Heft 8/2002 — 1/2003
März
2003

Das ist keine Farce

Ein Redaktionsgespräch

Nachdem Hannah Fröhlich letzten Herbst eine kritische Besprechung der Kramar/Leisch-Inszenierung von „Mein Kampf“ veröffentlicht hat, kommt es in der Redaktion des Augustin zu einem handfesten Konflikt, in dem sich Hannah massiv in ihrer jüdischen Identität angegriffen fühlt. In einem längerfristigen Konflikt zwischen der Projektleitung, dem Team und der Mitarbeiterin verschärft sich der Ton. Hannahs Ablehnung der Inszenierung wird nicht ihrer Urteilsfähigkeit, sondern geheimen Rache- und Machtgefühlen zugeschrieben, mit denen sie gegen ihre nichtjüdische Umwelt vorgehe. Antisemitische Angriffe – zu denen die permanente Diskussion, was antisemitisch ist und was nicht, selbst zu rechnen ist – radikalisieren einen Beziehungs- und Teamkonflikt und führen dazu, dass Hannah ihre Stelle kündigt.

Das Eingehen der Context XXI-Redaktion auf Geschehnisse, die immer Gefahr laufen, als „Einzelfall“ abgetan zu werden, und die Veröffentlichung unseres Gesprächs mit Hannah gründet in dem Wunsch, Bewusstsein zu schaffen und eine Reflexion anzuregen, die gerade auch bei fortschrittlichen Projekten dringend nötig ist. Gruppenkonflikte greifen auf Praktiken zurück, die sich Elemente des Antisemitismus, des Rassismus, des Sexismus, der Homophobie und vergleichbarer Diskriminierungskulturen bedienen. Der Verlauf solcher Konflikte ist – strukturell gesehen – oftmals gleich: Es findet Diskriminierung statt, dies wird – oft erst nach langer Zeit – von den Betroffenen artikuliert, darauf folgt eine lange Beweisführung warum der Diskriminierungsvorwurf keineswegs stimmen kann. Häufig richtet sich die Wut neuerlich gegen dieselbe Person und ihre „Anschuldigungen“. Schließlich geht das „Opfer“ und nimmt nicht nur das Leiden, sondern auch sämtliche – ganz materielle – Kosten auf sich. Linke Kollektive und Projekte müssen sich Fragen nach ihrem eigenen Umgang mit Minderheiten, nach latenter Aggression gegen Einzelne oder Teile der Gruppe etc. stellen, nicht nur punktuell sondern selbstkritisch und konsequent, sonst reproduzieren sie beharrlich hegemoniales – und das heißt wohl auch: inkorporiertes – diskriminierendes Verhalten.


Das Gespräch führten Eva Krivanec, Günter Hefler, Hannah Fröhlich und Thomas Schmidinger.

Eva: Hannah, wie hat der Konflikt begonnen?

Hannah: Es sah zunächst so aus, als wäre das „nur“ ein Konflikt zwischen dem Chefredakteur und mir. Es gab eine Sitzung, in der vor den anderen Vorstandsmitgliedern deutlich wurde, dass wir uns bei einer bestimmten Sache nur noch befetzen und zwar bei meinem Artikel zur Inszenierung von Taboris Mein Kampf und der Platzierung der Folgereaktionen darauf. Bei dieser Sitzung wollte sich sonst niemand inhaltlich einmischen und wir bekamen den Auftrag, unsere Probleme im Rahmen einer Mediation in den Griff zu kriegen. Trotzdem war es Sitzungsbeschluss, dass ich solche Artikel in Zukunft nicht mehr schreiben soll, mit der Begründung: die machen so viel Wind. Damit hatte sich die Gruppe bereits gegen mich positioniert. Dass der Chefredakteur und ich auf keinen grünen Zweig kommen würden, damit hat niemand gerechnet. Auch ich nicht. Und ich glaube, dass ich letztlich gegangen bin, tut ihnen allen leid.

Günter: Wie hat Deine Beziehung zum Chefredakteur begonnen?

Hannah: Eigentlich wurde diese Arbeitsbeziehung sehr schnell eng und freundschaftlich, ziemlich bald nachdem ich dort zu arbeiten angefangen habe.

Eva: Spielte es eine Rolle, dass es sich um einen linken Zusammenhang handelt, um ein Umfeld, wo es eher nicht darum geht, irgendeinen Job runterzudrehen, sondern etwas zu bewegen?

Hannah: Mir war das Politische anfangs gar nicht so bewusst. Ich hab in erster Linie das Sozialprojekt gesehen, das hat mich angezogen. In das Politische bin ich erst hineingewachsen, denn ich komme ja von einem ganz anderen Eck. Auf diesem Weg war der Chefredakteur auch mein „Lehrer“. Allerdings kam es im Februar 2000 zu einem Bruch. Damals wurde der MUND (MedienUnabhängiger NachrichtenDienst) gegründet und sehr bald gab es da antisemitische Postings. Ich war ganz entsetzt und habe den Chefredakteur darauf angesprochen. Für mich war das selbstverständlich, mit ihm über solche Dinge zu sprechen. Naja und ich war mit seiner Antwort nicht zufrieden. Ich hab’ das dann verdrängt und mir gedacht, da wird wohl was mit mir nicht stimmen, bis ich dann gemerkt habe, dass es Leute gibt, die auch nicht zufrieden wären mit so einer Antwort. Und dieses Bewusstsein hat mir Stück für Stück genug Kraft gegeben, auch einmal was dagegen zu sagen. Das waren Konfrontationen, die sehr respektlos waren. Wir haben das dann wieder gelassen, unsere Arbeit gemacht und verdrängt, was uns entzweit hat. Nach und nach ist der zeitliche Abstand zwischen Verdrängung und Konfrontation immer kürzer geworden.

Also man kann die ganze Geschichte auch so sehen, dass irgendwann der Zeitpunkt kam, an dem ich mich von meinem „Lehrer“ gelöst habe und er konnte damit nicht umgehen. Es war ja auch so, dass ich als 25-Stunden-Kraft angefangen habe, dann in die Vollzeit gewachsen bin und letztlich ihn ersetzt habe, wenn er nicht da war. Er hat gewusst, das Werk’l läuft, auch wenn er nicht da ist.

Günter: Deine KollegInnen haben Deine Vertretungsposition akzeptiert?

Hannah: Das Redaktionelle hat gut funktioniert. Ich habe versucht, ein bisschen anders zu arbeiten als er, gemeinsame Diskussionen und Feedback einfließen zu lassen und das war für alle angenehm. Aber es war natürlich immer klar, dass er die „graue Eminenz“ ist. Das ist jetzt noch mal deutlicher geworden, sodass niemand mehr dran vorbei kann.

Eva: Das ist aber in dem Projekt, so wie es entstanden ist und sich entwickelt hat, nie in Frage gestanden?

Hannah: Nein, das war nie eine Frage. Er hat mit seiner Lebensgefährtin, die als Sozialarbeiterin dort arbeitet, das Projekt gegründet. Es gab Versuche, das zu thematisieren und wir haben ein ganzes Wochenende Supervision mit diesen Fragen verbracht: Welche Strukturen gibt’s und welche Strukturen wollen wir haben? Aber leider ist die Wurzel von diesen Fragen nicht behandelt worden, denn im Grunde geht’s um Vertrauen. Als Mitarbeiterin brauche ich das Vertrauen, dass Entscheidungen, die mich betreffen, mit mir rechtzeitig besprochen werden. Darum geht es eigentlich.

Günter: Das ist jetzt nur eine vorläufige Vermutung: Es ergibt natürlich einen Konflikt, wenn jemand von dir sehr starke Anerkennung erwartet und Du ihm diese nicht mehr gibst. Ich denke, dass der Chefredakteur deine Bewunderung sehr genossen hat, es genossen hat, dass du ihn fragst, ihm vertraust, seine politische Meinung respektierst und diese bis zu einem gewissen Grad auch übernimmst. Das soll dann plötzlich alles verloren sein. Ich frage mich, ab wann dieses einfache Verhältnis – aus seiner Position heraus – sich zu transformieren begonnen hat. Ich mag den Begriff aus der Psychotherapie vom „Honeymoon“, also der ersten Phase einer Therapie, in der alles ganz wunderbar erscheint, weil es eine so starke positive Übertragung gibt. Ähnliches gibt es in vielen anderen Kontexten: Man beginnt zu arbeiten, ist unheimlich motiviert, findet die andere Person ganz toll und schreibt ganz stark positiv zu und die andere Person ist ganz stark angesprochen, genießt die Anerkennung ungemein. Und irgendwann bricht das Ganze ...

Hannah: Die grundsätzliche Relativierung – das ist ein Mensch und der hat Stärken und Schwächen – fand schon lang vorher statt. Was ich hier mit Februar 2000 meine, war zunächst wirklich ein politischer Konflikt, unterschiedliche Ansichten über die Gefahr von Antisemitismus. In der Mediation hat er gesagt, dass ich für ihn immer die einzige war, mit der er diskutieren konnte, und das hätte er an mir so geschätzt. Als ich ihm dann zu verstehen gab, dass ich nicht mit ihm diskutieren will, war das eine Enttäuschung für ihn. Bloß, für mich waren das keine Diskussionen, sondern Kämpfe, angehört zu werden. Abgesehen davon haben mir seine Statements weh getan. Mich betrifft Antisemitismus eben persönlich, genauso wie Israelpolitik.

Er konnte nicht akzeptieren, dass mich manche Themen in einer anderen Art und Weise betreffen als ihn. Heute weiß ich, dass das auch schon mit Abwehr zu tun hat. Damals aber war es einfach das Gefühl, völlig ignoriert zu werden. Ein Beispiel: Ich habe Verwandte in Amerika, eine Tante lebt in New York City, und der Chefredakteur wusste das. Nach den Anschlägen vom 11. September haben wir die ersten Tage nichts von ihr gehört, es gab keine Verbindung. Wir wussten nicht, was mit ihr ist. Wie gesagt, es war ein sehr enges Arbeitsverhältnis. Wäre die Situation umgekehrt gewesen, hätte ich ihn sicher gefragt, ob mit seiner Familie alles in Ordnung ist. Er hat das nicht getan, er hat nur verbal auf Amerika hingehauen. In der Mediation habe ich ihn gefragt, warum das so war, warum er nicht auf die Idee kam, mir sein Mitgefühl zu signalisieren, wie es möglich war, dass er mich nach viereinhalb Jahren dermaßen „übersieht“. Er hatte auf diese Frage keine Antwort. Ich denke, dass er mich auch davon überzeugen wollte, dass Israel das menschenverachtendste Land mit der schlimmsten Regierung überhaupt ist. Was aber für mich das Schlimmste war: Er hat wiederholt die seiner Meinung nach „guten Juden“ angeführt und mir vorgehalten. Namen wie George Tabori, Peter Zadek, Woody Allen und andere. Dahinter stand, dass ich in seinen Augen keine „gute Jüdin“ bin, weil ich dem nicht entspreche, wie er mich haben möchte, wie ich sein und was ich denken soll. Gleichzeitig war er nie im Stande, mir eine einzige Frage zu stellen. Einfach mal zu sagen: „Du, wie ist das eigentlich für dich?“, „Wie siehst du das?“ oder „Wie gehst du damit um?“ Auch in zehn Stunden Mediation gab es keine Frage.

Günter: Ich suche nach möglichen konkreten Motiven, warum dich der Redakteur antisemitisch, also durch die Nutzung des Instrumentariums, das ein kulturell verankerter Antisemitismus bereitstellt, angreift, warum er Akte der Aggression setzt, warum es diese Vergegenständlichungen von unbewusster Wut gibt. Das ist natürlich spekulativ... Also, er hat ja „nur“ mit dir über Israel gesprochen, obwohl er weiß, dass er Dir damit weh tut (das hast Du ihm gesagt), aber seine politische Meinung, die darf er doch wohl sagen, das kann ihm doch niemand verbieten. Das Ausagieren seiner Wut hat auch noch eine „Rechtfertigung“. Ich mache jetzt einen nicht ganz angebrachten Vergleich, aber in einer anderen Konstellation hätte ein Vorgesetzter plötzlich beginnen können, lauter Fehler zu entdecken. Auf einmal überall ein Beistrichfehler oder: „Wir haben doch sonst die Briefe immer anders gefaltet.“ Plötzlich gibt es eine Unzahl von Zurechtweisungen und wenn er oder sie gefragt wird, warum sie denn so gemein ist, antwortet sie: „Nein, ich nehme nur meine Arbeit ernst!“ Obwohl es doch ganz offensichtlich ist, dass da viel Wut im Spiel ist.

Hannah: Das hat mit dem Tabori-Artikel angefangen. Da war mein Stil dann auf einmal untragbar und am Schluss hat es geheißen, ich sei nicht kompetent, um über Antisemitismus zu schreiben.

Schmidi: Ja, wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Konflikt erst seit dem Artikel über Tina Leischs und Hubsi Kramars Tabori-Inszenierung so eskaliert ist und damit vor allem auch eine politische Komponente besitzt. Euer Chefredakteur sah sich da plötzlich, vielleicht nicht einmal mit seinem eigenen Antisemitismus, aber zumindest seinem eigenen ungeklärten Verhältnis zum Täterkollektiv und dessen Nachkommen konfrontiert. Und er wollte es sich mit diesen nicht verscherzen. Er ist da mit seinem Projekt, das zuvor von allen bejubelt worden ist, in einen Konflikt gekommen, in dem er mit deinem Artikel keine Pluspunkte sammeln konnte. Hier zeigt sich dann die politische Komponente des Konfliktes.

Hannah: Ja, der Vorstand hat sich de facto gegenüber der Öffentlichkeit positioniert und das war eine Stellungnahme gegen mich. Der Chefredakteur hat genau gewusst, warum er das alles so drin stehen lässt, was Hubsi Kramar geschrieben hat, und wieviel Platz er ihm dafür einräumt. Er hat mir auch gesagt, dass er zwar den Begriff ‚Antisemitismuskeule’ selbst nicht verwenden würde, aber das, was dahinter steht, hätte seine Berechtigung. Mein Artikel war eine Übertreibung und eine Denunziation von einem Menschen, der nur „Gutes“ will.

Schmidi: Ja, und es ist insofern auch ein Nicht-Wahrhaben-Wollen von Antisemitismen und Rassismen bei den „Guten“, zu denen sich der Augustin zählt, zu denen sich Hubsi Kramar zählt, Tina Leisch und alle anderen „guten Menschen“. Ein solches Nicht-Wahrhaben-Wollen kann es durchaus auch bei uns selbst geben.

Hannah: Genau. Jetzt ist das aber normalerweise auch noch kein Problem, wenn es unterschiedliche Sichtweisen auf eine Inszenierung gibt: Für mich war die Sache schlecht, für jemand anderen war sie toll, wo ist das Problem? Aber meine Sicht auf die Inszenierung hat offenbar Ängste ausgelöst, die es abzuwehren galt.

Schmidi: Ich glaube, dass die Tatsache, dass es bei der Diskussion um Antisemitismus gegangen ist, diesen Konflikt noch zusätzlich verschärft hat – insofern, als der Vorwurf des Antisemitismus seit Auschwitz so monströs ist, dass jene Antisemitismen, die nicht gleich im Vergasen von Jüdinnen und Juden bestehen, nicht mehr als solche wahrgenommen werden, sondern nur mehr Auschwitz als Antisemitismus gedacht wird. Sekundärer Antisemitismus oder ein sich als Antizionismus gebender Antisemitismus kann als solcher gegenüber sich selbst oder innerhalb einer Gruppierung kaum eingestanden werden und wird somit auch nicht bearbeitbar. Stattdessen wird dann jenen, die Kritik am Antisemitismus „der Guten“ äußern, vorgeworfen, sie würden „Antisemitismuskeulen“ schwingen.

Günter: Ein Problem dabei ist, dass es kein Eingeständnis gibt, dass wir alle an einer Kultur aufgewachsen sind, in der Antisemitismus existiert, und damit Motive übernommen, in unsere Phantasmen eingeordnet und mit allen möglichen Gefühlen besetzt haben. Und das es damit die Aufgabe gibt, all das zu bearbeiten und durch eine angemessene Gegenkultur zu ersetzen. Das gelingt nicht durchgängig, bedarf viel Aufmerksamkeit und oftmaliges Durcharbeiten. Das heißt, wir können bei unser Aufarbeitung Fehler machen, und es geht darum zu lernen, diese Fehler zu sehen und über sie betroffen zu sein – aber auch darum, dass die Fehler nicht einem unveränderbaren Wesenszug entspringen. Das ist ja in der gesamten Charakterlehre des Antisemitismus so. Wenn du ihn – den Antisemitismus – überhaupt hast, dann sitzt er so tief und ist so zusammengeballt, dass er dich völlig bestimmt. Auf einen so fundamentalen Vorwurf antwortest du immer nur mit völliger Abblockung, weil „so ein Mensch“ bist du nicht. Wenn die andere Person sagt, du bist doch so ein Mensch, dann setzt das alles frei, was du nur an Aggression, an Wut in dir aufbringen kannst. Ohne zu merken, was du tust und dass du einen zumeist relativen, bescheidenen Vorwurf – es geht ja oft nur um Kleinigkeiten, um die Wortwahl, um Rücksichtnahmen – zum Anlass nimmst, dich völlig infrage gestellt zu sehen, und es deshalb du bist, der zu einem haltlosen Gegenangriff übergeht.

Was wären für dich jetzt mögliche Reaktionsformen, was wünschst du dir?

Hannah: Einerseits wünsche ich mir, dass sich der Vorstand des Projekts öffentlich zu meinem Abgang positioniert. Ich bin jetzt weg und damit ist es sehr einfach, das, was passiert ist, unter den Tisch zu kehren. Es gibt eine Kollegin, die verstanden hat, was da abgeht und mir auch den Rücken gestärkt hat, so gut sie konnte. Ihr ist es ein Anliegen, die Sache aufzuarbeiten, aber sie weiß so gut wie ich, dass sie das nicht mehr durchbringen wird. Mit einer öffentlichen Stellungnahme müssten sich die Beteiligten zumindest noch einmal damit beschäftigen. Aber das ist nur eine Ebene, denn für mich persönlich gibt es noch viele ungelöste Fragen. Ich kämpfe damit, was ich mit diesen Erlebnissen jetzt mache: Wie kann ich sie sinnvoll verarbeiten, welche Konsequenzen haben sie für mich und meinen Umgang mit Menschen, was bedeuten sie für einen zukünftigen Arbeitsplatz? Dieser Prozess wird noch dauern. Nicht zufällig habe ich mich bei Organisationen beworben, von denen ich glaube, dass ich dort Verständnis für religiöse Interessen finde. Zusätzlich nehme ich an einer psychoanalytischen Großgruppe teil und ich merke, dass mir das hilft. Einmal wöchentlich konfrontiere ich mich mit dem absoluten Wahnsinn.

Eva: Dort geht es auch um Antisemitismus oder um Auseinandersetzung von JüdInnen und Nicht-JüdInnen?

Hannah: Antisemitismus und Nationalsozialismus sind das Thema und das zieht Leute von beiden Seiten an – Opfer- und Täterseite. Dort sehe ich, dass alles, was ich an meinem ehemaligen Arbeitsplatz durchgemacht habe, jedes Element des sekundären Antisemitismus wiederkehrt: das Abstreiten von deklariert jüdischer Identität durch Nicht-Juden, die Zuschreibungen Macht, Verführung, Rache, Manipulation, Diktatur der Opfer, die völlige Gefühlskälte und Arroganz gegenüber „Betroffenheit“ im weitesten Sinn bis hin zum Vorwurf „betroffen“ zu sein, Täter-Opfer-Umkehr, alles das. Und dann immer neue Versuche, mit rationaler Erklärung und persönlichen Geschichten darzustellen, was es ist, was uns Juden schmerzt, wie es sich anfühlt, hier zu leben, woraus der Graben besteht, der Juden von Nicht-Juden trennt – was größtenteils völlig sinnlos ist, weil die Abwehr nicht mit rationalen Mitteln durchbrochen werden kann. Dort sind 80 TeilnehmerInnen und alle diese Elemente kehren wieder und wiederholen sich, wenn neue Personen dazustoßen. Das hat mir geholfen, von dem Gedanken wegzukommen, dass ich nicht fähig war, dem Vorstand verständlich zu machen, worum es geht. Ich wundere mich jetzt nicht mehr, wie das passieren konnte und ich suche keine Teilschuld mehr bei mir selbst. Das ist ganz einfach die Gesellschaft, in der wir leben.

Günter: Wie hat sich dein Verhältnis dazu in den letzten Wochen geändert?

Hannah: Ich denke, ich habe mich auf eine gewisse Art distanziert. Als der Konflikt zu eskalieren begann, habe ich zu einem lieben Freund gesagt: „Du, ich brauch’ was über sekundären Antisemitismus.“ Diese Unterlagen habe ich an einem Wochenende durchgeackert und war völlig von den Socken, als ich entdeckte, dass das, was ich erlebe, nachzulesen ist, einen Namen hat, wissenschaftlich dokumentiert ist. Ich konnte anfangen, den Schmerz von mir persönlich wegzuschieben. Natürlich ist es trotzdem ein Schmerz und auch wenn in der ‚Großgruppe’ bestimmte Sätze fallen, tut das weh, aber es ist anders, weil ich jetzt weiß, dass diese Sätze fallen, egal ob ich selbst anwesend bin oder nicht. Das passiert unabhängig von mir.

Günter: Ich wollte Dich zum Abschluss noch fragen, ob Du Wut verspürst. Zu unserer Wut haben wir ja ein ganz ambivalentes Verhältnis: Einerseits brauchen wir sie, damit wir lernen, uns selbst zu schützen, und uns trennen können. Zum anderen widerspricht sie völlig unserem Selbstbild und dem Anspruch, den wir an uns haben. Wir haben das Gefühl, dass unsere Wut uns selbst ganz stark ins Unrecht setzt und wir unsere Wut deshalb nicht eingestehen dürfen.

Hannah: Wut war natürlich da, die war massiv da. Wut, Ohnmacht, Trauer. Es ist schon besser geworden. Ich mache viel Sport ... Aber das, was ich für mich selber mitnehme aus dem Ganzen, ist was anderes. Sollte einmal jemand in meiner Umgebung derartig behandelt werden, dann hoffe ich, dass ich das Richtige tun kann. Denn wenn jemand sagt: „Ich fühle mich diskriminiert.“, dann lautet der Auftrag herauszufinden, was ich tun kann, damit es demjenigen besser geht, und zu fragen: „Was brauchst du, damit du dich wieder wohl fühlst?“ Und nicht: „Das ist blöd von dir, du übertreibst!“, oder: „Das stimmt nicht, du wirst nicht diskriminiert!“ Das habe ich jetzt begriffen.

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