Heft 8/2004
Dezember
2004

„Das Volk gefällt mir aber nicht“

Der Franctireur-Mythos und der Einmarsch der Deutschen in Belgien 1914

Ohne Polemik und mit Akribie be­weisen Alan Horne und John Kra­mer, zwei Historiker des Trinity Col­lege in Dublin, in Deutsche Kriegs­greuel 1914 auf 700 spannenden Seiten, wie wichtig eine Auseinan­dersetzung mit dem Ersten Welt­krieg für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist.

Nach der Erfahrung des Kriegs von 1870/71 — zentraler Referenzpunkt für die preußische Militärdoktrin, die sich je­doch bis 1914, wie Horne und Kramer dar­legen, hin zu einer Ideologie des Vernich­tungskriegs radikalisiert hat — war die Figur des „Franktireurs“, des nicht uniformierten, versteckten, aus dem Hinterhalt angreifen­den „Freischärlers“ ein gängiges Stereotyp geworden. Es verband sich mit den aggressiven und zugleich paranoiden Zügen des deutschen Nationalismus, der Idee einer feindlichen „Einkreisung“ Deutschlands und der Bedrohung der völkischen Einheit durch „innere Feinde“ — nationale Minderheiten, Katholiken, Proletarier.

Diese verbreiteten Vorstellungen ver­dichteten sich zu einer kollektiven „Autosuggestion“ erschreckenden Ausmaßes, die zum Zeitpunkt der Invasion Belgiens und Nordfrankreichs im August 1914 allen auf­findbaren Quellen nach eine reine Schimäre darstellte. Dennoch fand der an jeder Ecke lauernde, „feige und hinterhältige“ Frank­tireur über Berichte der militärischen Lei­tung vor Ort Eingang in die offiziellen Mi­litärberichte, verbreitete sich über Medien und Postkarten im Hinterland. Diesen Fra­gen widmen Horne und Kramer einen we­sentlichen Teil ihrer Studie. Sie beleuchten dabei sowohl den „Legendenkomplex“, die Erzählungen und Gerüchte über „belgische Gräuel“, deren Struktur immer wieder die gleiche ist, als auch die ideologischen und mentalitätshistorischen Voraussetzungen. Ein interessantes Detail: Die Autoren stel­len einen Zusammenhang zwischen der deutschen Kolonialpolitik, im speziellen dem „Vernichtungsfeldzug gegen die Herero in den Jahren 1904 bis 1907“ (S. 253) und der gesteigerten Skrupellosigkeit in der Gewal­tausübung gegen ZivilistInnen beim Ein­marsch in Belgien her.

Im ersten Teil des Buchs richten Horne und Kramer ihre Aufmerksamkeit auf die konkrete Wirklichkeit der deutschen Inva­sion in Belgien, wo das deutsche Militär nach „Schlieffen-Plan“ unter Missachtung aller völkerrechtlichen Bestimmungen einmarschierte. Sie verarbeiten und vergleichen Archivmaterial aus acht Ländern und re­konstruieren minutiös aus den vorhandenen Quellen — die Akten des deutschen Gene­ralstabs und der preußischen Armee wur­den im Zweiten Weltkrieg vernichtet — die ersten drei Kriegswochen. Bereits in den er­sten drei Tagen der Invasion, vom 5. bis zum 8. August, fanden Massenhinrichtungen von ZivilistInnen, Plünderungen und die Zer­störung von Dörfern statt, es wurden fast 800 Menschen umgebracht und 1300 Ge­bäude in Brand gesetzt.

Die feste Überzeugung, dass die deut­schen Soldaten einem unkontrollierten „Volkskrieg“ gegenüber stehen, der von be­waffneten ZivilistInnen geführt werde, ließ jeden unkontrollierten Schuss, meist aus den eigenen Reihen, zu einem Vorwand für ein brutales Vorgehen gegen die Dorfbevölke­rung werden. Erzählungen über „Gräuel“ an deutschen Soldaten — Mädchen oder alte Männer etwa, die den Soldaten die Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen hätten — folgte unmittelbar die „Vergeltung“. Laut Horne und Kramer wurden während der Invasion etwa 6.500 ZivilistInnen vor­sätzlich von deutschen Soldaten getötet und mindestens 15.000 Häuser zerstört.

Die „Wahnvorstellung“ des Franktireur-Kriegs externalisierte die eigene Panik und „produzierte ein Bild des Feindes, das eine gewalttätige Entladung der Angst ermöglichte“ (S.158).

Dieses Vorgehen des deutschen Militärs führte bei den Alliierten zur Bestätigung der eigenen Position als „Kampf gegen die Bar­barei“ und zu einer Propaganda-Kampagne über die „deutschen Gräuel“ — deren Dar­stellung sich ebenfalls zu „Legenden“ verselbständigt hatte —, die in den neutralen Ländern große Wirkung erzielte und der die deutsche Regierung und Militärführung nur wenig entgegenzusetzen hatte.

Horne und Kramer weisen darauf hin, dass es nach dem Krieg in den alliierten Staaten eine zunehmende Skepsis gegenü­ber den eigenen Darstellungen „deutscher Gräuel“ gegeben hat und diese als übertrie­bene Propaganda entlarvt wurden. Auch das stand einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der tatsächlichen Vorfälle im Weg. In Deutschland hingegen hielt sich — gestärkt durch die sogenannte „Schmach von Ver­sailles“ und mangelndes Unrechtsbewusst­sein — der „Franktireur-Mythos“ ganz allge­mein als Hass gegen „irreguläre Kämpfer“ und als Rechtfertigung für Kriegsverbre­chen.

John Horne, Alan Kramer: Deutsche Kriegs­greuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hamburger Edition: Hamburg 2004, 741 Seiten, Euro 41,20.

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