Streifzüge, Heft 64
Juni
2015
Dead Men Working

Böses Erwachen

Angenommen, ich wäre vor genau 35 Jahren in einen Dornröschenschlaf gefallen. Damals im Frühsommer 1980, nachdem ich die – neben meinem Universitätsstudium besuchte – damals zweijährige Sozialakademie mit dem Diplom abgeschlossen hatte. In jener Zeit blühten nicht nur in der Sozialarbeit viele bunte, fröhliche, kritische Ideen und Initiativen, die im Zuge der 68er-Bewegung entstanden waren. Früchte davon waren zum Beispiel die Schließung der großen Kinderheime zugunsten von Wohngemeinschaften, große Veränderungen in der Psychiatrie oder die Entstehung von Gemeinwesenarbeit. In allen gesellschaftlichen Bereichen, von Universitäten und Schulen bis hin zu Gewerkschaften und Kirchen, sprossen kritische Kräfte. Auch genug undogmatische – also jenseits jener vermeintlich emanzipatorischen, die all die K(ommunistischen)-Grüppchen entwickelten. Bezüglich Arbeit war von radikaler Arbeitszeitverkürzung oder von selbstverwalteten Betrieben die Rede, die da und dort gegründet wurden. Es war damals aber gar nicht notwendig, ständig 40 Wochenstunden zu arbeiten, um ausreichend Lebensunterhalt zu verdienen. Wohnen und Lebensmittel waren weitaus kostengünstiger als heute. So blieb genug Zeit für Angenehmeres, das reichlich vorhanden war. Zum Beispiel auch eine ganze andere Art des Studierens. Eine jenseits von Verschulung, Zeit- und Anpassungsdruck.

Angenommen, mich hätte erst im 21. Jahrhundert ein Prinz wach geküsst, angesichts welcher Veränderungen würde ich mir besonders die Augen reiben? Außer über den digitalen Aufschwung und die zwischenmenschliche Abkühlung. Heute, wo die wirtschaftliche Produktivität durch die mikroelektronische Revolution um ein Vielfaches höher ist, sind die sozialen Probleme keineswegs gesunken, sondern stark gestiegen. Sogar in Österreich lebt schon ca. jeder Achte unter der Armutsgrenze. Ist das nicht unlogisch? Die Befreiung von Lohnarbeit ist möglich geworden, aber was ist passiert? Die einen arbeiten 60-80 Stunden pro Woche. Oft bis zum Burnout. Viele haben mehrere Jobs, die zum Leben trotzdem nicht reichen. Und die Zahl jener, die gar keinen Marktwert mehr haben, ist immens gestiegen. Sie sind Stigmatisierte, überflüssiges „Humankapital“.

Bezüglich der wirtschaftlichen Situation scheuen sich Experten nicht, Vergleiche mit den 1920er und 1930er Jahren anzustellen. Was aber die Not der Menschen betrifft, wird allseits versucht, den Schein der Normalität zu wahren. Nicht zuletzt von den Betroffenen selbst. Früher hätte man sich solche Unterwerfung unter die widersinnigen Umstände nur mit Gehirnwäsche erklären können. Sie erfolgt jedoch ganz von selbst, in vorauseilendem Gehorsam dem irrationalen System gegenüber und in der Hoffnung, sich wenigstens zum Dumpingpreis verkaufen zu können. – Besonders gespenstisch ist auch das Gebaren der Medien, die die Haltung der armutsgefährdeten Mittelschicht reproduzieren: sie projizieren die Gefahr der Verelendung nach außen, auf die bildungsfernen Schichten. Deshalb wird jenen der Mund verboten, die aus eigener Erfahrung über gesellschaftliche Mechanismen berichten könnten, die selbst für Hochqualifizierte immer öfter zur existenziellen Bedrohung führen. Anstatt dessen begeben sich Soziologiestudenten oder Journalistinnen zu Recherchezwecken versuchshalber in die Armut, um über ihren Nervenkitzel im sozialen Dschungelcamp zu berichten.

Was den Sozial- und Gesundheitsbereich betrifft: da kümmern sich Heerscharen von oft selbst knapp Entlohnten vorbildlich um jene, die das System ausgegrenzt und krank gemacht hat. Aber was die Äußerung von Kritik an den Verhältnissen anbelangt, die automatisch soziales Elend am laufenden Band produzieren, könnte man meinen, sie hätten ein Schweigegelübde abgelegt. Vielleicht wünscht man sich ohnehin nur eine Linderung des sozialen Elends, und die Bemühungen darum überlässt man lieber ein paar wenigen akademischen Expertinnen, der Österreichischen Armutskonferenz oder den Chefs der großen Sozialeinrichtungen.

Da ich jedoch nicht wie Dornröschen schlummerte, habe ich die rasante soziale Talfahrt als Alpwachtraum erlebt. Den ersten größeren wirtschaftlichen Einbruch erlebte ich hautnah, als es 1983 plötzlich kaum mehr lukrative Brotjobs gab – mit denen ich mein Studium finanzierte. Ab Mitte der 1980er Jahre wurden die anbrechende Vereinzelung und die immer härter werdende Konkurrenz bereits vorbeugend ideologisch untermauert. Im Zuge der sogenannten New Age- bzw. Esoterik-Bewegung kippten die sozialen Vorstellungen weiter Teile der großen vielfältigen Gruppe an kritischen Menschen. Krankheit, soziales Elend und die Verhungernden wurden mit jemandes Karma – das durch früheres Handeln bedingte gegenwärtige Schicksal – begründet. Neue Slogans tauchten auf: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ „Alles, was dir geschieht, du alleine bist dafür verantwortlich.“ „Denk positiv, denn durch dein Bewusstsein schaffst du deine Realität selbst.“ – Solipsismus und calvinistische Prädestinationslehre lassen grüßen. Also der Standpunkt, der nur das eigene Ich mit seinen Bewusstseinsinhalten gelten lässt. Und ein Misserfolg beweist, der Erfolglose war des Erfolgs nicht wert.

Im Jahr 2000 platzte nicht nur die dot.com-Blase, auch mir wurde der Job gekündigt. Daraufhin wurde ich Pädagogin vom Arbeitsamt ordentlich pädagogisiert. – Aber die noch größere Überraschung war das Gebaren der verbliebenen kritischen Kräfte, die nicht gegen die brutalen gesellschaftlichen Verhältnisse auftraten, auch nicht gegen den steten Sozialabbau, sondern seit Februar 2000 demonstrierten sie jahrelang donnerstäglich gegen die neue schwarz-blaue Regierung. (Als ob die rote viel besser gewesen wäre.) Kürzlich fand ich eine rare Kritik an diesem religiösen „Bittgesang ,aller demokratischen Kräfte‘(!)“, (so die Eigenbezeichnung) von Monika Peterl in AKIN Nr. 35 („Eine Welt ohne Geld und Arbeit“, 28.11.2000). – Seit der Gründung von Attac Österreich im November 2000 beschränkt sich Kritik im Großen und Ganzen auf Raubtierzähmungsversuche. Attac steht ja für ein französisches Kürzel, das auf deutsch „Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen zugunsten der BürgerInnen“ heißt. – Von einem emanzipatorischen Blick über die Thujenhecke der Marktwirtschaft vorerst keine Spur mehr.

Die Rosen blühen sicher anderswo. Aber wird es überhaupt ein Erwachen geben?

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