Heft 4-5/2003
August
2003

Auf den Kopf gestellt

Zur Wahrnehmung des Nachkriegsirak in Europa

Liest man die Schriften anttiimperialistischer Gruppen aller Couleur zum Irak, so fühlt man sich zurückerinnert an den Wahn, mit dem christliche Sekten Schallplatten der Beatles oder der Rolling Stones rückwärts abspielten, um einer geheimen Botschaft auf die Spur zu kommen. In etwa gleichermaßen stellt sich das Verhältnis dieser Schriften zur Realität im Lande selbst dar, als auf den Kopf gestelltes Abbild gewissermaßen, das nur verständlich ist, nimmt man von allem, was hier apostrophiert wird, das genaue Gegenteil an. Jene, die seit Jahren erklären, es ginge ihnen einzig um das Wohl des „irakischen Volkes“, weshalb sie entgegen allen aus dem Lande vorliegenden Informationen und dem gesunden Menschenverstand zum Trotz nicht die Diktatur Saddam Husseins zu bekämpfen erklärten, sondern die jeweilige US-Adminstration, stehen spätestens seit dem 9. April vor einem Dilemma. Ganz offensichtlich nämlich begrüßten die Irakis mehrheitlich amerikanische Truppen als Befreier und votieren auch Monate später Umfragen zufolge mit absoluter Mehrheit für einen weiteren, wenn auch temporären Verbleib dieser Truppen in ihrem Land. Schlimmer noch, der sogenannte US-Imperialismus, der in den vergangenen Monaten nicht nur von einer deutschen Justizministerin in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt wurde, machte sich als Besatzungsmacht im Irak keineswegs daran, eine neue Diktatur zu errichten, wie auch einige irakische Exilintellektuelle im Vorfeld gefürchtet hatten. Kanan Makiya, Autor des Buches „Republic of Fear“ etwa hatte gewarnt, Teile des US-Establishments planten mit Hilfe der alten Eliten einen „Ba’thismus ohne Saddam“ zu errichten und sowohl Armee als auch Geheimdienste, die Hauptinstrumente des baathistischen Terrorapparates, mehr oder weniger intakt zu lassen, um nur die Führungsspitze auszutauschen. Es geschah das Gegenteil. Anstatt alte Eliten und ihre Apparate zu absorbieren, wurde die Ba’thpartei verboten, Armee und Geheimdienste aufgelöst.

Der amerikanische Übergangsverwalter Paul Bremer unternahm den entscheidenden Schritt, den die irakischen Revolutionäre und Putschisten der letzten siebzig Jahre zu gehen niemals gewagt hatten – den angekündigten umfassenden Neuanfang des Landes ohne die Maxime der Bewahrung überkommender Staatsapparate und -eliten zu unternehmen. Ein Schritt, den der irakisch-kurdische Autor Kamal Mirawdeli zu Recht als revolutionär bezeichnete: Erstmalig sei in der modernen Geschichte des Nahen Ostens ein alter Herrschaftsapparat legal aufgelöst worden, anstatt, wie selbst noch nach der iranischen Revolution, diesen zu kooptieren. Eine Entscheidung, die ersten freien Meinungsumfragen im Irak zufolge, auf eine überwältigende Zustimmung der Bevölkerung stieß. Die allerorten geäußerte Kritik an der amerikanischen Verwaltung richtet sich entsprechend vor allem gegen die als zu liberal empfundene Politik gegenüber den Ba’thfunktionären von einst, die vorerst nicht verhaftet wurden und deren Tribunalisierung von der US-Verwaltung als Aufgabe eines künftigen irakischen Staates verstanden wird. Die Anhänger des alten Regimes spüren, dass für sie kein Platz in einem neuen Irak sein wird. Folgerichtig haben sie mit konterrevolutionären Attacken auf Koalitionstruppen und Irakis begonnen, die für die USA arbeiten. Nur eine weitgehende und schnelle Destabilisierung des Landes und der militante Versuch, die Wiederherstellung der Infrastruktur zu zerstören, bietet ihnen noch eine letzte Chance. Unterstützt werden diese Aktionen von arabischen Freiwilligen und sunnitisch-islamitischen Gruppierungen, die schon unter Saddam Hussein legal operieren konnten und nun aus Saudi Arabien Unterstützung erhalten.

Das Dilemma für die Kritiker des Krieges, die sich auf die Suche nach den „wahren“ Motiven für den Waffengang spezialisiert haben, besteht darin, dass es die USA mit ihrem Plan, den Irak in eine „Musterdemokratie“ des Nahen Ostens zu verwandeln, ganz offenbar ernst meinen. Dass es dagegen den deutschen und anderen Antiimperialisten keineswegs um eine Demokratisierung des Irak geht, bewiesen sie nach dem 9. April. Um der Attitüde, auf der Seite des irakischen Volkes zu stehen treu bleiben zu können, musste ein anderes „Volk“ her, am besten eines, das sich in einem Kampf von verzweifelter Aussichtslosigkeit befindet, ein Zustand, der dem antiimperialistischen Empfinden hier am nächsten kommt. Im ersten Schritt mussten dazu die Irakis von der Masse des kämpfenden „Volkes“ ausgeschlossen werden. Die Grüne Vizepräsidentin des deutschen Bundestages, Antje Vollmer, einst Unterstützerin des ewigen Kim Il-Sung und heute staatlich alimentierte Armutsprophetin, hatte für die Menschen, die sich in Bagdad und anderen irakischen Städten über die Befreiung freuten, nichts als Zorn und Spott über. „Jubeliraker“, so Vollmer, seien durch die Straßen gezogen, von den USA „gestützte Straßengangs“, und Le Monde Diplomatique, intellektuelles Flaggschiff der Antiglobalisierungsbewegung, erklärte, die wirklichen Irakis wollten gar keine Demokratie. Dort breitete Ignacio Ramonet aus, was als Programm der neuen antiamerikanischen Bewegung nach dem 9. April bezeichnet werden kann: "Der Neoimperialismus der Vereinigten Staaten knüpft an die altrömische Auffassung an, die mehr oder weniger als minderwertig betrachteten Völker bedürften moralischer Anleitung, militärischer Zucht und medialer Vormundschaft - natürlich auf den Grundlagen von Freihandel, Globalisierung und westlicher Kultur. Nach dem Sturz der schrecklichen Diktatur versprach Washington im Irak eine exemplarische Demokratie zu errichten, deren Ausstrahlung den Fall aller diktatorischen Regime der Region nach sich ziehen werde. Wozu auch die Diktaturen in Ägypten und Saudi-Arabien zählen, wie der ehemalige CIA-Direktor und Bush-Vertraute James Woolsey versicherte.

Bild: Fotosammlung DÖW

Ist dieses Versprechen glaubwürdig? Offenkundig nicht. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld beeilte sich denn auch mit der Auskunft, Washington werde ein islamisches Regime im Irak nicht anerkennen, selbst wenn es den Wunsch der Mehrheit im Irak und das Ergebnis eines Urnengangs widerspiegele.„In den Redaktionsstuben und Parlamenten Europas wusste man schon immer, was die gedemütigte arabische Seele will und auf der Straße in Massenaufmärschen fordert: Selbstbestimmung, die sich in der Verteidigung des heiligen islamisch/arabischen Bodens gegen fremde Aggressoren und Scharia ausdrücke. Dass die Irakis seit langem, wie der Rest der viel beschworenen arabischen Straße übrigens auch, diesem Bild nicht entsprechen, muss deshalb zwingend ignoriert werden. Würden die“arabischen Massen„nicht mehr Wunschvorstellung und Schreckbild zugleich abgeben, ließe sich vermittels ihrer nicht mehr mit Antisemitismus, Tugendterror und selbstaufopferndem Kampf drohen, kein Mensch nähme sich ihrer an. So kommt es, dass der panarabische Fernsehsender Al-Jazeera sich noch wundert, warum der schiitische Klerus im Irak keine Fatwa zur Bekämpfung der Amerikaner erlässt, während man bei der deutschen Hilfsorganisation medico international schon längst weiter ist:“Zehntausende von Irakern, viele von ihnen Angehörige der schiitischen Mehrheit, sind in Bewegung.„, weiß Geschäftsführer Thomas Gebauer. Und Bewegung, so unkt es aus dem bewegungslinks geschulten Entwicklungsverein, bedeutet Gefahr. Die Forderung nach einem“sofortigen Rückzug der US-Streitkräfte" werde täglich lauter. In seiner Ambivalenz, selbst über Monate gegen die US-Präsenz im Irak mobil zu machen und dann den herbeifaszinierten Antiamerikanismus der Irakis als Gefahr zu brandmarken, gleicht Gebauer einem vereinsamten Kind, das sich das fehlende Gegenüber als unsichtbaren Freund erfindet, um ihn dann für alle selbst erfahrenen Misslichkeiten verantwortlich zu machen.

Da er sich nur jenem offenbart, der an ihn glaubt, muss der irakische Volkswillen allgemein gültig gedeutet und interpretiert werden. Die von Amerika importierte Demokratie wird zur wahren Diktatur, lautet die naheliegende Variante, wo sie den qua kultureller Determination festgeschriebenen Willen der Araber zum Islamismus ignoriert. Denn „Demokratie“ – das wissen die Deutschen aus eigener Erfahrung nur zu gut – „gründet sich nicht auf Bomben und militärischer Besetzung“, erklärt Gebauer weiter. Was damit gemeint ist deutete Horst Eberhard Richter auf dem diesjährigen Kongress der „Ärzte in sozialer Verantwortung“ aus: Wenn den Amerikanern „durch den Sieg über Hitler gelungen ist, Europa zu amerikanisieren, warum sollte (ihnen) nach der Niederwerfung Saddam Husseins in der dortigen Region nicht das Gleiche gelingen?“ Amerikanisierung nämlich ist das Gegenteil von Demokratie, die Gebauer zufolge von der „Partizipation der Menschen und der Stärke des Rechts lebt.“ Amerikanische Demokratie aber fußt, wie der Bundeskanzler kurz vor Kriegsausbruch noch erklärte, auf dem „Recht des Stärkeren“.

Folgerichtig verteidigen die Überreste des alten Regimes nicht nur „den heiligen Boden des Irak gegen die ungläubigen Invasoren“ (Saddam Hussein), sondern auch jene autochthone Schattenwelt des erfundenen irakischen Volkes, die der „Amerikanisierung“ durch Demokratisierung entgegensteht. Ein antiimperialistsiches Sommercamp richtet folgendes Forum ein: „Gegen die imperialistische Besatzung; Ein irakischer Fedayin erzählt.“ Vielleicht erläutert er, warum „die Bilder, auf denen (in Bagdad) fremde Soldaten als Befreier zu sehen waren, (…) regelrecht inszeniert“ werden mussten (Gebauer)?„Zeitgleich schlägt die deutsche Friedensbewegung vor, im Irak keine humanitäre Hilfe zu leisten, eine Forderung, die den Fedayin durchaus in die Hände spielt, setzen diese doch mit Anschlägen und Sabotageakten darauf, Elektrizitätswerke und andere Versorgungseinrichtungen zu zerstören, um die Bevölkerung in einem Elend zu halten, das den für die Aufrechterhaltung der Versorgung nunmehr verantwortlichen amerikanischen Truppen zu einem immer schwieriger zu bekämpfenden Feind wird. Peter Strutzynski, Sprecher der Bundeskoordination Friedensratschlag, fordert deshalb, dem faschistischen Untergrund die Waffe Armut nicht zu nehmen, sondern die Bevölkerung das volle Elend des von Ba’thisten, Fedayin und arabischen Freiwilligen angerichteten Terrors auskosten zu lassen:“Wir können nicht einfach zur Tagesordnung des „Aufräumens“ und der humanitären Hilfe für die geschundene Bevölkerung übergehen, solange die Invasoren das Land besetzt halten und mit anderen Mächten um die Verteilung der „Kriegsbeute“ schachern„. Das in Anschlag gebrachte Verb“schachern„zielt genau: Es trifft die zentrale Angst der europäischen Kriegsgegner, hier könnte außer Zerstörung jemand etwas aufbauen. Eine der letzten vom fetischisierten Bösen“Weltmarkt„abgeschirmte Insel autochthoner Barbarei wird verteidigt, Saddam Hussein soll zurückkehren oder sich das Land in eine islamistische Diktatur verwandeln, dann ruft die deutsche Friedensbewegung zu Spenden für die Kriegsopfer auf. Humaner ist da selbst Jörg Haider, der kürzlich mit einer“Pace„Fahne ein paar Kilometer medienwirksam joggte, um auf diese Art Geld für“Kriegsverletzte Kinder" zu sammeln.

Wie human erscheinen da die Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht. Kürzlich gab Jay Garner ein längeres Interview, in dem er die Fähigkeiten der Irakis zur Selbstverwaltung lobte. Er liebe es, den seit 1991 befreiten Nordirak zu besuchen, wo die Menschen meist in westlicher Kleidung herumliefen und begonnen hätten, sich demokratisch zu verwalten, ohne dass ihnen von Außen namhafte Hilfe zugekommen wäre. Man müsse, erklärte Garner, nicht viel tun, um den ganzen Nahen Osten zu revolutionieren, nur den Irakis die Möglichkeit geben, ihr Land zu entwickeln. Er habe ein tiefes Vertrauen in die Menschen im Irak, in wenigen Jahren erkenne man das Land nicht mehr wieder: „In two years, it will be amazing. In five years, it will be an entirely different country. What the macro thing here is if we are successful, and we will be, we’re going to change the entire landscape of the Middle East — not by what we are going to do in the Middle East but by the example of what Iraq is going to become. Because you have a democratic government in Iraq, you have a good economy in Iraq and you got the money to rebuild things and you are electing your own from of government and if you don’t like them you can throw them out at the will of the people. That’s happening in Iraq and you’re sitting in Iran and seeing that, you’re sitting in Syria and seeing that, in Saudi Arabia, Egypt looking at that: that’s going to change the whole landscape. Not by us doing anything to these other countries but by us taking care of this one country.“

Abgesehen von dem Talent, das neokonservative Programm in wenigen einleuchtenden Sätzen formuliert zu haben, gelingt es Garner all jene Völkerfreunde und Europäer als das dastehen zu lassen, was sie sind: Freunde der bisherigen antisemitischen, islamistischen und panarabischen Herrschaft.

In den letzten Monaten spürte jeder, dass Irakis im Exil einen gewissen Optimismus verstrahlten, den Politiker der republikanischen Partei im Gegensatz zur liberalen Presse und den Demokraten im Senat teilten. Solange die USA im Irak gewillt sind, sich auch unter eigenen Verlusten der von Europa gestützten Konterrevolution entgegenzustellen, haben sie dazu auch allen Grund. Ehrliches Erstaunen herrscht derweil auch beim Spiegel, der sich in den vergangenen Monaten einen ähnlich antiamerikanischen Irak erfunden hat. In einer Kurzmeldung verlautet dort: „Ein neu gegründetes“Irakisches Zentrum für Forschung und strategische Studien„befragte 1100 Menschen in Bagdad und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die meisten Iraker wollen offenbar die Besatzung ihres Landes bis zur Bildung einer ständigen Regierung.“ Das „Iraq Institute for Democracy“ führte zeitgleich eine Umfrage durch, ob sich die Irakis einen säkularen Staat wünschten oder die Einführung der Scharia. 60% votierten für die strikte Trennung von Staat und Kirche, 20% für die Scharia, 20% hatten keine Meinung. „Die zunehmende Islamisierung wird es den USA immer schwerer machen“ meint dagegen Gebauer, „rasch ein Vasallenregime zu etablieren.“

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