Streifzüge, Heft 71
Januar
2018

Arbeit, was sonst?

Marie Jahoda, Wie viel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim Basel: Beltz Verlag 1983

Insgesamt benennt Marie Jahoda sechs Funktionen der Erwerbsarbeit. Die manifeste Funktion zum einen ist der Gelderwerb; diese sei jedoch für das Leid in der Situation der Arbeitslosigkeit nicht besonders ausschlaggebend. Sie schreibt, „dass Menschen selbst dann arbeiten wollen, wenn keine ökonomische Notwendigkeit besteht“. Die fünf latenten Funktionen zum anderen sind psychische: Zeitstruktur, soziale Kontakte, kollektive Ziele, Status/Identität und regelmäßige Beschäftigung. Sie alle repräsentieren Bedürfnisse. Für Jahoda bedeutet das im Umkehrschluss, dass Bedürfnisse bei Arbeitslosigkeit unbefriedigt bleiben und deswegen Menschen darunter leiden bzw. dass sich Erwerbslose in allen fünf Aspekten „psychisch verarmt“ fühlen. Deshalb nennt sie ihre Theorie die der psychischen Deprivation (Entzug, Raub).

Nun könnte ja angenommen werden, dass eine Person die fünf latenten Funktionen beispielsweise im ehrenamtlichen Engagement befriedigen könnte. Nein, glaubt Jahoda, es muss mit der Arbeit der Lebensunterhalt verdient werden. Dies sei der „Zwangsaspekt der Erwerbstätigkeit“. Ohne Zwang komme es nicht zu diesen fünf „notwendigen Erfahrungen“. D.h. selbst wenn Personen „zu den Glücklichen gehören, die über private Mittel verfügen“, oder wenn bspw. Frauen arbeiten „ohne damit den Lebensunterhalt verdienen zu wollen“ oder Personen „es sich leisten können, von den öffentlichen Unterstützungsleistungen zu leben“: ihnen allen geht es nach Jahodas Beobachtungen psychisch schlecht. Die latenten Funktionen können als angenehm oder als unangenehm erfahren werden, erklärt Jahoda, die Hauptsache ist, dass sie vorhanden sind und Menschen nicht von ihnen „depriviert“ werden.

„Was die Erwerbslosen am meisten wollen, ist ein Arbeitsplatz, nicht jedoch eine Revolution“, schreibt die Autorin. Jahoda und alle die in ihrer Tradition stehen, denken die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen affirmativ. Sie sieht zwar, dass Bedürfnisse auch ohne die Institution Erwerbsarbeit befriedigt werden könnten, kann sich dies jedoch nur als rückschrittliche, „primitivere“ Vergesellschaftung vorstellen. So blieb die Reformerin Jahoda dem alten kapitalistischen Grundsatz treu: „Jeder muss von seiner Arbeit leben können (…). Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt (…)“ (Johann Gottlieb Fichte, 1797).

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