FORVM, No. 364/365
April
1984

Arbeit über kurz oder lang

Der Politiker der 80er Jahre trägt wieder Farben. Ein Busek glänzt in wohlgenährtem Grün, ein Mock, der sich in würdig tiefem Schwarz als Konservativer internationalen Ranges zu profilieren sucht, ein Kanzler Sinowatz im bisher blassesten Altrosa der vergangenen Dekade — an den Rändern schon leicht bläulich. Ein clownhaft bunt agierender Steger und — welch ein Kontrast — sein ernster Kamerad Ofner‚ in einer Farbe, die so manchen Demokraten nachdenklich werden läßt. Dallinger schließlich im strahlenden Morgenrot der 35-Stunden-Welt. Wer Farben trägt, der muß sich schlagen. Auch um die Frage der Arbeitszeitverkürzung. Und so wird lautstark duelliert, denn was sich liebt, das neckt sich.

Die Praxis schert sich selten um die Theorie

Die Frage nach den Wirkungen einer Verkürzung der Arbeitszeit sieht harmlos aus. Sie scheint fast ein mehr technisches Problem zu sein: Mehr Arbeiter in denselben Arbeitstag gepreßt erhöht die Beschäftigung und läßt die produzierte Menge unverändert. Und was die Stundenlöhne angeht, so ist das eine Machtfrage, die als solche an die Sozialpartner delegiert wird. Wo sie dann keine mehr ist, weil dort das Machbare beschlossen wird. Schluß — aus! Zu den Details mögen Experten noch eine Studie beistellen, doch das ist nur Begleitmusik — das wissen die Experten selbst am besten, so einfach ist das. Und nur weil das so einfach ist — so die Vertreter dieses kurzen Schlusses — drehen sich die „an sich sicher hochkomplexen“ Rädchen des Gesellschaftsmechanismus noch.

Was dem Verkürzer seine „Systemleistung“ der „Reduktion von Komplexität“ (N. Luhmanns Sozialtechnologe lacht ihm schelmisch aus den Augen), das ist seinem Gegenspieler die Moral. Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig. Was soll er tun, wenn ihm aus seiner Welt der ewig und naturhaft herrschenden Gesetze der „Marktwirtschaft“, die doch vom Wachstum bis zur Vollbeschäftigung alles garantiert, was Menschen wünschen können, die „Krise“ wie ein nasser Fetzen ins Gesicht schlägt. Zwar kann er Arbeitslosigkeit für so „natürlich“ und „freiwillig“ erklären wie die kapitalistische Produktionsweise, sein Weltbild aber kann er nicht unmittelbar verwenden, wenn in diesem die Möglichkeit von Arbeitslosigkeit nicht vorhanden ist.

Das ist der Haken an der unterstellten Stabilität: wenn die Wirklichkeit ihr widerspricht, gibt das Modell keinen Aufschluß über die zu ihrer Restaurierung nötigen Aktionen. Was bleibt, ist die Suche nach bösen Buben, die die heile Welt gestört haben. Und die sind schnell gefunden — der „Sozialstaat“, die Gewerkschaften, die überzogenen Ansprüche und geringe Mobilität der Arbeiter etc. Dagegen gilt es aufzutreten.

Der Vorschlag der Verkürzer ist dem Moralisten suspekt, solange die Frage nach dem Lohnausgleich ausgeklammert bleibt. Er erscheint ihm verwerflich, wenn er „sozialstaatliche“ Eingriffe in den Marktmechanismus transportiert. Er kann aber auch für Moralisten akzeptabel werden, wo er Gewerkschaftsmacht, etwa im Bereich der kollektiven Verhandlungsform, untergräbt. Soll jeder Unternehmer sich die Arbeitszeit doch selbst mit seinen Arbeitern ausmachen (und sie gegebenenfalls verkürzen), das erhöht die Flexibilität am Arbeitsmarkt und bringt die schiefe Welt schneller ins Gleichgewicht.

Das Eindringen externer Sündenböcke in die stabile Welt des Marktes — darauf wird das Problem der Arbeitszeitverkürzung reduziert. Sind die bösen Mächte identifiziert, so ist ihnen entgegenzuwirken — Theorie verkommt zu Moral, wo die Erkenntnis ihrer Inadäquatheit durch handelnde Gläubigkeit ersetzt wird. Der Moralist hält seine Predigt, weil er seine Theorie nicht mehr anwenden, sondern nur mehr an sie glauben kann, angesichts realer Schwierigkeiten aber dennoch handeln muß (siehe Jens Tschebull).

Die Möglichkeit des theoretischen Diskurses zwischen Verkürzern und Moralisten ist ausgeschlossen. Auch die Einbeziehung noch so gründlicher Berge empirischer Evidenz kann die fehlende theoretische Ebene nicht ersetzen. In dieser Hinsicht sind die Bemühungen von Vermittlern (wie Horst Knapp) zum Scheitern verurteilt. Daß andererseits die praktische Lösung der Frage unmittelbar bevorsteht, ist ebenfalls gewiß. Die Praxis schert sich selten um Theorie — schon gar nicht um verkürzte oder falsche.

Theoretische Begriffe besitzen ihre Operationalität nur bezüglich eines bestimmten Zeithorizonts. Es ist nicht möglich, den im Mittelalter üblichen Begriff der Ehre für eine Theorie menschlichen Verhaltens seit der Steinzeit zu verwenden. Sein Zeithorizont ist zu kurz. Ähnlich wird sich der auf den Zeithorizont der gesamten kapitalistischen Produktionsweise abstellende Begriff des Arbeitswertes als unzureichend erweisen, will man etwa die Entwicklung des Preises von Steinpilzen für die nächste Woche prognostizieren.

Es sei für Fragestellungen der politischen Okonomie folgende Einteilung vorgeschlagen: Unter langfristig verstehe man, für die gesamte kapitalistische Produktionsweise gültig; unter mittelfristig einen Zeitraum der den Transfer von angelegtem Kapital ermöglicht (5-10 Jahre); unter kurzfristig einen Zeitraum, der sofort erfolgte Reaktion wirksam werden läßt (1-2 Jahre). Wie die obigen Beispiele andeuten, ist ein ‚kurzfristig‘ angelegter Begriff für ‚langfristige‘ Betrachtungen schlicht unbrauchbar, während andrerseits auf längerfristige Prozesse zielende Begriffe zumindest einen Rahmen für im kurzfristigen Modell näher zu Präzisierendes ergeben können. Das steht im Widerspruch zur oft zitierten Ansicht Keynes’, der zufolge nur Kurzfristiges interessieren könne: „In the long-run we are all dead“ — es ist nötig, hier auf den Erkenntnisprozeß abzustellen: „In the short-run we are all blind.“ Daher empfiehlt es sich, mit der langfristigen Entwicklung zu beginnen.

Herrschende Ökonomie befaßt sich mit langfristigen Entwicklungen unter dem Titel „Wachstumstheorie“. Das Vokabular der Wachstumstheorie ist in der Regel recht einfach: Kapitalstock, Volkseinkommen, Arbeitsangebot, Sparneigung, Bevölkerungswachstum und technischer Fortschritt sind zentrale Begriffe. Werden nun Zusammenhänge zwischen einigen dieser Begriffe postuliert (meist als mathematische Funktionen dargestellt), so kann die Entwicklung einiger darin vorkommender Größen (der endogenen Variablen) aus der Entwicklung der anderen, exogenen Variablen, für den Zeitraum der Gültigkeit des Zusammenhanges abgeleitet werden. Die Spezifizierung der als relevant erachteten Größen und das Postulieren der sie verknüpfenden Zusammenhänge liefern ein Modell. Welche Größen nun als endogen erachtet und durch das Modell erklärt werden, folgt zwar gewissen Konventionen, verbleibt aber im Prinzip in der Verantwortung des Modellbauers. Es ist diese Wahl der endogenen Größen seines Modelles, durch die sich sein Erkenntnisinteresse primär ausdrückt. Wachstumstheoretiker, wie auch andere Ökonomen‚ sprechen in Modellen miteinander.

Das Problem der neueren Wachstumstheorie besteht nun darin, von kürzerfristiger macroökonomischer Theorie gewisse Problemstellungen „geerbt“ zu haben, deren langfristige Version ihr als der zentrale Erkenntnisgegenstand aufgebürdet wurde: Können Angebot und Nachfrage auf bestimmten Märkten kurzfristig nicht übereinstimmen, so haben langfristige Modelle zu zeigen, was geschieht, wenn man annimmt, daß dies langfristig nicht der Fall ist. Es geht in der Folge um sogenannte Gleichgewichtspfade der relevanten Größen. Ein Großteil der einfacheren Modelle kommt denn auch zu dem wenig originellen Schluß, daß ein solcher Pfad immer dann vorliege, wenn alle relevanten Größen mit derselben Rate wachsen.

Da nun aber eines der „ererbten“ Gleichgewichte das Gleichgewicht am Arbeitsmarkt ist, und das Arbeitsangebot als exogen angenommen wird, bestimmt das letztere die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate. Das Wachstum des Arbeitsangebotes wird zur treibenden Kraft des gesamten Wirtschaftsprozesses. Verringern demnach Arbeitszeitverkürzungen das Arbeitsangebot‚ so bedeutet dies ein niedrigeres gleichgewichtiges Wachstum. Der stark beschränkte Erkenntnisanspruch solcher Modelle bietet jedoch keine befriedigende Erklärung der dahinter stehenden Prozesse.

Will man diese Prozesse durch Weiterentwicklung herrschender Theorie besser erfassen, so ist folgendes zu bedenken:

  • Entstehung von Produktivitätswachstum (technischer Fortschritt), schon von Marx als die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise erkannt, ist genau zu modellieren.
  • Ökonomische Gesetze sind nicht wie naturwissenschaftliche Zusammenhänge als konstante Relationen zwischen quasi-physikalischen Größen entdeckbar — mögen sie auch im Nachhinein so erscheinen. Sie drücken vielmehr Verhältnisse zwischen Menschen aus. Handelt es sich um einen bestimmten ökonomischen Prozeß, etwa die Produktion von Gütern, so können Gruppen von Menschen gemäß ihrer Stellung in diesem Prozeß zu Klassen zusammenfaßbar sein. Bei anderen Prozessen, etwa der Endnachfrage, mag dies nicht möglich sein. Die in einem Modell postulierten Zusammenhänge bilden folglich klassenspezifisches Verhalten ab, wenn jenen Prozessen, die Aggregation zu Klassen erlauben, der größere Stellenwert bezüglich des Gesamtprozesses zugeschrieben wird. Wird dagegen der Konsumsphäre der Vorrang zugesprochen, und sei Aggregation zu Klassen dort nicht möglich, so werden allgemein menschliche, „psychologische“ Verhaltensweisen, wie etwa eine gesellschaftsweite Konsumneigung, postuliert. Nur zu oft werden solche von kurzfristigen Theorien „geerbten“ Spezifikationen unbesehen in langfristige Modelle übernommen, wo sie dann im Gegensatz stehen zu der für die Beschreibung des Akkumulationsprozesses erforderlichen Modellierung klassenspezifischen Verhaltens.
  • Im Lichte der eben geforderten Modellierung von Unternehmer- und Arbeiterverhalten könnte auch der übliche (Markt-)Gleichgewichtsansatz auf spieltheoretische Gleichgewichte erweitert werden.

Ein solches, auf herrschende Theorie aufbauendes Forschungsprogramm liegt wohl M. Morishimas dualer Wachstums- und Werttheorie zugrunde. [1] Um Einzelfragen, wie die nach dem Wesen von Arbeitszeitverkürzung beantworten zu können, müßten jedoch in den Modellen dieses Theoriestranges zumindest folgende zwei Themenkreise Berücksichtigung finden.

1) Trafo oder Stabilisator

Im kurzfristigen Gleichgewicht (etwa bei Morishima 1973) bewirkt eine Verkürzung der Arbeitszeit bei einem konstanten, nicht weiter reduzierbaren Lohnniveau (das nicht unbedingt das physische Substistenzminimum sein muß) einen Fall der Profitrate. Übersetzt in die Wachstumsraten langfristiger Betrachtung heißt das, daß eine sich schneller als die Produktivität verkürzende Arbeitszeit, unter ansonsten gleichen Bedingungen, die Profitrate senkt. Es scheint daher zunächst jede solche Verkürzung eine klassenkämpferische Aktion zu sein. Es kann sich diese Argumentation auch zurecht auf das 8., 9. und 10. Kapitel des Marx’schen Kapital berufen. Es darf jedoch andrerseits nicht übersehen werden, daß es sich bei Arbeitszeitverkürzung um eine gesetzliche, also vom Staat ausgehende Maßnahme handelt. Jedes Urteil über solche Maßnahmen impliziert eine Stellungnahme zur Rolle des Staates.

Exekutiert der demokratische Staat den Willen einer sich tendenziell in der Mehrheit befindenden Arbeiterklasse? Oder ist der „geschäftsführende Ausschuß“ der Kapitalistenklasse dazu imstande, den Unternehmern Profiteinbußen aufzubürden, um die politische Stabilität des gesamten Systems zu wahren?

Analog bei Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich: Ist die Verhinderung der Arbeitszeitverkürzung Ausdruck der Weigerung einer Mehrheit von Beschäftigten, ihre Reallohnsumme zur Beschäftigung einer Minderheit von Arbeitslosen zur Disposition zu stellen? Oder fürchtet hier bloß der abgefeimte Unternehmerstaat, zukünftig „notwendige“ Reallohnsenkungen bei geschrumpfter Reallohnsumme schwerer durchsetzen zu können?

Wem stößt da nicht die uralte Diskussion auf: Kann man den Staat zur Transformation des Kapitalismus benützen? Etwa indem man durch beständiges Beschwören der politischen Stabilität den Unternehmern ihren Anteil am produzierten Wert, den Mehrwert, nach und nach wegnimmt, bis sie, fast ohne es zu bemerken, mit diesem verschwunden sind. Oder werden die Transformierer, ohne es zu bemerken, zur Erhaltung eben dieser Stabilität vom System selbst produziert? Gehorchend den tieferen Gesetzen dieser Produktionsweise, die bislang immer noch „hinter dem Rücken der Akteure“ walten.

Anders formuliert: Kann die Regierung ganze Klassen täuschen, wie im obigen Beispiel die Unternehmer, oder im klassischen Beispiel die Arbeiter, durch Inflationieren und Erzeugen von „Geldillusion“? (Der Illusion, man könne mit höheren Löhnen auch stets mehr kaufen.) Genau das, so könnte man argumentieren, war und ist der Ausgangspunkt der Allianz von Sozialdemokratie und Keynesianismus. Oder ist Wahrheit nach wie vor ein revolutionärer Begriff, der es bei weitem am besten erlaubt, Klasseninteressen durch bloßes möglichst wahrheitsgetreues Darstellen der Verhältnisse zum Durchbruch zu verhelfen? Dann stellt sich aber erst recht die Frage, woher die unbestreitbare Macht der Ideologien kommt.

Der Fragenkomplex Staat und Ideologie ist Brachland, insbesondere in der Ökonomie. Allenfalls das zunehmende Einbeziehen von Erwartungsprozessen könnte als ein Schritt zur Erforschung von Informationsproduktion gedeutet werden. Modelliert man, wie gewisse Erwartungen über gewisse Schlüsselvariable, etwa das Preisniveau, gebildet werden, und wie diese Erwartungen das Handeln der Akteure beeinflussen, so ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur Modellierung der Entstehung dieser Erwartungsbildungsprozesse. Insoweit nun einzelne Akteure Kenntnis der entsprechenden Prozesse besitzen, kann es ihnen möglich sein, diese Kenntnisse auszunützen, gegebenenfalls durch Informationsproduktion.

2) Eignung der Methode

Das zweite Problem ist die Methode. Großmeister Marx hat es zwar brillant verstanden, mit seiner Sprache eine Ahnung davon zu vermitteln, was Dialektik sei; und Ästheten wie Adorno haben später prozessierende Widersprüche wie Zirkusnummern in Sätze verpackt — einzig die mathematische Ökonomie hat es nie geschafft, über Gleichgewichtsmodelle hinauszukommen. Auch wenn verschiedene Ansätze das beanspruchen: Sogenannte Ungleichgewichtsmodelle (Gleichgewicht mit Mengenrationierung)‚ strategisches Spiel oder Katastrophentheorie — es sind stets nur die Zustände von Interesse, bei denen gewisse Anpassungsprozesse abgeschlossen sind. Es besteht der Verdacht, daß dies einer entlang der Physik entwickelten Mathematik eigen ist, doch ist jede Aussage über eine mögliche Weiterentwicklung das befruchtende andere Disziplinen, wie die politische Ökonomie, reine Spekulation. Mehr kann dazu im Moment nicht gesagt werden.

Eine präzise Beschreibung der langfristigen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise wirft, das sollte gezeigt werden, mehr Probleme auf, als sie derzeit lösen kann. Nichtsdestotrotz sind Hypothesen zu postulieren, um die notwendige Verbindung von Theorie und Praxis herzustellen. Sie werden umso besser sein, je mehr man sich der involvierten Probleme bewußt wird.

Sei nun aber die langfristige Perspektive postuliert, so stellt sich die Frage, was mittelfristige Analysen zu leisten haben. Für ökonomische Gleichgewichtsmodelle scheint die Antwort evident. Sie hat zu untersuchen, welche und wie mittelfristig wirkende dynamische Anpassungsprozesse den Gleichgewichtszustand zu produzieren imstande sind. Es ist dieser kausale Zusammenhang, in dem P. Samuelson’s berühmtes Korrespondenzprinzip für die jedem statischen Modell eingeschriebene Dynamik, (Samuelson, 1947) Sinn macht.

  • So wäre etwa den Hypothesen über langfristige Entwicklungen eine branchenweit einheitlichen Profitrate eine Theorie mittelfristiger dynamischer Anpassungsprozesse unterschiedlichen Profitraten implizit, etwa mittels Kapitalmobilität (ein Beispiel dafür gibt Nikaido, 1983).
  • Ähnlich müßte für die Hypothese langfristig fallender einheitlicher Wochenarbeitszeit ein mittelfristig wirkender Mechanismus angegeben werden, der es überhaupt erst erlaubt, in der langfristigen Betrachtung eine solche Einheitlichkeit anzunehmen.
  • Ein drittes, für die Theorie der Arbeitszeitverkürzung relevantes Beispiel wäre der technische Fortschritt. Gesucht wäre, warum und von wem produktiver produziert wird, sodaß langfristig weltweiter kontinuierlicher Produktivitätszuwachs postuliert werden kann.

Kapitalismus ist Weltkapitalismus

Wird versucht, über den Gleichgewichtsansatz hinauszukommen, so verlagert sich die Fragestellung grundlegend. Vorstellbar wäre zum Beispiel, eine postulierte langfristige Entwicklung des Grundwiderspruches zwischen Lohnarbeit und Kapital an die Dynamik gewisser Stadien des Kapitalismus zu binden. Die Entwicklung der für ein Stadium charakteristischen mittelfristigen Widersprüche (wobei unter „mittelfristig“ in diesem Zusammenhang etwas längere Zeiträume von 30 bis 50 Jahren zu verstehen wären) hätten erst zu erklären, wie jede an den Schnittstellen der Stadien erfolgte kurzfristige Sterilisierung des Grundwiderspruchs in der Folge zu dessen Vertiefung und Verallgemeinerung führt. Es sollte nicht verwundern, wenn eine entsprechend formulierte Theorie die unterschiedlichen Hypothesen zu Existenz langer Wellen der Konjunktur mit einer Stadientheorie der kapitalistischen Entwicklung kombinieren könnte, und so eine „mittelfristige“ Analyse ermöglichte, die den Erklärungswert der Gleichgewichtsmodelle übertrifft.

So wenig wie das „höchste Stadium des Kapitalismus“ 1916 erreicht war, so wenig auch dasjenige der ihm entsprechenden marxistischen Theorie. Gerade letzteres scheint besonders schwer mit den Muttermalen der alten Stadien zu kämpfen.

Beinahe überflüssig zu erwähnen, daß dort, wo es selbst verbal umschreibender Analyse an Konsistenz fehlt, die exakte mathematische Durchformulierung Zukunftsmusik bleibt. Und das ist wirklich zu bedauern, gäbe es doch auch im Zusammenhang mit Arbeitszeitverkürzung Wichtiges zu erhellen: Kapitalismus ist Weltkapitalismus, das pfeifen heute schon die Verkürzer vom Dach, die nur mehr im Gleichschritt marschieren wollen.

Wird aber die nationale Sache Arbeitszeitverkürzung zu einer internationalen Aktion der Industrieländer, so sind die Auswirkungen auf die Entwicklungsländer wohl wesentlich gravierender. Nicht umsonst starrt die Dritte Welt wie gebannt auf die Wachstumsrate des OECD-Raumes. Will man diese Wechselwirkungen beschreiben, so benötigt man eine Hypothese für Aufstieg und Fall der relativen Stabilität der weltweiten Produktionsweise seit dem Zweiten Weltkrieg.

Daß die internationale Entwicklung, scheinbar im Gegensatz zur nationalen Entwicklung der meisten Industrieländer, sehr gut ins Paradigma von der Entwicklung der Widersprüche paßt, dürfte inzwischen evident sein. Fast ebenso offensichtlich wie die Ignoranz, mit der sich „nationale“ Praktiker und Theoretiker über diese Tatsache oft hinwegsetzen. Was sie in diesem Zusammenhang einzig interessiert, ist, daß Österreich den Anschluß an die führenden Industrienationen nicht verliert. Wie dieser Mechanismus aber funktioniert, der ein Land bei genügend großem Entwicklungsrückstand ständig weiter retardiert, während er den Ländern mit etwas kleinerem Entwicklungsrückstand es ermöglicht, zur Spitze aufzuschließen, der also, kurz gesagt, die Länder dieser Welt polarisiert, das interessiert nicht.

Überlautes Geplänkel

Was bleibt nach all dem für die gebräuchlichste der volkswirtschaftiiche Analyseformen — der kurzfristigen? Bar jedes sinnstiftenden Horizonts kann sie ihr Augenmerk nur auf eines lenken: was werden die, denen es möglich ist, kurzfristig zu reagieren, als Antwort auf eine Arbeitszeitverkürzung tun?

Recht einfach ist das für die allmächtigen Tölpel im volkswirtschaftlichen Cabaret — die Konsumenten. Machtvoll wie der Kunde, der im Warenhaus König ist, werden sie einfach konsumieren, was sie abzüglich Sparens und Steuerzahlens verdienen. Wird ihr Einkommen via Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich gekürzt, so werden die bisher Beschäftigten den Unternehmern weniger abkaufen. Etwas schwieriger wird es schon bei den Unternehmern.

Aus der Vielzahl der möglichen Reaktionen seien einige herausgegriffen:

  1. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich erspart die ansonsten nötigen Kündigungen; der Unternehmer reagiert gar nicht.
  2. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich führt zunächst zu verschärfter Unterauslastung der Kapazitäten. Bei prekärer Absatzlage, siehe Konsumenten, wird der Unternehmer trachten, seine Kapazitäten bei gleichzeitigen Rationalisierungsmaßnahmen an den geringeren Arbeitseinsatz anzupassen — neue Arbeitskräfte werden nicht eingestellt. Die zusätzliche Investitionsnachfrage für Rationalisierung kann expansive Effekte (im Inland?) haben.
  3. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich kann bei Unternehmern, die den in b) beschriebenen Anpassungsprozeß finanziell nicht verkraften und die über eine entsprechend ungünstige Fixkostenkonstellation verfügen, zum Konkurs und zum Verlust aller Arbeitsplätze führen. Das gilt aber insbesondere für Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich:
  4. Konkursgefahr der am Betriebsminimum produzierenden Firmen, wenn weder Anpassung durch Einstellung neuer Arbeiter noch Rationalisierung möglich ist.
  5. Überlebende Firmen können Marktanteile gewinnen, die nötige Adaptierung, auch durch die Einstellung neuer Arbeiter, durchführen, und die erhöhten Kosten auf die Preise überwälzen. Investitionsnachfrage für Rationalisierung erzeugt zusätzliche Impulse (im Inland?).
  6. Große profitable Unternehmen könnten neue Arbeitskräfte einstellen, ohne den Kostenschub an die Preise weiterzugeben, um in dem offensichtlich verschärften Kampf um gorße Marktanteile eine monopolähnliche Position zu erlangen. Gelingt dies, so könnten später die Preise wieder erhöht werden.

Bereits diese kurze Auswahl möglicher Reaktionen zeigt, daß bei entsprechender Gewichtung der empirischen Relevanz unterschiedlichste Nettoeffekte argumentierbar sind.

Es hat, so noch einmal die zentrale These, das überlaute Geplänkel um die kurzfristigen Beschäftigungseffekte einer Arbeitszeitverkürzung zu einer Polarisierung zwischen Verfechtern und Gegnern dieser Maßnahme geführt, die quer durch alle politischen Lager geht. Nicht zuletzt diese Tatsache ist ein Zeichen für die Oberflächlichkeit der kurzen Sicht. Das Plädoyer für eine langfristige, geschlossene Betrachungsweise und für deren wesentliche Komponenten, kann eine solche aber nicht ersetzen.

  • Morishima M., 19731 Marx’s Economics. Harvard University Press.
  • Morishima M., 1978: Value Eploitation and Growth. McGraw Hill.
  • Nikaido H., 1983: Marx on Competition. Zeitschrift für Nationalökonomie Vol 43, Nr. 4.
  • Roemer J .E.‚ 1981: Analytical Foundations of Marxian Economic Theory. Cambridge University Press.
  • Roemer J .E. , 1982: A General Theory of Exploitation and Class. Harvard University Press.
  • Samuelson P.A.‚ 1947: Foundations of Economic Analysis. Harvard University Press.

[1Die Weite und Tragfähigkeit des Versuchs, die Marx’sche Analyse mit kontemporären formalen Methoden zu rekonstruiren und weiterzuentwickeln (vgl. etwa Roemer 1981, 1982), ist durch die seit Mitte der 70er Jahre beständig anschwellende Flut neuer Diskussionsbeiträge inzwischen evident; auch wenn diese gerade erst einsetzende neue Welle marxistischer Theoriebildung noch weit davon entfernt ist, ein neues, geschlossenes, in gewissen Grundzügen kanonisiertes System‚ zu produzieren.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)