Risse, Risse 1
Mai
2002

Bergier-Bericht – Warum der erwartete Aufschrei ausblieb

Der Bericht der Bergier-Kommission hat unerwartet wenig Echo gefunden. Der Skandal blieb aus, allgemeines Aufatmen ist festzustellen. Trotz der Brisanz der Resultate, niemand schreit auf.

«Zentrum für Analysen und prospektive Studien und historischer Dienst» nennt sich diejenige Abteilung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), welche sich seit dem 22. März 2002 um den düsteren Teil der Schweizer Geschichte kümmert, welcher auf den insgesamt 20`000 Buchseiten der verschiedenen Veröffentlichungen der UEK (Unabhängige Expertenkommission Schweiz – 2. Weltkrieg) zu einer öffentlich anerkannten Geschichtswahrheit geworden ist.

Wie düster diese Geschichte war, konnte der Bericht eindeutig belegen: die Rückweisung von zigtausenden von Flüchtlingen an der Grenze, die Zusammenarbeit mit nationalsozialistischen Grenzwächtern, die Mythologisierung autoritärer Führerfiguren in Gestalt des General Guisan, die wichtige Rolle der Schweiz und ihrer Banken als Finanzdrehscheibe für Hitlerdeutschland. Dazu Schweizer Firmen, die ihr Management in vorauseilendem Gehorsam «arisierten», Versicherungen und Banken, welche die Wertsachen der Naziopfer ihren Mördern ausliefern. Keine neuen Erkenntnisse, das meiste ist der historischen Forschung schon lange bekannt. Hier aber wird es zum ersten Mal staatlich abgesegnet.

Die Zuständigkeit des Aussenministeriums für die Schweizergeschichte ist verwunderlich. Könnte diese merkwürdige Kompetenzzuordnung damit zusammenhängen, dass vor allem das Ausland mit seinem Drängen nach Schweizer Geschichtsaufbearbeitung besänftigt werden musste?

Wenn man sich mit dem offiziellen Mandat der Kommission beschäftigt, liegt solch eine Interpretation nahe. Denn 1996 wurde die Kommission offiziell beauftragt, «die vom Ausland erhobenen Vorwürfe» an die Adresse der Schweiz abzuklären.
Dazu passt auch, wie gering die Wogen sind, die der Bericht wirft.
Neben den Vereinigungen der Aktivdienstgeneration und rechtsradikalen Zirkeln war es praktisch nur noch die SVP, welche sich mit dem Bericht gar nicht anfreunden konnte. Sie warf den AutorInnen des Berichts vor, zuwenig «verglichen» zu haben und nur auf die «negativen» Seiten eingegangen zu sein.
Die FDP hingegen war nach Bekanntgabe des Berichtes erleichtert, titelte sie doch ihre Presseerklärung mit «Experiment staatlicher Ge-schichtsschreibung zu Ende» und erging sich am Schluss weihevoll in Nichtssagendem. Auch die «Economiesuisse», deren Vorläuferorganisation «Vorort» eine frontistische Gründung war, und sonst meist sehr aggressiv Wirtschaftsinteressen verteidigt, schwieg vornehm.

Noch 1989, als das damalige Militärdepartement unter dem Namen «Diamant» den 50. Jahrestag des Kriegsausbruchs(!) feierte, wäre so etwas undenkbar gewesen.
Die Erleichterung darüber, das leidige Thema Nazikooperation abhaken zu können, war vielerorts spürbar.

Flüchtlingspolitik als Spielball

Man könnte die ganze Geschichte als Alibiübung abhaken. Doch greift man damit zu kurz. An einem Thema nämlich entzündete sich doch Streit, nämlich an der Flüchtlingspraxis. Waren es «bloss» 3’500 Menschen, die in den Tod geschickt wurden, oder waren es doch 40’000? Pikant ist, dass damit wieder ein Thema aufgegriffen wurde, das bereits mehrmals zum Objekt historischer Auseinandersetzung wurde. Schon 1956 hat sich der «Bericht Ludwig» damit auseinandergesetzt. In der Folgezeit wurde besagte Problematik immer wieder von der Öffentlichkeit aufgegriffen und diskutiert.

1995 entschuldigte sich der Bundesrat offiziell für die Schweizer Flüchtlingspolitik. Woher kommt es, dass genau dieses Thema die Debatte beherrscht? Weswegen wird in diesem Zusammenhang fast gebetsmühlenhaft darauf hingewiesen, dass auch der SIG (Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund) Mitverantwortung für die Schweizerische Flüchtlingspolitik trug, weil er angeblich ende der 30er Jahre die Grenzschliessung noch unterstützt hatte?

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen (wollen)

Zur Beantwortung dieser Fragen ist es nützlich sich vor Augen zu führen, was im Bericht nicht aufgeworfen wurde: Es existiert in Europa praktisch kein Land, in welchem Kriegs- und Nachkriegsära so nahtlos ineinander übergingen wie in der Schweiz. Die Beamten, die Wirtschaftsführer, die Politiker blieben vor und nach 1945 dieselben. Egal, ob sie eifrig vom Raub an jüdischem Eigentum profitierten oder als Beamter in aller Selbstverständlichkeit arische von nichtarische Deutschen schieden. Sogar Heinrich Rothmund, als Polizeichef mitverantwortlich für den berüchtigten «J» – Stempel, ging erst in den 60er Jahren aus Amt und Würden in Pension. Der militärisch-industrielle Komplex, der erst dank der «bewaffneten Neutralität» seine unheimliche Macht entwickeln konnte, schwang sich auch nach dem Krieg zu ungeahnter Stärke auf.

In der Schweiz stellte das Kriegsende keine Zäsur dar, alte Eliten wurden zu neuen Eliten. Dieselben Manager, die in vorauseilendem Gehorsam ihre jüdischen Geschäfts-partner gemobbt hatten, bauten auch die moderne Schweiz.

Ablenken von Strukturellem

Im offiziellen Diskurs der Schweiz ist es von eminenter Wichtigkeit, von einer strukturell verankerten Schuld abzulenken und auf eine individuelle hinzuweisen. Der Grenzbeamte aus dem Klettgau oder dem Jura tritt so ins Zentrum und nimmt die damaligen Eliten aus dem Blickfeld, welche letztlich die Verantwortung für diese Politik trugen. Man starrt auf die Grenze, um den Kern zu schützen. Die Reduitpolitik des 2. Weltkriegs, die Fixierung auf Abwehrreflexe, reproduziert sich so auch in dieser Debatte.

Aus diesem Grund auch das Gerede vom «Vergleich mit anderen Ländern» und die Angriffe gegen den Israelitischen Gemeindebund (SIG).
Durch den Rekurs auf die vermeintliche Rolle des SIG wird die historische Bürde auf verschiedene Schultern verteilt, durch den Vergleich mit dem Ausland wird die Eigenverantwortung verringert. Der Frage nach den Kontinuitäten der modernen Schweiz mit damals wird so aus dem Weg gegangen.

Abschied von der Neutralität

Wenigstens einen Mythos zerstört der Bericht, den der Netralität im 2. Weltkrieg. Es wird überzeugend nachgewiesen, dass Neutralität primär dann als Argument vorgeschoben wurde als es darum ging, die Geschäfte mit Hitlerdeutschland zu verteidigen. Beispielsweise als die Alliierten ein Ende der Waffenlieferungen an das «3. Reich» forderte oder man anderweitig mit Hitlerdeutschland kooperierte.

Geschichte fürs Expoland

Dass auch diese massiven Anwürfe auf die «bewaffnete Neutralität» (eine Erfindung der Nachkriegszeit) kaum kritisiert wurden, erstaunt den Historiker und Soziologen Matthias Kunz nicht.

Im Rahmen des Projekts «Geschichtsbild Schweiz» (www.geschichtsbildschweiz.ch) geht er der Frage nach, inwiefern ökonomische und politische Notwendigkeiten Einfluss auf die Herstellung von Geschichtsbildern nehmen können.
Gründe für den Paradigmenwechsel sieht Kunz in einer umfassenden Neuorientierung der schweizer Aussenpolitik, welche auf Mitarbeit und Mitgliedschaft in transnationalen Organisationen abzielt. «Das statische Bild der bewaffneten Neutralität stand einer neuen, insbesondere auf die EU ausgerichteten Politik im Weg. Die Schweiz hatte es bitter nötig, ein neues Geschichtsbild aufzubauen, das mit den neuen aussenpolitischen Leitlinien in Einklang stand. Ansonsten drohte Isolation nach aussen und Stag-nation nach innen».

Gemäss seiner Analyse war es nicht plötzlich auftauchendes Raubgold, das ausschlaggebend war, die alten Sichtweisen abzulegen, sondern die Krise der 90er Jahre. Was während des kalten Krieges Identität schuf, erwies sich nun plötzlich als Ballast.

Wenn sich der Bericht also politisch exponiert, schafft er nach innen die ideologische Voraussetzung für eine neue, auf Öffnung bedachte aussenpolitische Ausrichtung der Schweiz.

Geschichtspolitik = Innenpolitik

Aufgrund dieser Ausrichtung erstaunt der mangelnde Aufruhr von bürgerlicher Seite nicht. Vehemente Opposition gegen die Revision des Geschichtsbild deckt sich mit der Fundamentalopposition gegen die Öffnungspolitik, und diese Opposition beschränkt sich auf rechte Kräfte. Der auf Öffnung bedachte, neopatriotische Diskurs, der durch die Expo 02 sich selbst in Szene setzen möchte, muss zwangsläufig Teile der mythologisierten Schweizer Vergangenheit zerstören.

Und links?

Ungeachtet dessen, wie viele dunkle Seiten der Schweizer Geschichte aufgedeckt werden, der Linken scheint es egal zu sein.

Selten wurden direkte Konsequenzen aus dem Bericht gefordert. Und wenn, dann stammten solche Forderungen meistens von Jüdinnen und Juden.

Die Journalistin Gisela Blau beispielsweise forderte in der jüdischen Zeitschrift «tachles» den Bundesrat dazu auf, sich nicht nur – wie 1995 geschehen – für die schweizer Flüchtlingspolitik, sondern auch für die antijüdischen Ausfälle von Bürokratie und Regierung zu entschuldigen.

Die SP bedauerte in ihrem Mediencommunique zwar, dass die abgewiesen Flüchtlingen bzw. deren Hinterbliebene bis heute nicht entschädigt wurden. Auf die Forderung aber, dies nachzuholen, verzichtete sie.

Keine linke Zeitung, keine linke Organisation nahm die Forderung nach Entschädigung der Opfer bzw. deren Angehörigen auf und richtete sie an Regierung und Wirtschaft.

Wie schon im Laufe der 90er Jahre, als die ausserparlamentarische Linke die Diskussion praktisch verschlief, verpasst sie es auch heute, sich mit progressiven Inhalten in die Diskussion einzumischen.

Weder wird innerhalb der Debatte zur Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg der Antisemitismus thematisiert, noch wird um das Bild der Vergangenheit gestritten.

Auch können Blocher und Konsorten ungestört die «Solidaritätsstiftung» mit einer reaktionären Rhetorik angreifen, ohne dass massive Proteste laut werden.

Mit dem Bergier-Bericht ist für die gesamte Linke die möglicherweise letzte Chance gegeben, sich von der Ignoranz und dem Desinteresse bezüglich dieses Themas zu befreien. Hoffen wir, dass diese Gelegenheit ergriffen wird.

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