Das Vergnügen der Assoziation
Die Praxis des Glücks wird subversiv, wenn sie kollektiv ist.
(Felix Guattari)
Zehntausende treffen in Paris zusammen und behaupten: „Eine andere Welt ist möglich“. Der spezifische Mut zum Pathos erreicht somit — auch mit Michael Hardt/Toni Negri — Diskursstränge in der deutschsprachigen Linken, die sich bislang eher an trockener und verbissener Wissenschaftlichkeit oder mechanistischer poststrukturalistischer Terminologie orientierten. Wut und Unverständnis sind oft die Folge dieses Aufeinandertreffens. Verkürzt formuliert geht es wiedermal um die Fragen von Utopie versus Kritik oder noch verkürzter und verbissener, ob in einer so falschen kapitalistischen Welt Vergnügen, Pathos oder Utopie richtig und berechtigt, aber auch progressiv sein können. Klassischen marxistisch-leninistischen Richtungen hingegen war ein etwas anders geartetes trauriges Pathos ja nie fremd.
Lenins Lachen
Die obige Frage lässt sich nicht lösen, zumal auch die Breite politischer Happenings, wie des Europäischen Sozialforums, in keiner Weise überschaubar bleibt. Als kleine Illustration können wir ein Referat von Louis Althusser nacherzählen, das die Relevanz spezifischer Kritik und Wissenschaftlichkeit sowie Einschätzung an deren außerwissenschaftlichen Praxisbezügen misst. Althusser spricht vor der französischen Gesellschaft für Philosophie über seine Konzeption marxistischer Philosophie, er lehnt aber in seinem Vorwort den Rahmen und die Wertigkeiten philosophischer Tradition ab, und die daraus resultierende philosophische Kommunikation. „Philosophical communication. This term would certainly have made Lenin laugh, with a whole hearted, open laugh by which the fisherman of Capri recognized him as one of their kind and on their side.“ [1]
Nun, auch das ist Pathos, aber der wesentliche Punkt eines Außenbezugs auf nichtsystemimmanente Praxen löst einen Knoten der Argumentation.
Das ESF-Festival
Unter den verschiedenen situationistischen Verfahren ist das Umherschweifen eine Technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen. (...) Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die Ihnen im Allgemeinen bekannten Bewegungs- bzw. Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen zu überlassen. Dabei ist der Anteil des Zufälligen weniger ausschlaggebend, als man es im Allgemeinen glaubt: Vom Standpunkt des Umherschweifens haben Städte ein psychogeografisches Bodenprofil mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen.
(Guy Debord)
Die Menschen können nichts um sich herum sehen, was nicht ihr Gesicht ist, alles spricht zu ihnen von ihnen selbst. Selbst ihre Landschaft ist beseelt.
(Karl Marx)
Die Festivalstimmung des ESF dominiert das häufig ziellose kollektive Umherschweifen der TeilnehmerInnen durch die Menge von Workshops, Seminaren der unterschiedlichsten Ausrichtung und Qualität und bietet auch eine eigene Qualität der Wahrnehmung. Veranstaltungen der globalisierungskritischen Bewegung bilden die jeweiligen Verfasstheiten der Organisierung ab, sie fokussieren auch Interessen und basieren auf zwei Prämissen, die polarisierend wirken: „Gegen Krieg und Neoliberalismus!“
Kann diese Form des Austauschs konsumiert werden, obgleich die lautstark artikulierte undifferenzierte Antikriegspropaganda abstoßend wirkt? Selbst die allgemeine Opposition gegen die herrschende Form kapitalistischer Vergesellschaftung und deren Analyse oder verkürzte Kritik bedürfen der konkreten Auseinandersetzung, in der Heterogenität der Ansätze müssen [2] etwa sexistische, rechtsextreme, antisemitische Positionen benannt werden.
Die globalisierungskritische Bewegung bietet eine Bühne auch für einfache „Wahrheiten“ und wäre als Tribüne der Wahrheit völlig ungeeignet. Konkrete Erfahrungen des ESF 03 erzählen von oberflächlichen Darstellungen theoretischer Bezüge und fehlender Orientierung auf aktionsorientierte Ansätze, Ansätze die ein kollektives Erlebnis eines anderen sozialen Gefüges ermöglichen, oder schlicht über eine herkömmliche Demonstration hinausweisen, und die nicht kritiklos und widerstandslos verharren, wenn Plakate wie „Intifada global“ eine Aufforderung zu Suicide-Bombings darstellen.
Der Wunsch nach Assoziation und die wirkungsmächtige Assoziation (Multitude)
Um die Mechanismen der Vereinzelung und Konditionierung kapitalistischer Vergesellschaftung zu durchbrechen, bedarf es einer rhizomatischen Praxis („to be something else at the same time“ [3]), eines Regimes der Vielfalt — für das soziale Rahmen wie das ESF zumindest günstige Voraussetzungen bieten. Der Reduktion auf das einförmige Funktionieren in einem Verwertungsprozess kann das Betonen der vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten und Vermögen der AkteurInnen entgegengehalten werden.
Der Blick auf Formen des sozialen Zusammenschlusses, der Massenbildung, der Assoziation ist gegenwärtig gründlich verstellt durch nationalsozialistische TäterInnen und ZuschauerInnen oder randalierende Horden von Fußballfans. Dies darf aber nicht über die Grundnotwendigkeit radikaler Singularität in kollektiven Formen hinwegtäuschen.
Sicheres Nachtlager als Bild
„Der Mensch muss nicht nur essen, trinken, koitieren — er/sie muss ganz entschieden auch schlafen, und zwar lange und tief genug.“ [4] Und dieses Schlaf-Bedürfnis ist nur von Assoziierten gesichert in der notwendigen Tiefe sicher. In dieser anthropologisch gefärbten Darstellung ist ein wesentlicher Tatbestand enthalten: Der Mensch ist ein soziales Wesen. [5] Nebenbei ist Sicherheit nicht militärisch zu denken.
Das Kollektiv als grundlegende Kategorie von Freiheitsbestrebungen zu setzen, keine mühsamen Wege der Vermittlung und des Ausgleichs zu formulieren (damit würde an einer heterogenen, vermeintlich unvereinbaren Individualität festgehalten), [6] sondern von fundamentalen, geteilten Begierden (cupiditas) auszugehen, potenziert das Vermögen (gegen die Macht) und führt von einer angstbesetzten Einsamkeit zur Gesellschaftlichkeit, zu einer kollektiven Praxis.
Die benötigte „destruktive Waffe“, Dekonstruktion auf der Ebene der Theorie und Subversion in der Praxis, [7] kann benannt werden; die „radikale Gegenmacht“ liegt im Handeln der Multitude, ihrer Kreativität, ihrer Produktion. Die wilde widerspenstige Anomalie (Spinoza in der Lesart Negris) weist auf die „historische Überwindung jeglicher Ordnung, die nicht von den Massen in Freiheit konstituiert ist;“ diese Massen (moltitudine), die in dem gemeinsam mit Michael Hardt verfassten, breit rezipierten Entwurf Empire eine bedeutende Rolle spielen, bilden — entsprechend der operaistischen Interpretation — die Grundlage umfassender Transformation. „Freiheit“ bedeutet genau dieses Vermögen (potentia) zur Veränderung, die keine Form der Macht im Sinne von Herrschaft oder Unterdrückung, Verfügungsgewalt meint, sondern produktiv durch Selbstbestimmung und Emanzipation konnotiert wird: „Die Befreiung aus einer unbequemen Vergangenheit hat überdies keinen Wert, wenn sie nicht darauf angelegt ist, die Gegenwart zu genießen und die Zukunft zu produzieren.“ [8]
Es geht um die Differenzierung verschiedener Typen von assoziativen Prozessen, um nichts Anderes als die Überlegung von Mitteln und Wegen für widerständige assoziative Bewegungen.
Die Bedeutung der Allianz, der Kollektive und Assoziationen — in klarer Absetzung von klassischen Begriffen von Masse — besteht in der Wahrnehmung von Variationen und in der Kollektivierung von Wünschen, wohingegen das individualistisch-autonome Subjekt, seine Gewissheiten und klaren Trennungen zu Geschlossenheitsphantasien führt, die das Begehren und die hedonistischen Vergnügen begrenzen.
Eine Vervielfältigung der Identifizierungen muss möglich sein, die vermittels kritischer Reflexion der konstitutiven Ausschlüsse jene als Demokratisierung nur unzureichend beschriebene Intention verdeutlicht, das Ideal der Eindeutigkeit und Sicherheit zu verlassen, die Gewalt herrschender Formationen in der Normalisierung strikter Grenzen des Sagbaren, Wünschbaren oder Erreichbaren zu dekonstruieren und dadurch die Fülle der Möglichkeiten zu eröffnen.
Woraus wäre andernfalls die Motivation der Handlung zu gewinnen, wenn die Zielorientierung in ähnlich festgefügten Mustern läge, als die vorgegebenen Rollen ohnehin gewähren? Emanzipative Entwürfe, deren Disziplinierung rigoros erfolgt — um dem einen (oder der Palette an) Ideal(en) des/der radikalen Linken zu genügen — wären ähnlich wenig vergnüglich und lustvoll, wie die Figur der „guten Mutter“ oder des „aufrechten Konservativen“ auszufüllen. Qualitative Unterschiede verschwinden so in der Affirmation der Strenge und Akzeptanz enger Grenzen. „Das Problem ist nämlich nicht das der Herrschaftsformen, sondern das der Befreiungsformen.“ [9]
[1] Louis Althusser: Lenin and Philosophy. in: Ders.: Lenin and Philosophy and other Essays. London 1971, S. 29. Bezugspunkt bildet ein Treffen Lenins mit Gorki auf Capri 1908.
[2] Wie allgemein ist dieses „müssen“: Wer kann für die gesamte Unüberschaubarkeit Verantwortung übernehmen? Um pathetisch zu bleiben: da wuchert vieles. Worauf die kritische Einschätzung richten, um nicht wie Fred Sinowatz in einem „alles ist so kompliziert“ oder populär-adornistisch einem „irgendwo ist was falsch“ zu erstarren?
[3] Felix Guattari: A Liberation of Desire, in: Chaosophy. Soft Subversions. New York 1996, S. 56
[4] Jürgen Link: Association und Interdiskurs, in: kultuRRe- volution, Nr. 38/39, 1999, S. 22
[5] vgl. Claude Adrien Helvetius: Vom Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten. Berlin 1976. Helvetius argumentiert, der Mensch sei vereinzelt, als isoliertes Atom unerklärbar. Vom Menschen zu handeln setzt Gesellschaft und Assoziation voraus. „Das Erkenntinisobjekt ‚der Mensch‘ verwandelt sich unversehens in das ‚die Menschen‘ (Helvetius). Jeder Versuch einer Interpretation, der das Wesen des Menschen finden soll, erkennt ihn so, dass sie ihn in naturaler und sozialer Verflochtenheit vorfindet, und ein Denkansatz, der vielleicht individualistische Wünsche von zu Hause mitgebracht hat, ist rasch genötigt, einer sozialen Betrachtungsweise den Platz abzutreten.“ (Leo Löwenthal: Philosophische Frühschriften. Frankfurt a. M. 1990, S. 20)
[6] Negri fasst den Gedanken des Kollektivs als „eine — ontologische — Bestimmung des Verhältnisses Vielfalt-Einheit“. (Antonio Negri: Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft. Berlin 1982, S. 156)
[7] Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a. M. - New York 2002, S. 376
[8] Negri, a. a. O., S. 13
[9] ebd., S. 247
Lieber ohne Juden?
Offenbar geht kein Treffen der globalisierungskritischen Bewegung ohne antisemitische Vorfälle über die Bühne. Bereits Anfang dieses Jahres wurde beim 3. Weltsozialforum in Porto Allegre eine Gruppe von Juden und Jüdinnen tätlich angegriffen, weil sie ein Transparent mit der Losung „Zwei Völker — Zwei Staaten: Frieden im Nahen Osten“ hochhielten.
Im Falle des Europäischen Sozialforums (ESF) in Paris kam es schon im Vorfeld zu heftigen Diskussionen. Ausgelöst wurden sie durch die Einladung Tariq Ramadans, der französischen Intellektuellen vorwarf, sie würden ausschließlich als „Juden“ und im Dienste Israels agieren. Alain Finkielkraut reagierte im Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 12. November auf die Aussagen des Schweizer Islamisten: „Ich halte eine kritische Auseinandersetzung mit der Globalisierung für zwingend. Eine Massenbewegung ist im Entstehen begriffen, aber bevor ich mich überhaupt mit ihr befassen kann, hat sie mich schon ausgeschlossen.“ Finkielkraut fürchtet, dass der Antisemitismus „bei den Globalisierungsgegnern eine große Zukunft vor sich“ hat. Und er gesteht ein, dass er lange gebraucht hat, um zu realisieren, dass der Antisemitismus heute im Gewand des Antirassismus und der Menschenrechte auftritt.
Am ESF wurden AktivistInnen der Aktion 3. Welt Saar mit Gewalt am Verteilen eines mehrsprachigen Flugblattes gehindert und von Ordnern unter Androhung, die Polizei zu rufen, vom Veranstaltungsort verwiesen. Einem Aktivisten der Aktion 3. Welt Saar wurde im Forum Racism, xenophobia, anti-Semitism kein Rederecht gewährt. In dem Flugblatt wurde das Existenzrecht Israels bejaht und für eine politische Lösung des Nahostkonfliktes geworben. Wörtlich hieß es: „Eine Lösung des Nahost-Konfliktes kann es nur geben, wenn die israelische Bevölkerung die soziale Lage der palästinensischen zur Kenntnis nimmt, und die arabische die Shoah als Hintergrund für die Existenz Israels. Wir in Europa sollten alle auf beiden Seiten unterstützen, die das Verständnis für die jeweils andere Seite fördern.“ Solche Positionen haben offenbar keinen Platz am ESF, das von sich behauptet, ein „offener Treffpunkt für den Austausch von Meinungen und Erfahrungen“ zu sein.
