Das Ende der Nationalökonomie
Schon seit einem Dreivierteljahrhundert ist die kritische Theorie der kapitalistischen Entwicklung weitgehend zum Stillstand gekommen. Während die kapitalistische Produktionsweise die Stufen einer rasanten Binnengeschichte durchlief, blieb das theoretische Bezugssystem der Kapitalakkumulation und ihrer inneren Schranken wie eine defekte Uhr spätestens in den zwanziger Jahren stehen.
Das theoretische und analytische Interesse verlagerte sich von der Akkumulations- und Krisentheorie auf die Äußerlichkeit bürgerlicher Willensverhältnisse, das heißt auf die subjektiven Präferenzen blind vorausgesetzter Waren- und Geldbesitzer einerseits und auf die staatliche sogenannte Wirtschaftspolitik andererseits.
Diese theoretische Verkürzung hatte ihren realhistorischen Grund. Denn in der Epoche der Weltkriege rückte der Entwicklungsprozeß des Kapitals selber die bürgerliche Massensubjektivität und die politische Sphäre in den Mittelpunkt. Den industrialisierten Krieg konnten keine Muschiks und Zipfelmützen-Untertanen mehr gewinnen. Auch in der ökonomischen Reproduktion des Kapitals verlangte die zweite industrielle Revolution des Fordismus die Ablösung der knechtsbescheidenen menschlichen Arbeitstiere durch subjektiv kalkulierende demokratische Massensubjekte. Die neue Stufe der Akkumulation, die den Kapitalismus erstmals zum flächendeckenden System machte, konstituierte eine „fordistische Kohärenz“ der Massenproduktion hochwertiger Konsumgüter (Autos, Haushalts- und Unterhaltungselektronik), der Masseneinkommen in Form des Geldlohns und des Massenkonsums von Waren.
Aufstieg und Fall der politischen Regulation
Schon in den Turbulenzen der fordistischen Transformation hatte die Weltwirtschaftskrise gezeigt, daß ein derart hybrides System des totalen „Vollkapitalismus“ nicht ohne einen qualitativen Sprung der staatlichen Regulation zu haben ist. Nicht nur die Entwicklungsdiktaturen einer „nachholenden Modernisierung“ im Osten und später im Süden mit ihrer oberflächlich sozialistischen ideologischen Legitimation machten den Staat zum „Generalgouverneur“ des warenproduzierenden Systems und seiner „fordistischen Kohärenz“. Auch der westliche Keynesianismus favorisierte den verstärkten staatlichen Eingriff; zwar sollte der Staat dabei nicht zum „sozialistischen“ Generalunternehmer, aber doch zum makroökonomischen Regulator der „Volkswirtschaft“ avancieren. Als das „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg die Erinnerung an das Krisenproblem allmählich verblassen ließ, wurde die mehr oder weniger keynesianische Regulation zumindest in West- und Mitteleuropa zur großen Umverteilungsmaschine, auf die sich die politischen Subjekte in ihren Auseinandersetzungen bezogen.
Schon in den siebziger Jahren war jedoch die zweite industrielle Revolution des Fordismus als Stufe der Kapitalakkumulation historisch ausgebrannt. Seither hat die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik erstmals in der Geschichte des Kapitalismus weltweit in wachsendem Maße mehr kapitalistische Arbeitsplätze wegrationalisiert, als durch Expansion der Märkte zusätzlich eingesaugt werden konnten. Die damit verbundene „Krise der Arbeit“ markiert aber auch die innere Schranke des Kapitals selbst, insofern dieses in letzter Instanz an die reale Wertsubstanz „abstrakter Arbeit“ (Marx) gebunden bleibt. Die dritte industrielle Revolution löst nicht nur den hybriden Vollkapitalismus der „fordistischen“ Entwicklungsstufe und die Existenzbedingungen der kapitalistischen Peripherie auf, sondern droht überhaupt das moderne warenproduzierende System und dessen Logik der Verwandlung von „abstrakter Arbeit“ in Geld aus den Angeln zu heben.
Es ist offensichtlich, daß die seit den zwanziger Jahren nicht mehr innovativ behandelten Probleme der Akkumulations- und Krisentheorie verschärft und auf einer bis jetzt gar nicht reflektierten neuen Entwicklungsstufe zurückkehren. Aber nur widerwillig und oberflächlich hat die Linke den Faden der Krisentheorie aufgegriffen, um ihn schnell wieder fallenzulassen. Dem Trägheitsgesetz einer auf die politischen Subjekte des warenproduzierenden Systems verkürzten Begriffsbildung folgend wurde stattdessen seit Ende der siebziger Jahre als Reaktion auf die strukturelle Krise allmählich die sogenannte Regulationstheorie hegemonial.
Dieser Ansatz verallgemeinerte die Problematik der keynesianischen Regulation, die auf die historische Entwicklungsstufe der (fordistischen) zweiten industriellen Revolution bezogen war, für einen abstrakten Begriff des Kapitalismus überhaupt, der nun als eine (im Prinzip endlose) Abfolge von „Akkumulations- und Regulationsmodellen“ erschien. Natürlich kann man metaphorisch für bestimmte Zusammenhänge den Begriff des „Modells“ verwenden, aber in der Diktion der Regulationstheorie wurde daraus eine geradezu ahistorische Bestimmung. Geschichte und Krise reduzieren sich dann auf einen bloßen „Modellwechsel“ innerhalb eines zeitlos gewordenen Kapitalismus. Die Frage der inneren Schranke wird eskamotiert. An die Stelle der akkumulations- und krisentheoretischen Fragestellung im eigentlichen Sinne tritt die Debatte über eine „politische Theorie“ für das vermeintliche „nächste“ Akkumulations- und Regulationsmodell. Das historische Unikat des Fordismus-Keynesianismus als Ausdruck einer nie wiederkehrenden Entwicklungsstufe wird so in abstraktifizierter Form zum falschen Begriff der Zukunft und die darauf bezogene Linke auch explizit zu jenem Wurmfortsatz des Keynesianismus, der sie de facto sowieso schon seit langem war.
Das Glück des Schwelgens in politischen Reformkonzepten, die von Jahr zu Jahr seichter ausfielen, wird jedoch inzwischen erheblich getrübt durch eine Metamorphose des Kapitals, die seit den neunziger Jahren unter dem Stichwort „Globalisierung“ firmiert und die sich dem Zugriff politischer Regulation grundsätzlich zu entziehen scheint. Obwohl diese Entwicklung selber ein Moment der säkularen Krise ist, hat die Debatte darüber erst recht nicht zu einer Erneuerung der Krisentheorie geführt. Die Globalisierung scheint vielmehr das strukturelle Krisenproblem zu überlagern, sie wird quasi als neue Entwicklungsstufe des „ewigen“ Kapitalismus wahrgenommen, vergleichbar mit der industriellen Revolution. Dabei findet ein logischer „Ebenensprung“ in der Argumentation statt, denn die Globalisierung steht keineswegs für sich, sondern ist selbst Bestandteil der mikroelektronischen Revolution. Deswegen eröffnet sie keine „Chancen“ einer neuen „postindustriellen“ Entwicklungsstufe, sondern strukturiert nur die Verlaufsformen einer Krise neuen Typs jenseits des bisher gewohnten Bezugssystems.
Nationalökonomie und Weltmarkt
Die Kapitalakkumulation und ihre marktwirtschaftliche Realisationssphäre waren noch nie eine rein nationale Angelegenheit. Das Verhältnis von Kapital und Nationalstaat ist wie das von Henne und Ei; es gibt dabei keine eindeutige historische Kausalität. Nach dem Weltsystem-Theoretiker Immanuel Wallerstein entstand die kapitalistische Produktionsweise zunächst sogar auf dem Boden des frühen Weltmarkts seit den sogenannten Entdeckungen (deren Triebkraft kommerzieller Natur war), noch bevor sich eigentliche Nationalökonomien herausgebildet hatten. Dennoch kann es keinen Zweifel geben, daß sich zusammen mit der ersten industriellen Revolution im 19. Jahrhundert die kapitalistische Reproduktion in nationalökonomischen Räumen verdichtete, deren „ideeller Gesamtkapitalist“ (Marx) der moderne Nationalstaat wurde. Diese Staatsmaschine, die verschiedene Entwicklungsstufen und Erscheinungsformen von der Cromwell-Diktatur bis zur Nachkriegs-Demokratie durchlief, bezog ihre „Souveränität“ als Erbe des Absolutismus zunächst aus dem Gewaltmonopol nach innen und außen, aus der Steuerhoheit und schließlich aus der Geldhoheit (nationale Notenbanken als staatliche Institutionen). Erst allmählich kamen mehr und mehr infrastrukturelle und sozialstaatliche Aufgaben hinzu (Bildungs- und Gesundheitswesen usw.).
Im Zusammenspiel von Kapitalakkumulation und Staatsaufgaben (die bis zum Ersten Weltkrieg keine makroökonomische Staatsregie einschlossen) entstanden so kohärente Nationalökonomien, für die der Weltmarkt zum sekundären Bezugssystem wurde, während sich der Großteil der kapitalistischen Reproduktion „innerhalb der Mauern“ vollzog. Die Beziehungen auf dem Weltmarkt erschienen daher im wesentlichen als Export bzw. Import zwischen verschiedenen relativ unabhängigen Nationalökonomien (nur in diesem Bezug machen solche Begriffe überhaupt Sinn, nach denen bis heute die Statistik des Welthandels strukturiert wird). Und selbstverständlich bildet diese Art der Verflechtung auch jetzt noch ein Moment des Weltmarkts. Es werden also in einem Land produzierte Waren auf den Märkten eines anderen Landes verkauft, und darüber gab es und gibt es ein ständiges Gerangel unter den Nationalstaaten. Kein Land will eine „negative Handelsbilanz“ haben, weil dadurch Außenverbindlichkeiten und damit Abhängigkeiten entstehen.
Dieser Export und Import von Waren bezieht sich zunächst einmal auf Rohstoffe, Vor- und Zwischenprodukte. Weil zum Beispiel in Deutschland nicht genügend Eisenerz zu fördern ist, importiert die deutsche Stahlindustrie traditionell Erz aus Skandinavien, damit sie überhaupt produzieren kann (auch für den eigenen Binnenmarkt). Eine höhere Stufe ist der wechselseitige Export und Import von Fertigprodukten, der zu einer internationalen Spezialisierung führt. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte dazu der ökonomische Klassiker David Ricardo seine berühmte Theorie der „komparativen Vorteile“ eines solchen internationalen Handels. Am Beispiel der Produktion von Wein und Textilien in Portugal und England zeigte er, daß eine Spezialisierung Portugals auf Wein und Englands auf Tuch bei wechselseitigem Austausch für beide Seiten auch dann vorteilhaft sein kann, wenn beide Waren in beiden Ländern hergestellt werden könnten und England in beiden Fällen Produktivitätsvorteile hätte. Denn durch die beiderseitige Konzentration der Arbeitskraft auf den jeweils relativ produktiveren Sektor ergibt sich auch für beide ein relativer Kostenvorteil.
Grundsätzlich gilt Ricardos berühmtes Exempel jedoch nur dann, wenn erstens das Produktivitätsgefälle zwischen den austauschenden Ländern ein gewisses Ausmaß nicht überschreitet und zweitens auf beiden Seiten die volle Fertigungstiefe des jeweiligen Endprodukts beherrscht wird. Klafft das Produktivitätsniveau zu weit auseinander oder kann das eine Land nur Rohstoffe gegen Fertigprodukte liefern bzw. muß die Technologie für die eigenen Fertigprodukte anderswo einkaufen, dann bluten die schwächeren Handelspartner durch einen Verfall ihrer „terms of trade“ (Preisrelationen des Außenhandels) unvermeidlich aus, das heißt sie müssen unverhältnismäßig viel eigene Arbeitskraft aufwenden, um das Produkt von viel weniger fremder Arbeitskraft erwerben zu können. In diesen Fällen erweist sich Ricardos Theorie als schlichte Milchmädchenrechnung. Tatsächlich gab es beim Handel der kapitalistischen Zentren mit der Peripherie und den Kolonien bzw. der späteren Dritten Welt für letztere nur in wenigen Ausnahmefällen „komparative Vorteile“, im großen und ganzen jedoch einen heute sogar noch forcierten Ausblutungsprozeß.
Die Flucht in den Warenexport
Globalisierung bedeutet hinsichtlich der Entwicklung des traditionellen Außenhandels zunächst eine quantitative Expansion. Exporte und Importe der kapitalistischen Zentren untereinander und mit der Peripherie, aber auch zwischen den armen Ländern selbst sind in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen. Sogar derart stark binnenorientierte Ökonomien wie die der USA oder Chinas haben heute einen größeren Außenanteil als jemals zuvor. Die sprunghafte Entwicklung des Außenhandels nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal seit der mikroelektronischen Revolution zeigt sich im säkularen Vergleich besonders deutlich bei einem traditionell exportorientierten Land wie Deutschland. Lag der Anteil des Exports am Sozialprodukt 1913 im Deutschen Reich bei 17 Prozent, so fiel er bis 1938 auf ein Tief von 5,2 Prozent, um in der Nachkriegs-BRD bis 1985 auf das Rekordhoch von 29,1 Prozent zu klettern. Die globale quantitative Expansion des Außenhandels ist jedoch auch von einer qualitativen Veränderung begleitet. Zunehmend spezialisieren sich die Länder nicht mehr auf bestimmte Produkte, was ja eine Voraussetzung für Ricardos Theorie gewesen war, sondern alle liefern einander alles: die USA Fertigsuppen, Autos und Chips nach Europa und Japan; Japan und Europa Fertigsuppen, Autos und Chips in die USA usw. Eine solche Art Steigerung des Außenhandels ist nicht nur ein absurdes Theater und eine Vergeudung von Ressourcen, sie hat auch nichts mehr mit irgendwelchen „komparativen Vorteilen“ zwischen Nationalökonomien zu tun. Vielmehr handelt es sich um die Kehrseite der kapitalistischen Strukturkrise selbst. Denn nicht aus Gründen allgemeiner Wohlfahrtssteigerung expandierte der Außenhandel seit den siebziger Jahren derart massiv, sondern genau umgekehrt als Folge der zunehmenden industriellen Massenarbeitslosigkeit und der allgemeinen Lohnsenkung durch postindustrielle „MacJobs“.
Die „fordistische Kohärenz“ innerhalb der Nationalökonomien zerbricht. Da die mikroelektronische Revolution die Produktivität steigert wie noch nie und gleichzeitig die Massenkaufkraft auf frühkapitalistisches Niveau zurückbombt, flüchten die Produktionsunternehmen aus dem vertrocknenden eigenen Binnenmarkt auf die Exportmärkte. Dort treffen sie sich und es tobt ein globaler Verdrängungswettbewerb in allen Branchen. Die Abwehrversuche der Staaten bleiben trotz eines weiterschwelenden Protektionismus schwächlich, weil alle derselben Strukturkrise und derselben Verwüstung des Binnenmarkts unterliegen. Die vermeintlichen politischen Souveräne müssen mit allen Mitteln die Exportindustrien hätscheln und der globalen betriebswirtschaftlichenSchlacht hilflos zusehen.

Vom Kapitalexport zum transnationalen Krisen-Kapitalismus
Verliert der Weltmarkt auf diese Weise schon auf der Ebene traditioneller Exporte und Importe von Waren seinen Charakter als Beziehung zwischen relativ unabhängigen Nationalökonomien, so wird dies noch deutlicher auf der Ebene des Kapitalexports. Diese Erscheinung rückte erst im 20. Jahrhundert ins Blickfeld und war bekanntlich Gegenstand der marxistischen Debatte im Ersten Weltkrieg. Im Vergleich zum bloßen Warenexport handelt es sich dabei um eine höhere Ebene der Außenverflechtung: Unternehmen exportieren nicht mehr im eigenen Land hergestellte Waren auf ausländische Märkte, sondern gründen oder kaufen im Ausland Unternehmen, um für die dortigen Märkte zu produzieren. Zu Beginn des Jahrhunderts warf dieser Kapitalexport (sowohl in andere entwickelte Länder als auch in Kolonien und periphere Gebiete) noch die Frage der politischen „Einflußzonen“ von imperialen Nationalökonomien bzw. Nationalstaaten auf und war mit ein Grund für den Ersten Weltkrieg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der Kapitalexporte nicht nur quantitativ zu, sondern es deutete sich auch eine Verkehrung von betriebswirtschaftlicher und nationalökonomischer Rationalität an: Schon die multinationalen Konzerne („Multis“) der siebziger Jahre waren nicht mehr eindeutig Bestandteile einer nationalökonomischen Strategie, sondern ansatzweise „Staaten in den Staaten“, oder besser gesagt quer zur Staatenwelt liegende Fremdkörper; teilweise sogar mit eigenen militärischen Aktivitäten. Der Prozeß der Globalisierung brachte seit den achtziger Jahren auch in dieser Hinsicht eine sprunghafte Beschleunigung: „Während in den siebziger Jahren die Zahl der multinationalen Unternehmen einige hundert nicht überstieg, sind es heute mehr als 40.000. Und das gesamte Geschäftsvolumen der 200 weltgrößten Unternehmen beträgt mehr als ein Viertel der globalen Wirtschaftstätigkeit. Dabei beschäftigen diese 200 Unternehmen nur 18,8 Millionen Menschen, also nicht einmal 0,75 Prozent der Arbeitskraft der Welt“ (Ignacio Ramonet, »Le Monde diplomatique« 1/1997).
Was formal als Kapitalexport zwischen Nationalökonomien erscheint, ist längst etwas qualitativ anderes, nämlich die Konstitution eines transnationalen Kapitals, dessen betriebswirtschaftliches Kalkül nicht mehr auf einen nationalökonomischen Raum, sondern direkt auf den Weltmarkt bezogen ist. Bei Siemens überschritt der Anteil der „ausländischen“ Beschäftigten in den neunziger Jahren erstmals den der „inländischen“; dasselbe gilt für den Umsatz. Und Sony-Präsident Nobuyuki Idei erklärte offen: „Wir sind keine japanische Firma. Wir sind ein globales Unternehmen, das seinen Sitz nur aus historischen Gründen in Japan hat. Nur 30 Prozent unserer Umsätze kommen aus Japan“ (»Der Spiegel« 5/1997). Aber dieses neue „globalitäre Regime“ (Ramonet) des Kapitals ist ebensowenig wie die Steigerung der Exportquoten von Waren eine reines Entwicklungsphänomen, sondern getrieben von der strukturellen Krise und seinerseits diese Krise treibend. Auf die Flucht der Waren in den Export folgt logischerweise die Flucht des Kapitals auf die global verstreuten „Wachstumsinseln“. Dabei wird mitnichten ein neues und zusätzliches Terrain der Kapitalakkumulation geschaffen. Denn zum einen führt die als „Kapitalexport“ firmierende Globalisierung der Investitionen in der Regel nicht zu Neugründungen, sondern zum Aufkauf und „Ausschlachten“ bereits existierender Unternehmen, die entweder durch Rationalisierung ausgedünnt oder überhaupt stillgelegt werden, weil sie nur zwecks Ausschaltung von Konkurrenz erworben wurden.
Zum andern beschränkt sich die globale Diversifikation nicht darauf, an verstreuten Standorten für die dortigen Märkte zu produzieren. Vielmehr hat sich bei den globalen Unternehmen ein mikroelektronisch vernetztes Verbundsystem sogenannter „transnationaler Wertschöpfungsketten“ entwickelt, das für beliebige Märkte produzieren kann: Während die arbeitsintensive Produktion in Polen oder China und die automatisierte Endmontage in Deutschland läuft, die Betriebsabrechnung in Indien abgewickelt wird, die Forschung in den USA sitzt und die Steuern in Belgien oder auf den Kayman-Inseln anfallen, kann das Produkt dieser Kette in Deutschland ebenso wie in Japan oder in einer Kaufkraft-Nische in Nairobi auf den Markt kommen.
Über die rein technischen Potentiale der mikroelektronischen Revolution hinaus potenziert die Dynamik der Globalisierung die Ausdünnung sämtlicher Produktionslinien durch „Wegrationalisieren“ ganzer Ebenen der Unternehmensstruktur. In einem Eskalationsprozeß verschärft sich daher die Krise von Arbeit und Realakkumulation dramatisch. Die auf der ganzen Welt in immer neuen Schüben sinkende Massenkaufkraft erzeugt sowohl bei den Kapitalinvestitionen als auch bei der Warenproduktion den Zwang zur galoppierenden globalen Diversifikation, aber durch den Verdrängungswettbewerb auf einer immer schmaleren Basis. Jede neue Runde der Globalisierung ist von massenhafter Kapitalvernichtung begleitet.
Diese Kapitalvernichtung macht aber nicht wie in früheren Entwicklungsstadien des Kapitalismus den Weg frei für einen neuen säkularen Akkumulationsschub durch neue Industrien. Es handelt sich also nicht um eine im kapitalistischen Sinne „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter). Denn die mikroelektronische Rationalisierung, betriebswirtschaftlich durch den Mechanismus der globalisierten Konkurrenz erzwungen, ätzt die lebendige Arbeit als einzige gesamtkapitalistische Wertschöpfungsquelle immer schneller weg und überholt die Expansionsfähigkeit aller neuen Produkte bei weitem. Die Globalisierung stellt so nur für einzelne Unternehmen (von ihrem betriebswirtschaftlich bornierten Standpunkt aus) vorübergehend eine Erweiterung ihrer Märkte dar, nicht jedoch für das Gesamtkapital. Der Kapitalismus wird zum autokannibalistischen System.
Die Kompetenz der Staaten gegenüber der Ökonomie verfällt auf diese Weise weiter. Sie müssen nicht nur die Exportindustrien einseitig fördern, sondern sogar zunehmend darum betteln, daß das in seinem Überlebenskampf transnational gewordene Kapital auf dem Territorium ihres „Standorts“ überhaupt noch eine Produktion für den Weltmarkt betreibt und nicht anderswohin abwandert, wo die Bedingungen kostengünstiger sind. Statt „ihre“ jeweils eigenen Exportindustrien irgendwie politisch dirigieren zu können, müssen die Staaten durch Steuerdumping, Sozialdumping und Ökodumping untereinander um die Gunst der transnationalen Kapitalinvestitionen konkurrieren. Der Staat verliert also de facto seine Steuerhoheit und seine Souveränität in großen Teilen der Gesetzgebung.
Fiktives Kapital und transnationale Finanzmärkte
Die Abwärtsspirale des kapitalistischen Systems über Rationalisierung und Globalisierung verstärkt sich durch die Verselbständigung des (zinstragenden) Geldkapitals gegenüber der realen Warenproduktion. Weil die Realakkumulation lahmt und Erweiterungs- bzw. Arbeitsplatz-Investitionen immer weniger rentabel werden, drängt seit Beginn der achtziger Jahre eine wachsende Masse von Geldkapital aus den jeweils vorangegangenen Reproduktionsperioden in den reinen Finanzüberbau. Waren schon die „fordistische Kohärenz“ und die keynesianische Regulation nur durch eine ständig steigende Kreditzufuhr und damit einen Vorgriff auf „zukünftige Arbeit“ möglich gewesen, so findet nun eine unmittelbare „positive Rückkoppelung“ des Geldkapitals auf sich selber statt. Das Geld als Ware, das eigentlich nur in Form von Krediten für die Produktion von realen Waren kapitalistisch fungieren kann, tritt scheinbar auf gleicher Ebene neben die realen Waren und durchläuft einen eigenen inhaltslosen „Produktionsprozeß“. In demselben Maße, wie sich das Realkapital auto-kannibalistisch selber auffrißt, wächst spiegelbildlich das reine, den Finanzüberbau nicht mehr verlassende Geldkapital an und simuliert auf diese Weise einen ungestört weiterlaufenden Akkumulationsprozeß. Die Verwertung des Geldes verlagert sich also zunehmend simulativ auf das „fiktive Kapital“ (Marx) der spekulativen Finanzmärkte (Aktien-, Immobilien- und Devisenspekulation, Finanzderivate) und suggeriert die Möglichkeit eines substanzlosen Wachstums, das gar nicht mehr den Umweg über die betriebswirtschaftliche Vernutzung menschlicher Arbeitskraft nimmt.
Gerade auf diesem Sektor des „fiktiven Kapitals“ ist die Globalisierung am weitesten vorangeschritten. Die mikroelektronische Revolution hat finanzielle Transaktionen unabhängig von Entfernungen und Zeitzonen in „Echtzeit“ möglich gemacht, weil „körperlose“ elektronische Buchungsimpulse im Unterschied zu realen Waren und Dienstleistungen keinerlei Kapazität und Zeit für Produktion und Transport benötigen. Mit dieser technischen Möglichkeit und unter dem Verwertungsdruck des „fiktiven Kapitals“ haben sich transnationale Finanz- und Spekulationsmärkte herausgebildet, die praktisch exterritorial funktionieren und den Staaten das letzte Szepter ökonomischer Souveränität entreißen: die Geldhoheit und Geldpolitik der nationalen Notenbanken. So groß ist die Masse des tagtäglich auf globaler Ebene frei zirkulierenden Geld- und Spekulationskapitals geworden, daß die Notenbanken selbst mit konzertierten Aktionen nicht mehr dagegen intervenieren können.
Gleichzeitig wird die Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber den transnationalen Finanzmärkten dadurch gelähmt, daß er von der Zufuhr des Kredits aus diesem Bereich immer abhängiger wird, weil sich sein finanzieller Spielraum binnenökonomisch von Jahr zu Jahr mehr verengt. Durch die Globalisierung tendieren die Steuern aus Vermögen und Gewinnen gegen Null, sodaß die verbliebenen Lohneinkommen bis über die Schmerzgrenze belastet werden und das Steueraufkommen dabei weiter sinkt, weil ein stetig wachsender Teil der Bevölkerung aus der kapitalistischen Reproduktion ausgespuckt wird. Die absolute Masse der Verarmung wächst schneller als die Kürzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, sodaß die Sozialkosten trotzdem steigen. Allen antisozialen Sparmaßnahmen auf Kosten der Bevölkerung zum Trotz explodiert die Staatsverschuldung weltweit, während die nationalen Sparquoten längst nicht mehr ausreichen.
Das „fiktive Kapital“ wird so auf einer zweiten Ebene noch einmal fiktionalisiert, indem sich die Staaten auf den transnationalen Finanzmärkten hemmungslos verschulden und die Einnahmen einer immer ferneren Zukunft schon heute verbrauchen. Dasselbe gilt für die global zunehmende Verschuldung der Produktionsunternehmen und der Konsumenten, die im Unterschied zu den Zeiten fordistischer Akkumulation nicht mehr durch langfristige Gewinne und Einkommen abgesichert ist. Während die Last der Verzinsung auf allen Ebenen eine „Schuldenkrise“ nach der anderen hervortreibt, wächst das substanzlose transnationale Geldkapital ungebremst weiter. Die Renditen aus dem verselbständigten Geldgeschäft sind realökonomisch unerreichbar. So investieren nicht nur die großen institutionellen Anleger wie Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften, sondern auch die großen Konzerne, die staatlichen oder kommunalen Verwaltungen und Privatleute vorrangig in den Blähungsprozeß der Finanz- und Spekulationsmärkte.
Auf der einen Seite bricht die reale Reproduktion von Staaten, Unternehmen und Privathaushalten weg, auf der anderen Seite rechnen sich diejenigen reich, die vorläufig im „Kasinokapitalismus“ noch mithalten können. In der ganzen Gesellschaft macht sich eine „Kultur der Simulation“ breit, die auch den postmodernen Geistesbetrieb prägt. Die Aktiengesellschaften werden mit dem Konzept des „Shareholder value“ dazu gezwungen, im Interesse kurzfristiger und rein spekulativer Anleger zur Substanzverschleuderung überzugehen, nur um die Aktienkurse permanent nach oben zu treiben. Überhaupt wird die ganze Gesellschaft darauf ausgerichtet, sich vollständig und bedingungslos den Interessen der Besitzer und Verwalter von Geldkapital zu unterwerfen. Aber diese scheinbar überwältigende Macht des neuen transnationalen Finanzkapitalismus ist hohl. Denn im Unterschied zum alten Finanzkapital der fordistischen Epoche forciert der „Kasinokapitalismus“ nicht die Realakkumulation, sondern muß so tun, als könne er sie ersetzen. Auch die Globalisierung des Geldkapitals ist keine eigene neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus, sondern eine Verlaufsform seiner Selbstzerstörung.
Südostasien: das entzauberte Wunder
Manche Beobachter neigen zu der Ansicht, daß die Globalisierung des Kapitals nur für die alten Industriegesellschaften des Westens als Krise erscheint und in Wirklichkeit den Schwerpunkt der Realakkumulation nach Südostasien verlagert. Angeblich ist das „pazifische Jahrhundert“ des jungen und hungrigen asiatischen Kapitalismus angebrochen, der ein neues „konfuzianisches Modell“ kreiert und das „kulturelle Kapital“ (Bourdieu) seiner spezifischen Traditionen für eine dem Westen überlegene Akkumulationsform ausmünzt: Vollbeschäftigung und Knappheit der Arbeitskraft statt Massenarbeitslosigkeit, zweistellige Wachstumsraten statt Dauerstagnation, nationale Erfolgsstories der Globalisierung statt Krise der Nationalökonomie, starke Staatsregie statt Souveränitätsverlust gegenüber dem transnationalen Kapital.
Solche Einschätzungen lassen sich grob vom Augenschein einer schon wieder vergehenden Oberfläche der Entwicklung täuschen. Mit Ausnahme Japans, dessen Industrialisierung parallel zur westlichen lief, operiert kein einziger der südostasiatischen Newcomer mit einer mikroelektronisch hochgerüsteten Maschinerie, die auf hohe Produktivität ausgerichtet ist, weil sie diese Ausrüstung weder selbst herstellen noch für ihre gesamte Industrie bezahlen können. Damit verfehlen sie das entscheidende Kriterium dauerhafter Konkurrenzfähigkeit von vornherein. Südostasien wirft kein neues „Akkumulationsmodell“ in die Waagschale, sondern eine prekäre Kombination aus Billiglohn und heruntermanipulierten Wechselkursen für die „Exportindustrialisierung“.
Soweit es sich dabei um ein „Modell“ handelt, ist es ein primitives mit einer äußerst kurzsichtigen Kalkulation, das zu einem schnellen Ausbrennen verurteilt ist. Wenn ein Land mit tausend Arbeitern und altfordistischer Basistechnologie soviel produziert wie ein einziger westlicher Arbeiter in einem automatisierten High-Tech-Aggregat und dieses Produkt trotzdem auf den Weltmärkten durch Armutslöhne und niedrige Wechselkurse billiger anbieten kann, dann handelt es sich dabei um einen (vorübergehenden) äußerlichen Vorteil, aber um keinerlei zusätzliche Realakkumulation. Denn weil „Wert“ ein relativer Begriff ist, der sich auf den Maßstab eines gegebenen und nur nach oben veränderlichen Produktivitätsniveaus bezieht, schöpfen die tausend kein bißchen mehr Wert als der eine. Von einem neuen historischen Akkumulationsschub in Südostasien kann also keine Rede sein.
Berauscht von den schnellen Erfolgen ihres vermeintlichen „Modells“ haben die asiatischen Tigerländer mechanisch eine Erweiterungs-Investition an die andere gereiht. Der hohe Kapitaleinsatz diente so gut wie gar nicht einer Erhöhung der Produktivität, sondern war von einem ebenso hohen Einsatz billiger Arbeitskraft begleitet. Selbst wenn die Tigerländer High-Tech-Produkte wie Chips und Unterhaltungselektronik herstellen, beherrschen sie nur einen Bruchteil der Fertigungstiefe und müssen die wichtigsten Maschinen importieren. Die Infrastruktur, deren unproduktiven Kostendruck man umgehen will und die deshalb vernachlässigt wird, bleibt weit hinter den Anforderungen der einseitigen Exportproduktion zurück und ist hoffnungslos überlastet. Es existieren keinerlei moderne Sozialversicherungssysteme; stattdessen verläßt man sich auf archaische Familienverbände und die Garantie lebenslanger Arbeitsplätze in den „Betriebsfamilien“ der Exportindustrie.
Dieses „Modell“ ist bereits in sein Verfallsstadium eingetreten. Durch den gemessen am Weltniveau völlig überhöhten Faktoreinsatz der Arbeitskraft wird diese knapp und damit rapide verteuert; die zweistelligen Wachstumsraten der Löhne etwa in Südkorea signalisieren aber nicht eine dauerhafte Angleichung des Lebensstandards an ein erreichtes Erfolgsniveau, sondern ein Eckpfeiler des bisherigen Preisvorteils auf dem Weltmarkt zerbricht. Gleichzeitig wird durch die benötigte zunehmende Einfuhr westlicher und japanischer Technologie der für den Export heruntermanipulierte Wechselkurs zum Bumerang, denn dadurch verteuern sich die Importpreise. Nach zeitweiligen Überschüssen explodiert neuerdings das Handelsbilanzdefizit der Tigerstaaten, die rasch in eine neue Schuldenfalle schlittern.
Die bisher nationalen Exportkonzerne flüchten in dieselbe globale Diversifizierung wie ihre westlichen und japanischen Kollegen, während „zuhause“ die „Betriebsfamilie“ aufgekündigt wird und Massenentlassungen anstehen. Gleichzeitig löst sich unter dem Eindruck von Globalisierung und kapitalistischer Individualisierung der alte Familienverband auf, ohne daß auch nur das rissige Auffangnetz der westlichen keynesianischen Auslaufmodelle zur Verfügung steht. Die Welt wird in naher Zukunft nicht die Erfüllung des „pazifischen Traums“ erleben, sondern ein schreckliches „blaues Wunder“, mit dem die allzu billige Hoffnung des südostasiatischen Kapitalismus sich in Blut und Tränen verwandelt.
Das Ende der bürgerlichen Zivilisation
Im Krisenprozeß der Globalisierung hört der Staat auf, der „ideelle Gesamtkapitalist“ eines nationalökonomischen Kapitalstocks zu sein. Damit verschwindet aber der Nationalstaat nicht einfach, denn seine Funktionen als Garant der Rechtsverhältnisse und Vertragsbeziehungen bürgerlicher Subjekte, als Organisator der Verwaltung und Infrastruktur, vor allem aber als Träger des Gewaltmonopols bleiben auch für die Reproduktion des globalisierten Kapitals unerläßlich. Es entsteht ein neuer Selbstwiderspruch des Kapitalismus, denn das transnationale Kapital schlägt dem Staat die Mittel für seine Funktionen aus der Hand, auf die es selber angewiesen bleibt.
Auch dieser immanente Widerspruch nimmt eine naturwüchsige Verlaufsform: Sukzessive geben die Staaten ganze Regionen und Bevölkerungsteile auf. Jedes Jahr fallen neue Menschenmassen aus der kapitalistischen Reproduktion, aus der Statistik, aus den Rechtsverhältnissen und de facto aus der Staatsbürgerlichkeit heraus. Verwaltung und Infrastruktur nehmen überall eine koloniale Struktur an, das heißt sie konzentrieren sich mangels Finanzierungsfähigkeit auf die Standort-Regionen und Bedürfnisse des transnationalen Kapitals, während der Rest verfällt und verrottet. An die Stelle der bürgerlichen Öffentlichkeit tritt eine Art Skizirkus oder Seifenoper kommerzieller Medien. Gleichzeitig verhärtet sich der Sicherheitsapparat, der die Massen der Herausgefallenen zunehmend militärisch in Schach halten muß.

Die bürgerliche Zivilisation löst sich auf und geht in eine sekundäre Barbarei über. Überall wird die Mittelklasse aufgerieben, während sich die schrumpfende Zahl der „Gewinner“ in perversen Sicherheitsghettos einigelt. Die Gesellschaft polarisiert sich und treibt in einen latenten oder manifesten Bürgerkrieg ohne emanzipatorische Front. Auf der einen Seite lebt auf den Inseln des transnationalen Kapitals hinter Stacheldraht und von Privatarmeen beschützt ein ignoranter Menschentyp der Globalisierung, der die überall gleichen Bungalows bewohnt, die überall gleichen Flughafen-Terminals und ICE-Trassen benutzt, seine Kinder auf die überall gleichen Privatschulen schickt und eingehüllt ist in die überall gleiche flache Telekom-Kultur, die in eine einzige durchgehende Werbesendung überzugehen scheint. Die Loyalität dieses neuen transnationalen Herrenmenschentums gehört der eigenen abstrakten Individualität und danach dem jeweiligen betriebswirtschaftlichen Bezugssystem („Made by Mercedes“). Den Verlierermassen gegenüber entwickelt sich die Haltung eines militanten Sozialdarwinismus.
Auf der anderen Seite wächst aus der neuen Armut und Verslumung die nicht weniger barbarische Gegenreaktion des Sozialnationalismus und Ethnizismus, mit der die fordistisch-sozialstaatlichen Gratifikationen kontrafaktisch eingeklagt werden durch Haßgesänge der Konkurrenz gegen andere Herausgefallene und gegen Minderheiten (Ausländerfeindlichkeit, „Deutschland zuerst“, „Festung Europa“ usw). Viele Menschen flüchten sich auch in die vermeintliche Geborgenheit religiöser Sekten und in die irrationale Militanz fundamentalistischer synthetischer Religionsbewegungen. Die Solidarität als systemkritische Aufhebung der Konkurrenz verfällt, weil sie keinen ideellen Fokus mehr bilden kann. An die Stelle von Reflexion und emanzipatorischer Rebellion tritt auch bei den Verlierern die Orientierung an den Bildern des kommerziellen Zirkus der Medien, die das Denken und das Lebensgefühl in den beiden sonst hermetisch getrennten Welten der Globalisierung verbinden und auf deren Wellen die neuen „postpolitischen“ Rattenfänger vom Typus Haider oder Berlusconi surfen.
Natürlich ist dieser Zerfall der modernen bürgerlichen Zivilisation weltregional unterschiedlich weit fortgeschritten und frißt sich langsam von der Peripherie in die Zentren voran. Die alte Ungleichzeitigkeit der Entwicklung macht sich auch im Untergang bemerkbar. Aber der Imperialismus der Zentren ist kein nationaler mehr und richtet sich nicht mehr auf die Annexion von Territorien und die Bildung von „Einflußzonen“. Interessant für das transnationale Kapital sind nicht nationalstaatlich kontrollierte Großregionen, sondern allein die global verstreuten Produktivitäts- und Kaufkraftinseln, die gegen Ausbrüche der Verzweiflung, Massaker und Bürgerkriege durch eine gesamtimperiale (euphemistisch als „Friedenssicherung“ bezeichnete) „Weltpolizei“ geschützt werden sollen. Dieser globalisierte „negative“ Imperialismus, der schon in der Nachkriegsordnung der „Pax Americana“ vorbereitet wurde und den weiterhin hauptsächlich die USA tragen, ist am ehesten noch mit der gemeinsamen imperialen Intervention in China zu Beginn des Jahrhunderts vergleichbar, und auch die deutsche Militärbeteiligung entspricht diesem Charakter („Germans to the front“) und entspringt keiner nationalpolitischen Strategie mehr.
Umgekehrt verfallen auch die früheren antiimperialistischen Bewegungen der „nationalen Befreiung“, denn ihre Zielsetzung einer selbständigen nationalökonomischen Teilnahme am Weltmarkt wird gegenstandslos. Ihre Überreste verdingen sich entweder an die Institutionen des transnationalen Kapitals und seiner Agenturen oder sie verwildern ebenso wie die Polizei- und Militärapparate in vielen Ländern, die von den Staaten nicht mehr bezahlt werden können und die sich ihren Plünderungszoll nehmen, wo sie ihn kriegen können. Sowohl die eingeigelte Pseudo-Zivilisation der Globalisierung als auch die postpolitischen Zerfallsprodukte des Ethnizismus und religiösen Fundamentalismus werden von mafiotischen Strukturen einer neuen Kriminalität durchsetzt, die sich gleichfalls transnational organisiert und den zerfallenden Kapitalismus beerbt, ohne eigene Reproduktionsformen aufbauen zu können. Im Endstadium dieser Entwicklung verschwinden auch die Inseln des ghettoisierten Geldkapitals in einer Flut von ziellosen Bandenkriegen, wenn sie nicht vorher schon von der Entwertung des „fiktiven Kapitals“ ereilt werden.
Ignoranz und Krise der politischen Linken
Die linke und reformerische Gesellschaftskritik hat sich durch ihre akkumulations- und krisentheoretische Ignoranz längst selber paralysiert. Da die Linke den Untergang des Staatssozialismus ebenso wie die neoliberalen Ideologen als „Sieg“ der westlichen Marktwirtschaft mißverstand und nicht als Moment einer gemeinsamen Krise des modernen warenproduzierenden Systems in allen seinen (historisch ungleichzeitigen) Erscheinungsformen dechiffrieren konnte, ist ein Großteil der ehemaligen Gesellschaftskritiker unter der Fahne eines angeblichen „Realismus“ zur genuin westlichen Marktwirtschaft übergelaufen. Statt den Zusammenhang zwischen der inneren Krise der kapitalistischen Reproduktion, der Globalisierung des Kapitals und den weltweiten sozialen Erschütterungen und Bürgerkriegen herzustellen, verteidigt man defensiv die vergehende kapitalistische Normalität der Metropolen. Das neue Motto dieser „Realisten“ heißt „Kapitalismus oder Barbarei“, und im Namen dieser Parole einer fundamentalen Unwahrheit läßt man sich einschwören auf die Interventionen der kapitalistischen „Weltpolizei“ und kürt so den Bock zum Gärtner.
Aber auch die verbliebene Linke stellt bloß noch eine leere Hülle vergangener Gesellschaftskritik dar, die sich von den billigen Ergüssen bürgerlicher Mahner und Warner kaum noch unterscheidet. Der krisentheoretische Analphabetismus will Ursache und Wirkung verdrehen, um eine „falsche Politik“ statt die objektive innere Schranke der Realakkumulation für die Krise verantwortlich zu machen. Exemplarisch für diesen verkürzten Blickwinkel ist das Buch „Die Globalisierungsfalle“ (1996) der beiden »Spiegel«-Journalisten Hans-Peter Martin und Harald Schumann, die kunterbunt und begriffslos die Erscheinungen aneinanderreihen, um zu dem Schluß zu kommen, die Globalisierung folge „keineswegs einem Naturgesetz oder einem linearen technischen Fortschritt“, sondern sei „vielmehr das Ergebnis einer seit Jahrzehnten bewußt durchgeführten Regierungspolitik“ (S. 152).
Das ist durchwegs auch die Argumentation der akademischen und politischen Linken. Übertroffen wird diese Ignoranz nur noch von einer kontrafaktischen Verzweiflungstheorie, in der BRD neuerdings vertreten von einigen linkskeynesianischen Wissenschaftlern und altlinksradikalen Politikern wie Rainer Trampert und Thomas Ebermann, die schlankweg die Existenz von Krise und Globalisierung bestreiten. So wird etwa die Gesamtsumme aller Investitionen unabhängig von ihrem Charakter ins Feld geführt, um zu „beweisen“, daß der Anteil der Auslandsinvestitionen „immer noch“ relativ gering sei. Daß die deutsche öffentliche Hand Straßen nicht in Frankreich baut, ist freilich ebenso selbstverständlich und für die Globalisierung irrelevant wie die Tatsache, daß die meisten privaten BRD-Bauherren ihre Häuser nicht in China errichten. Relevant sind die Investitionen des produzierenden Gewerbes als Herzstück der Realakkumulation, und diese sind in der BRD die ganzen neunziger Jahre hindurch gefallen, während die transnationalen Investitionen in derselben Zeit nach oben schossen. Erst recht ist es kein Argument gegen die Globalisierung, daß das transnationale Kapital hauptsächlich innerhalb der industriell entwickelten Weltregionen (EU, USA, Japan) investiert und erst in zweiter Linie in den Schwellenländern. Das ändert nichts daran, daß sich die bisherigen Nationalökonomien auflösen.
Mit derart peinlichen Verdrängungskünsten wird die linke Begriffsbildung zu einer Art UFO-Religion oder Hohlwelttheorie. Dem entspricht der Köhlerglaube an die (ihrem Begriff nach nationalstaatlich gebundene) politische Sphäre des warenproduzierenden Systems: „Die Rückgewinnung der politischen Handlungsfähigkeit, die Wiederherstellung des Primats der Politik über die Wirtschaft ist (...) die zentrale Zukunftsaufgabe“ (Martin/Schumann, S. 223). Diese Hoffnung wird zum Warten auf Godot und führt zur Adaption an den grassierenden Sozialnationalismus als keynesianischer Verfallsform. Wie der rechte endet auch der linke Meinungsumfragen-Populis- mus mit dem Ohr am Puls der Massenbarbarei, statt den Fokus einer neuen emanzipatorischen Gesellschaftskritik zu bilden.
Der fordistisch-keynesianischen Epoche, ihrer bürgerlich-demokratischen Massensubjektivität, ihrer politischen Regulation und ihren Umverteilungsformen nachzutrauern, ist ebenso reaktionär wie es naiv ist, mit der Parole „Es ist genug Geld da“ das global zirkulierende „fiktive Kapital“ für einen neuen Boom reeller kapitalistischer Warenproduktion anzapfen zu wollen. Ein derartiges Revival der politischen Regulation würde nur den sowieso fälligen Entwertungsschock beschleunigen. Was die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik auf die Tagesordnung setzt, ist ein historischer Paradigmenwechsel radikaler Gesellschaftskritik.
Statt immer kläglicher nach „Arbeitsplätzen“ zu winseln, ist das System der „abstrakten Arbeit“ samt seiner destruktiven betriebswirtschaftlichen Rationalität grundsätzlich in Frage zu stellen. Das bürgerliche Wechselspiel von Markt und Staat bzw. Politik geht zu Ende. Soziale Emanzipation ist nur noch möglich jenseits von Markt und Staat, als transnationale Gegenbewegung einer Entkoppelung der Ressourcen von den fetischistischen Formen des warenproduzierenden Systems. Wie sagte doch Karl Marx so schön? „Hic Rhodus, hic salta“!
