Unserer Meinung nach repräsentieren zwei Strömungen den heutigen kulturellen Konsum, der diesem Publikum entfremdeter geistiger Arbeiter angeboten wird:

Einerseits tendieren ähnliche Versuche wie die der „Forschungsgruppe für eine visuelle Kunst“ deutlich zu einer Integrierung der Bevölkerung in das herrschende sozio-ökonomische System, so wie sie zur Zeit auch durch den Polizeiurbanismus und die Denker der Kybernetischen Kontrolle betrieben wird: nur mittels einer echten Parodie der revolutionären Thesen über das Ende der Passivität des getrennten Zuschauers und der Konstruktion von Situationen kann diese „visuelle Kunst“ behaupten, sie lasse den Zuschauer an ihrem Elend teilnehmen — wobei sie in ihrem Mangel an Dialektik so weit geht, diesen „befreien“ zu wollen, indem sie ihm „verbietet, sich nicht zu beteiligen“ (siehe ein Flugblatt der III. Pariser Biennale).

Andererseits ist der „neue Realismus“, der viel von der Form — und nichts vom Geist — des Dadaismus wiederaufnimmt, eine apologetische Kunst des Mülleimers. Er findet seinen Platz recht gut im Spielzimmer der Pseudofreiheit, das sich eine Zivilisation der Gadgets und der Verschwendung leisten kann.

Die Bedeutung solcher Künstler bleibt aber selbst im Vergleich zur kommerziellen Werbung sehr zweitrangig. So hat paradoxerweise der östliche „sozialistische Realismus“, der keineswegs eine Kunst ist, doch eine entscheidendere gesellschaftliche Funktion. Im Osten erhält sich die Macht tatsächlich in erster Linie dadurch aufrecht, dass sie Ideologie (d.h. mystifizierende Rechtfertigungen) verkauft — und im Westen Konsumgüter. Die heutige Unmöglichkeit einer Kunst als „Vorrecht“ der herrschenden Klasse wird dadurch bestätigt, dass die Bürokratie keine eigene Kunst schaffen konnte, sondern sich formell die pseudo-künstlerische Auffassung der konformistischen Kleinbürger des letzten Jahrhunderts angeeignet hat — trotz des diese Formel belastenden Mangels an Wirksamkeit. Jede Kunst ist jedoch „gesellschaftlich“ in dem Sinne, dass sie sich in einer Gesellschaft festgesetzt hat und wenn auch widerwillig mit den herrschenden Verhältnissen bzw. deren Negation verwandt ist. Einstige Momente der Kritik leben fragmentarisch fort und verlieren damit ihren künstlerischen (bzw. nach-künstlerischen) Wert in genau dem Maße, wie sie den Mittelpunkt der Kritik verlassen. Mit diesem Mittelpunkt geht der Bezug auf die Masse von nach-künstlerischen Handlungen (der Revolte und des freien Wiederaufbaus des Lebens) verloren, die schon auf der Welt vorhanden sind und dahin tendieren, die Kunst zu ersetzen. Dann zieht sich diese fragmentarische Kritik auf eine Ästhetik zurück, sie erstarrt zu einer sofort veralteten und wirkungslosen Ästhetik, in einer Welt, in der es für die Ästhetik schon zu spät ist — wie z.B. der Surrealismus. Andere Strömungen sind typische Vertreter des heruntergekommenen bürgerlichen Mystizismus (die Kunst als Ersatz für die Religion). Sie reproduzieren — aber nur im einsamen Traum und in der idealistischen Anmaßung — die Kräfte, die das gegenwärtige gesellschaftliche Leben offiziell und praktisch beherrschen: die Nicht-Kommunikation, den Bluff, die tobsüchtige Neigung zur Erneuerung als solcher, zur schnellen Auswechselung von willkürlichen und uninteressanten Gadgets — wie z.B. der Lettrismus, über den wir geschrieben haben, dass „Isou als Produkt einer Epoche der unkonsumierbaren Kunst die Idee seines Konsums selbst abgeschafft und die erste Kunst des Solipsismus“ vorgeschlagen habe (vgl. S.I. Nr. 4).

Schließlich ist selbst die Multiplizierung sogenannter Kunstströmungen, die sich wirklich durch nichts voneinander unterscheiden lassen, sozusagen eine Anwendung der modernen Grundsätze für den Verkauf desselben Produkts unter verschiedenen konkurrierenden Etiketts.

2. Wie kann Kunst wirklich sozial sein?

Die Zeit der Kunst ist vorbei. Es kommt jetzt darauf an, die Kunst zu verwirklichen, das auf allen Lebensebenen praktisch aufzubauen, was bisher nur erträumte und einseitig bewahrte Illusion oder künstlerische Erinnerung sein konnte. Man kann die Kunst nur verwirklichen, indem man sie abschafft. Dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft, die die Kunst abschafft, indem sie diese durch ein noch hierarchischeres und passiveres, automatisches Spektakel ersetzt, muss jedoch entgegengesetzt werden, dass man die Kunst nur wirklich abschaffen kann, indem man sie verwirklicht.

Wird Ihre gesellschaftliche Funktion als Künstler durch die politische Gesellschaft, in der Sie leben, begünstigt oder benachteiligt?

Praktisch hat diese Gesellschaft das abgeschafft, was Sie „die gesellschaftliche Funktion des Künstlers“ nennen.

Handelt es sich hierbei um die Funktion eines Beamten innerhalb des herrschenden Spektakels, so liegt es auf der Hand, dass die freien Stellen sich zusammen mit dem Spektakel selbst vermehren. Aber die Situationisten sind keineswegs gewillt, sich darin zu integrieren.

Wird im Gegenteil gemeint, dass es darauf ankommt, durch neuartige Aktivitäten und in erster Linie durch die Kritik der gesellschaftlichen Totalität das Erbe der ehemaligen Kunst anzutreten, so ist es wohl normal, dass die betreffende Gesellschaft eine solche Praxis benachteiligt.

3. Meinen Sie, dass Sie unter anderen sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen eine andere Ästhetik hätten?

Gewiss. Wird unsere Perspektive verwirklicht, so wird die Ästhetik — wie auch ihre Negation — aufgehoben.

Wenn wir heute in einem unterentwickelten bzw. archaischen Herrschaftsbedingungen (Kolonisation, Diktatur wie die Francos) unterworfenen Land leben würden, so würden wir die Möglichkeiten einer bestimmten Beteiligung der Künstler als solche an den Kämpfen des Volkes und folglich an einer nicht ganz künstlichen Kommunikation auf einer alten Grundlage anerkennen: der alten, hinsichtlich dem allgemeinen (sozialen und kulturellen) Rückstand der Umwelt noch für einige Zeit echten, gesellschaftlichen Funktion des Künstlers.

Wenn unsere Richtung sich in einem durch die sogenannte sozialistische Bürokratie regierten Land gebildet hätte, in dem der Informationsmangel über die kulturellen und sonstigen Experimente der hochentwickelten Länder in den letzten 50 Jahren systematisch organisiert wird, würden wir sicherlich der minimalen Forderung der Verbreitung der Wahrheit zustimmen — inklusive der über die aktuelle westliche Kunst. Und das trotz der unvermeidlichen Zweideutigkeit einer solchen Forderung, da die Geschichte der modernen Kunst im Westen frei und sogar bekannt, aber verfälscht ist und ihre Einführung in den C n zunächst die diensttuenden Jewtuschenkos begünstigen wird, d.h. eine Modernisierung der offiziellen Kunst.

4. Beteiligen Sie sich an der Politik oder nicht? Warum?

Ja — aber an einer einzigen: mit verschiedenen anderen Kräften auf der Welt arbeiten wir an der Verbindung und der theoretischen und praktischen Organisation einer neuen revolutionären Bewegung.

Alle hier von uns ausgeführten Betrachtungen stellen unsere untrennbaren Gründe dafür dar, über das Scheitern der alten spezialisierten Politik hinauszugehen.

5. Halten Sie eine Vereinigung der Künstler für notwendig? Welche Ziele sollte sie haben?

Künstlervereinigungen sind im Überfluss vorhanden — seien sie ohne Grundsätze oder willkürlich auf irgendein Hirngespinst gegründet — als Gewerkschaften zur gegenseitigen Hilfe, geschlossene Kreise zur garantierten Huldigung, kollektives Strebertum usw. Arbeiten, die sich bei der kleinsten Gelegenheit öffentlich als „Zusammenarbeiten“ ausgeben, sind Mode geworden und sogar bei den unglücklichen Pariser Biennalen in den Vordergrund getreten, um die Aufmerksamkeit von den tatsächlichen Problemen der Aufhebung der Kunst abzulenken. Alle diese Vereinigungen betrachten wir mit gleicher Verachtung und akzeptieren keinen Kontakt mit diesen Kreisen.

Was eine kohärente und disziplinierte Vereinigung zur Durchführung eines gemeinsamen Programms betrifft, meinen wir, dass sie auf der Basis der S.I. möglich ist, unter der Bedingung, dass die Teilnehmer streng genug ausgewählt werden, damit alle genial sind und dass sie sozusagen aufhören, Künstler zu sein und sich für Künstler im alten Sinne des Wortes zu halten.

Man darf sich übrigens fragen, ob die Situationisten Künstler — und selbst avantgardistische Künstler sind. Nicht nur, weil ihnen fast allgemein in der Kulturwelt diese Beschreibung streitig gemacht wird, wenigstens von dem Augenblick an, in dem das gesamte situationistische Programm auf dem Spiel steht, und weil ihre Interessen sicherlich über das alte Kunstgebiet hinausgehen. Die Eigenschaft eines Künstlers ist auf der sozio-ökonomischen Ebene noch fragwürdiger. Viele Situationisten müssen sich im Leben durchhelfen, von der historischen Forschung bis zum Pokerspiel, sie sind Barmixer oder Puppenspieler. Es ist sogar erwähnenswert, dass von den 28 Mitgliedern der Situationistischen Internationale, die wir bisher ausschließen mussten, 23 eine charakteristische, individuelle, künstlerische Tätigkeit haben und sogar einen zunehmenden ökonomischen Erfolg in dieser Tätigkeit genießen. Sie wurden trotz ihrer Mitgliedschaft in der S.I. als Künstler anerkannt; dann neigten sie aber dazu, unseren Feinden Bürgschaften zu geben — wollen diese doch einen „Situationismus“ erfinden, um uns loszuwerden, indem sie uns wie irgendeine Ästhetik des Weltuntergangs in das Spektakel integrieren. Dabei wollten sie weiter in der S.I. bleiben — was unannehmbar war. Der statistische Wert dieser Zahlen scheint unbestreitbar zu sein. Selbstverständlich sind uns andere „Ziele“ einer eventuellen Künstlervereinigung gleichgültig, da wir sie für vollkommen veraltet halten.

6. Welches Verhältnis haben für Sie diese Erklärungen zu dem Werk, das Sie hier ausstellen?

Das hier beigefügte Werk kann natürlich keine „situationistische Kunst“ repräsentieren. Unter den gegenwärtigen kulturellen Verhältnissen, die sehr offen anti-situationistisch sind, wollen wir nach einer „ihre eigene Kritik enthaltende Kommunikation“ greifen, die durch alle zugänglichen Träger vom Film bis zur Schrift experimentiert werden muss und die wir unter dem Namen Zweckentfremdung theoretisch formuliert haben. Da die Untersuchung des Zentrums für eine sozio-experimentelle Kunst hier auf die bildenden Künste beschränkt bleibt, haben wir von den vielen Möglichkeiten der Zweckentfremdung für die Agitation Michèle Bernsteins Anti-Bild Der Sieg der Bande Bonnot ausgewählt, das zusammen mit Der Sieg der Pariser Kommune, Der Sieg des großen Bauernaufstandes von 1358, Der Sieg der spanischen Republikaner und Der Sieg der Budapester Arbeiterräte und vielen anderen Siegen zu einer Reihe gehört. Solche Bilder beabsichtigen, die pop-art zu verneinen (diese ist materiell und „ideologisch“ durch die Gleichgültigkeit und eine trübselige Zufriedenheit charakterisiert, indem nur Gegenstände aus der Kategorie des Spielzeugs verwendet und möglichst schwerfällig bedeutungsvoll gemacht werden. So nehmen die Bilder dieser Reihe in einer bestimmten Art die Schlachtgemälde wieder auf — und sie korrigieren die immer noch nicht vollendete Geschichte der Revolten in eine uns passende Richtung. Es scheint, als ob jeder neue Ansatzpunkt der Veränderung der Welt im Schein eines neuen Irrealismus beginnen müsste. Wir hoffen, dass unsere Manifestationen des Scherzes sowie des Ernstes dazu beitragen, unsere Position über das heutige Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft zu beleuchten.

6. Dezember 1963
Für die Situationistische Internationale
J.V. MARTIN, J. STRIJBOSCH, R. VANEIGEM, R. VIENET
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