FORVM, No. 48
Dezember
1957

Das auftragsgemäße Stadtbild

Zur Frage des Bauens in Wien

Die Unzufriedenheit der Wiener mit der Wiener Architektur ist groß, und nicht nur das übliche Geraunze macht sich in Leserzuschriften Luft. In Deutschland ist es dasselbe und heißt „Unbehagen“. In Wien hat die Kritik einen Unterton, der wahrscheinlich so alt ist wie Wien selbst. Er richtet sich gegen die „Großkopferten“, die dem Talent in den Arm fallen und es verhindern, moderner als die Italiener zu bauen. Den Ämtern gegenüber ist man revoluzzerisch, wenn auch nicht ernsthaft unbequem.

Das Problem liegt tiefer. Eigentlich wurzelt es in dem Faktum, daß wir zwei staatstragende Parteien mit zwei verschiedenen Lebensbildern haben, die natürlich auch verschiedene Behältnisse — die Häuser für dieses Leben — brauchen. Aber so tief wollen wir nicht schürfen; sondern wollen darauf verweisen, daß unsere sozialen Häuser nicht besser würden, wenn man die Wände schief machte oder den Kubus in die Luft auf Spreizfüße stellte (besser würden sie nur „durch Talent“, nicht „durch Motiv“). Aber da nicht nur in der finsteren Reaktion und in der Korruption Antitalente sich regen, sondern sicherlich auch in der Avantgarde die Unbegabung sich breit macht und mancher Stürmer vorerst ein ganz tüchtiger Geschäftsmann ist, so käme eine Wertung der alten und der neuen „Form“ wieder auf das unselige Postulieren hinaus, das jeder anders versteht. Bleibt man bei den „mitteilbaren“ architektonischen Qualitäten, so wird der Modernist, der vom Wiener Sozialbau etwa große Fenster verlangt, leicht nach Punkten geschlagen. Denn der Magistrat teilt ihm mit, daß die großen Fenster teuer sind und die Mieter kleine verlangen, weil sie die Heizungskosten fürchten. Ähnlich geht es mit dem Verlangen nach Stahl und Aluminium, nach Wohnbalkons und dünnfüßigem Mobiliar. Übrigens ist die Entwicklung des Wohnhauses in der ganzen Welt bereits wieder rückläufig, so daß möglicherweise der konservativ gebliebene Wiener sich einst ins Fäustchen lachen wird. Er hat es vorausgesagt.

Bauen ist Abbild des sozialen Zustandes. Künstlerisches Verhalten ist „auszeichnend“. Wir aber sind gleichmacherisch und daher neidisch oder zumindest grämlich. Diese Feststellung hat — weil auch hier der Proporz gilt — keine parteipolitische Spitze. Es ist überall so. Unfähig, den Neid in Schranken zu halten, will man die „Zuteilung“. Zuteilung von Wohnraum, Gebäudeschmuck, sozialem Grün. Auf den streitlosen Gebieten, dem Freibad zum Beispiel, hat das Vorteile. Nirgends in Deutschland gibt es ein Gänsehäufel oder ein Krapfenwaldl. Vor die Wahl gestellt, bei zu kleinen Zimmern zwar moderne Fassaden, aber kein Gänsehäufel zu haben, werden nicht nur die Kaisermühlner auf die Fassaden verzichten. Man täusche sich nicht: die moderne Hausfront ist den Pressephotographen viel wichtiger als den zu Behausenden. Das mag überspitzt sein und die befeuernde Kraft der „Symbole“ außer acht lassen. Aber die prinzipielle Feindseligkeit dem Individuellen gegenüber wird jedem bekannt sein, der jemals eine Mieterversammlung mitgemacht hat.

Nun haben wir einmal die Ämter, und sie sind nun einmal politische Instrumente. Der Prinz, der ins Dornröschen-Schloß eindringen will, um das schlummernde Talent wachzuküssen, hat keine Chance, wo die Ranken aus Paragraphen bestehen. Wir können die Eigenart nicht fördern, weil wir keine Bauherren haben, die Originalität erkennen. Wenn dem Architekten vom Sparkommissär die Aufgabe gestellt ist, auf teurem Baugrund eine bestimmte Nutzung zu erreichen, so kann er auf das benachbarte Bau-Denkmal kaum Rücksicht nehmen. Anderseits ist der Denkmalschutz nicht selten sentimental und daher fragwürdig. Wie man das Thema auch anfaßt, immer präsentiert es sich so: Krähwinkel obsiegt, weil der Geist nicht mit Macht ausgestattet ist. Dazu kommt die Verstiegenheit der Künstler, die das Verkanntsein überkompensieren.

Oft wird Deutschland zum Vergleich herangezogen, wo freier und frischer und großzügiger gebaut wird. Tatsächlich ist ja bereits in Linz und Salzburg ein energischerer Zug im neuerstandenen Stadtbild zu spüren als in Wien, und für München oder Frankfurt gilt das in noch höherem Maß. Aber bei aller provozierenden Pracht der Verwaltungspaläste sind dort Verkehr und Platzbilder ebenso ungeschlacht wie hier, und die sozialen Zeilen benützen zwar die als modern geltende Konfektion (Welleternitbalkone, Dünnstützen, Viktory-Säulchen) deutlicher als wir es tun, aber dafür geht es in den Fragen der Raumgröße und der technischen Ausrüstung von Küchen, Bädern und Stiegen oft noch armseliger zu als bei uns. Die Konfektion täuscht.

Eine entscheidende Tat, die endlich das Wohnproblem löst, ist weder hier noch im Ausland erfolgt. Man hat draußen noch mehr geredet, hat mit der „Behausung“ — welch fauchendes Wort für eine liebreiche Sache — noch mehr Kongresse befaßt, aber auch draußen baut man wieder im Zentrum hoch, weil man die langen Straßen nicht bezahlen kann. Wenn allerdings, wie das etwa in München geschieht, der Magistrat einen Maler damit betraut, den Kratzputz der Pappdeckelzeilen hübsch anzustreichen, oder wenn er den Gartenzauberer beauftragt, statt der abscheulichen Sgrafitto- oder Mosaikkleckse eine blühende Kletterpflanze hochzutreiben, so wird kein Mensch mehr den sowieso unbenützten Balkonkoffern eine Träne nachweinen. Außerdem ist die deutsche Siedlung privatwirtschaftlicher und daher mannigfaltiger. Laßt erst einmal bei uns die großen Industrien oder Versicherungsanstalten so viel bauen wie draußen; dann wird sich schon ein junger Baudirektor finden, der die kahlen Fassaden zumindest hübsch färbelt und den notwendigerweise billigen Wohnbau gärtnerisch kompensiert. Die Magistratsabteilung X kann das nicht tun, wegen der Kontrollabteilung Y, und auch die Baugenossenschaften können es nicht, weil sie die Verbesserung oder Verschönerung allen Mietern gleichzeitig zuteilen müßten. Die „Zuteilung“ ist es, die die Kunst umbringt und die Armseligkeit von vorneherein einkalkuliert.

Ein anderes im Niedergang der Kunst ist die wahllose Streuung der Aufträge. Welzenbächer, der in Summe eines der stärksten, wenn nicht das stärkste österreichische Talent war, konnte im Wiener Wiederaufbau keinen nennenswerten Auftrag erhalten und versank ins Skurrile. Die Auftragsstreuung — sicherlich Pflicht und wohlverstandenes Interesse der Mächtigen — „faßt“ strikt nach Goethe bald „des Knaben lockige Unschuld“, bald „den“kahlen schuldigen Scheitel“. Das Glück des Auftrages „tappt unter die Menge“. Die einen werden in lockiger Unschuld vor die schwierige Aufgabe gestellt, mit unzureichenden Geldmitteln nicht nur ein Maximum an Wohnraum, sondern auch an „Schönheit“ hervorzubringen, und auf den Scheiteln häuft sich die unerfüllbare Verantwortung für Dutzende gleichzeitiger Großbauten.

Wie kann das gut ausgehen? Wie soll das neue Antlitz von Wien sich verschönen, wenn keine Zeit ist, wenn niemand die Talente auswählt, wenn es keine ernsthafte Kritik gibt, wenn bald die amerikanische und bald die italienische und niemals die Wiener Form als Fundament erachtet wird — wenn, kurzum, die Flegelhaftigkeit des Geschäfts die Reste einstiger Wiener Lebensform hinwegspült?

Künftige Historiker werden vom Ellenbogenstil dozieren und sich wundern, daß den europäischen Stadtbildern nicht noch mehr Stöße versetzt wurden.

Der vorstehende Aufsatz ist uns als letzter Beitrag Friedrich Lehmanns zugegangen, kurz ehe sein Verfasser im Alter von 68 Jahren der Grippewelle zum Opfer fiel. Friedrich Lehmann, Diplomingenieur, Architekt und Doktor der technischen Wissenschaften, lehrte von 1928 bis 1945 an der Technischen Hochschule in Prag, wo er im alten „Prager Tagblatt“ auch seine publizistische Tätigkeit begann. Seit 1946 gehörte er, zeitweilig als Dekan, dem Professorenkollegium der Wiener Technischen Hochschule an und wurde wiederholt mit wesentlichen Aufgaben des Neu- und Wiederaufbaus betraut. Den Lesern des FORVM ist Professor Lehmann durch eine Reihe temperamentvoller Beiträge („Die Baukunst der Diktatoren“, „Konfektion oder Maßarbeit?“, „Die Italiener haben gut bauen“) bekanntgeworden.

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