radiX, Texte
 
1996

Biozentrismus und Euthanasie

„Animal Liberation“ von Peter Singer

Die Tiefenökologie versteht sich als „Widerstandsbewegung, die sich gegen alle manipulativen Sichtweisen auf Natur als Umwelt richtet.“ Im Unterschied zu anderen Ökologiebewegungen ist „die Erde als ganzes und als lebendiges System“ der Bezugspunkt. [1] Als New AgerInnen glauben die TiefenökologInnen, daß die Erde ein beseeltes Lebewesen ist und personifizieren sie mit dem Namen Gaia aus der griechischen Mythologie. Mit der Esoterikszene, den Neuheiden und ÖkofaschistInnen verbindet die bioregionalistische und tiefenökologische Szene ein sogenanntes biozentrisches Weltbild. In dessen Mittelpunkt steht eine vergöttlichte Natur, aus der ewige Naturgesetze abgeleitet werden, nach denen sich der Menschen zu richten hat.

Während die Tiefenökologie nach Capra „spirituelles oder religiöses Bewußtsein“ [2] beinhaltet, wird der übrigen Ökologiebewegung vorgeworfen, vom Menschen aus zu denken. Biorgeionalismus und Tiefenökologie diffamieren dies mit dem Kampfbegriff Anthropozentrismus.

Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte 1975 der Euthanasie-Befürworter Peter Singer mit seinem Buch „Animal Liberation“. Singer radikalisiert die Idee des Tierschutzes in Richtung auf Tierrechte, propagiert eine vegane Lebensweise und reißt die Grenze zwischen Mensch und Tier ein. Der US-Tiefenökologe Michael Zimmerman lobt, der Eugeniker habe das Thema Tierrechte salonfähig gemacht. „Das war der Hebel, mit dem die Tür des Anthropozentrismus aufgebrochen worden ist. (...) Jetzt kann die Tiefenökologie den Anthropozentrismus direkter angreifen.“ [3]

Bereits in „Animal Liberation“ befürwortet Singer Euthanasie und Menschenversuche und zwar in den ersten Kapiteln, noch bevor er sich eingehend mit der Situation von Tieren befaßt. Sein Buch „Praktische Ethik“ ist insofern nur eine ausformulierte Variation mit anderen Schwerpunkten als Beispielen, die auf die ökonomischen Interessen des Gentechnikkapitals hinweisen. Singer suggeriert grausame wissenschaftliche Experimente und Tötungen und zeichnet geistig Behinderte, vor allem Säuglinge, als Negativfiguren. Die Weigerung, sie anstelle von Tieren zu töten, gilt als Beleg für Speziesismus, den er wiederum mit Rassismus gleichsetzt. [4] Seine zentrale These heißt:: Die Zugehörigkeit zur menschlichen Art ist „kein moralisch relevantes Kriterium“ für ein Recht zu leben. [5]

Der Bioethiker stützt sich auf den Utilitarismus Jeremy Benthams (1748-1832), dessen Nützlichkeitsphilosophie das größtmögliche Maß an Zufriedenheit für die maximale Zahl von Personen anstrebt. Bei einem Abwägen kann das allgemeine Ziel unter Umständen auf dem Unglück einzelner Individuuen basieren, was mit dem Konzept der Ganzheitlichkeit oder Systemtheorie der TiefenökologInnen vereinbar ist, wo sich einzelne der Ganzheit oder der Selbsterhaltung des Systems unterzuordnen haben.

Die Tierrechts-Idee gründet Singer scheinbar auf einem speziellen Gleichheitsbegriff, in Wahrheit meint er das Gegenteil. Er geht von meßbaren Unterschieden zwischen Rassen und Geschlechtern aus und hält offen, was angeboren, was sozialisationsbedingt ist. Das Kriterium für Gleichheit ist analog zu Bentham „die Fähigkeit zu leiden“, Leid, Freude und Glück zu empfinden. Sie sind Voraussetzung dafür „überhaupt Interessen zu haben“, im Gegensatz etwa zu einem Stein. Bezogen auf Tiere ist Schmerzempfingung gemeint. Die Grundregel lautet, daß die Interessen jedes schmerzempfindenden Wesens gleiches Gewicht haben. Speziesismus bedeutet in diesem Zusammenhang, die Interessen der Wesen einer anderen Spezies zu vernachlässigen zum Vorteil der eigenen. [6]

So kann Singer behaupten, es gebe keine „bedeutsame Unterschiede zwischen normalen erwachsenen Menschen und anderen Tieren. Ich sage nicht, daß Tiere fähig sind moralisch zu handeln, sondern daß das moralische Prinzip der gleichen Berücksichtigung der Interessen für sie ebenso gilt wie für den Menschen.“ [7] Er verwirft die egalitäre Idee der inneren Würde aller menschlichen Wesen. Statt dies zu begründen, appelliert der Euthanasie-Propagandist an das gesunde Volksempfinden und behauptet, die Idee der menschlichen Gleichheit breche zusammen, wenn sie mit dem Gedanken konfrontiert werde, daß alle Menschen, „einschließlich Säuglinge, Schwachsinnige, kriminelle Psychopathen, Hitler, Stalin und alle anderen — eine Art von Würde oder Wert haben sollten, den kein Elefant, Schwein oder Schimpanse je erreichen kann.“ Daraus folgert er, „daß es einige Menschen gibt, die ganz eindeutig unterhalb des Niveaus von Bewußtsein, Selbstbewußtheit, Intelligenz und Empfindungsfähigkeit vieler nichtmenschlicher Lebewesen stehen. Ich denke hier an Menschen mit schweren und irreparablen Hirnschäden und auch menschliche Säuglinge.“ [8]

Wer noch behauptet, es sei „in keiner Weise nachvollziehbar, wie sich sein Wandel von einem Fürsprecher der Tiere zu einem Fürsprecher der der Gen- und Reprotechnik erklären läßt“, kennt entweder „Animal Liberation“ nicht oder will das Publikum für dumm verkaufen. Dem Verfasser jener Zeilen, die 1993 in der Berliner „Catweasel“ zu lesen und im „Tierbefreier aktuell“ 1994 nachgedruckt wurden, darf letzteres unterstellt werden. Weiter heißt es nämlich, die „Frage, ob es moralisch vertretbar sei, Lebewesen in bestimmten Situationen ein qualfreies Sterben zu ermöglichen“ dürfe nicht „mit der Begründung verhindert (werden), daß jeder Gedanke daran unweigerlich zu einer Vernichtung von behindertem Leben führt.“ Eine Frage stellen, heißt in diesem Fall, sie beantworten: „Sollte trotzdem in jedem Fall (z.B. auf ausdrücklichen Wunsch) verzichtet werden?“ Das wäre „Bevormundung von gesunden Menschen über sogenannte Kranke.“ Der Ruf nach einer „vorurteilsfreien Debatte“, entspricht der bekannten Taktik der EuthanasiebefürworterInnen, die Legalisierung des Mordes an Alten, Kranken und Behinderten im ersten Schritt diskussionsfähig zu machen, neudeutsch ein Tabu zu brechen. [9] Wie herzerfrischend offen nimmt sich doch das unzweideutigte Bekenntnis der Zeitschrift EMMA zum Singerschen Mordprogrammes aus! [10]

In der „Praktischen Ethik“ konstruiert Singer eine Hierarchie des Lebenswerten und Lebensunwerten anhand der Kriterien Rationalität und Bewußtsein. [11] Er differenziert zwischen den Angehörigen einer Spezies und intelligenten, selbstbewußten, vernünftigen Personen. [12] Er selektiert in bewußte Wesen — dazu gehören Neugeborene, geistig Behinderte und viele Tiere — und selbstbewußte Wesen. [13] Die höchste Stufe des Lebens nehmen Personen ein, nicht-geistigbehinderte Menschen, große Menschenaffen, eventuell noch Wale und Delphine. Zur zweiten Kategorie der sogenannten bewußt lebenden Nicht-Personen zählen Säuglinge, manche geistig Behinderten, Föten, [14] Neugeborene und viele Tiere, die Lust und Schmerz empfinden können. Neugeborene haben ausdrücklich „nicht denselben Anspruch auf Leben wie Personen“, nicht einmal wie Tiere. [15] Denn ein Recht zu Leben hat laut Singer ein Individuum nur dann, wenn es eine Vorstellung von einer fortdauernden Existenz hat, was Säuglingen fehle. [16]

Nachdem moralische Skrupel beseitigt sind, plädiert der Bioethiker für freiwillige Euthanasie und nicht-freiwillige bei kranken und schwerbehinderten Säuglinge und Erwachsenen, die durch Alter, Krankheit oder Unfall die Fähigkeit zu entscheiden verloren haben. [17] Kindsmord ist eine Frage des ökonomischen Kalküls: „Sofern der Tod eines behinderten Säuglings zur Geburt eines anderen Säuglings mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird.“ [18] Singer empfiehlt, sich nicht vom Anblick Neugeborener beeindrucken lassen, dann „vermögen wir zu erkennen, daß sich die Gründe gegen das Töten von Personen nicht auf neugeborene Säuglinge anwenden lassen.“ [19] „Ein Neugeborenes ist nicht imstande, sich selbst als ein Wesen zu sehen, das eine Zukunft haben kann oder nicht, und daher kann es auch keinen Wunsch haben weiterzuleben.“ [20] Fazit: „... das Leben eines Neugeborenen hat für dieses weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen für das nichtmenschliche Tier.“ [21]

Vom konsequent systemtheoretischen und utilitaristischen Standpunkt aus kritisiert Singer den „biozentrischen Egalitarismus“ von Naess, Bill Devall und Sessions, den er als gleiches Recht zu leben für alle in der Biosphäre als Teil einer Ganzheit interpretiert. Ein Lebensrecht läßt Singer für jedes Individuum an sich nicht gelten, weil der einzelne nur einen Wert besitze für das Ganze oder weil er/sie die Existenz von Wesen mit Bewußtsein ermöglichen. [22] Allerdings handelt es sich weniger um einen Gegensatz zwischen Singer und den BioregionalistInnen, als um einen Widerspruch der Tiefenökologie, einerseits alle Wesen als beseelt und gleich wertvoll zu propagieren und andererseits wegen angeblicher Überbevölkerung in Vernichtungsphantasien zu verfallen.

Singer muß sich vom pantheistisch-esoterischen Aspekt der Tiefenökologie distanzieren, soll seine Bioethik im Sinn der Gen- und Reproduktionstechnologien funktionieren. Bioethik ist die Rechtfertigung der kapitalistischen Verwertbarkeit von Lebewesen, indem sie nach lebenswert/unwert selektiert. Bereits in „Animal Liberation“ formuliert Singer deshalb eine sogenannte „mittlere“, „pragmatische“ Position: Geistig Behinderte und Senile sind demnach weniger wert als die meisten Tiere. Tiere dürfen getötet werden, wenn sie damit von „hoffnungslosem Elend zu erlösen“ sind, und Menschen, die kein „sinnvolles Leben“ leben. [23]

Seine Verdienst für Tiefenökologie und Bioregionalismus bleibt indes, den rechten Kampfbegriff Anthropozentrismus durch den Speziesismus-Vorwurf gestärkt zu haben. Die Gleichsetzung von Menschen und Tieren bewirkt praktisch wenig zugunsten gequälter Tiere, aber die Hemmschwellen gegenüber der Selektion und Tötung von Menschen sinken, ganz im Sinne des Tierrechtlers Peter Singer. Die New AgerInnen folgern daraus, daß ihr Traum von der Wildnis Einwanderungsstop rechtfertigt und über Menschenvernichtung und Kindsmorde öffentlich zumindest gesprochen werden darf.

Erschienen in Ökolinx Nr. 23, 1996.

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[1zit. Franz Theo Gottwald, Zur Geschichte der Tiefenökologie, a.a.O., S.19

[2zit. Capra, Tiefenökologie — Eine neue Renaissance, 1991, in Gottwald/Klepsch, 1995, S.123ff., S.125

[3zit. Michael Zimmerman, Interview über Tiefenökologie, in: Gottwald/Klepsch, S.61ff., S.68

[4vgl. Peter Singer, Befreiung der Tiere, Eine neue Ethik zur Behandlung der Tiere, München, 1982, Hirthammer-Verlag, englische Ausgabe Animal Liberation, 1975, S.35 bis 39, ebenso S.91f., S.93

[5zit. ebd., S.39

[6vgl. ebd., S.23f., S.27

[7zit. ebd., S.251

[8zit. ebd., S.268

[9alle Zitate aus: Tierbefreiung aktuell, Nr.1/1994, nachgedruckter gekürzter Text aus „Catweasel“, Berlin 11.12.93

[10vgl. ÖkoLinX Nr.15/1994, Toni Menninger, Emma läuft Amok, S.17ff.

[11vgl. Peter Singer, Praktische Ethik, Cambridge, 1979, 2. revidierte und überarbeitete Neuauflage, Stuttgart, 1994, S.144

[12vgl. ebd., S.120

[13vgl. ebd., S.136

[14vgl. ebd. S.195f.

[15vgl. ebd., S.219

[16vgl. ebd., S.133

[17vgl. ebd., S.229ff.

[18zit. ebd., S.238

[19zit. ebd., S.221

[20zit. ebd., S.221

[21zit. ebd., S.219

[22vgl. ebd., S.355ff, besonders S.357

[23vgl. Singer, Die Befreiung der Tiere, S.40f.

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