MOZ, Nummer 50
März
1990

... denn sonst sind wir zum Tod verurteilt

Josef Vavroušek ist derzeit für das Zukunftsprogramm des Bürgerforums verantwortlich. Er war eines der ersten illegalen Mitglieder und ist von Beruf Umwelttechniker. Ulrike Sladek sprach mit ihm in Prag über die tschechoslowakische Umweltproblematik.

MONATSZEITUNG: Hat sich die Revolution im Verwaltungsbereich schon ausgewirkt, ist es schon einfacher geworden, an Dokumente oder Studien heranzukommen, die unter Verschluß gehalten wurden?

Vavroušek: Wir versuchen gerade, das Stückwerk an Information zusammenzusetzen und zu vereinfachen. Aber es gibt auch weiße Flecken, wo wir nicht genügend Information besitzen, z.B. was die Abnahme der Bodenqualität betrifft, verursacht durch schlechte Technologien, Schwermaschinen und veraltete Methoden. Wir mußten die Information in diesem Bereich erst sammeln.

Most, Teplice und Chomutov, die Braunkohlestädte Nordböhmens, werden ja besonders stark durch SO2 in Mitleidenschaft gezogen. 3.000 mg/m3 werden als Höchstwerte gemeldet. Der europäische Durchschnittswert liegt bei ca. 16 mg/m3, der tschechoslowakische Grenzwert ist mit 150 mg/m3 festgesetzt.

Das ist richtig, die Höchstkonzentration liegt bei über 3.000 mg/m3, und zwar in Nordböhmen und in Prag. Noch gefährlicher allerdings ist die Konzentration während einer Inversion, die besonders in Teplice sehr häufig ist. Dort dauert sie oft drei Wochen ununterbrochen an. In Chomutov z.B. herrscht an durchschnittlich hundert Tagen im Jahr Smog, wo Abgase bis über dem 20fachen der Grenzwerte ausgestossen werden. In Prag herrscht die gleiche Situation. Die schlechteste Luft ist im Stadtzentrum, wo der private Hausbrand durch den Braunkohleverbrauch einer der Hauptverursacher ist. Abgesehen davon gibt es kein einziges Kraftwerk mit einem SO2-Filter, alle Schwermetalle gelangen ungehindert in die Luft. Die Kohle ist von sehr hoher Qualität, im Schnitt mit einem Gehalt von 2% Schwefel, oft aber bis zu 12%. Wenn wir allerdings diese Kohle verbrennen, ist es sehr gefährlich, da all dieser Schwefel beim Verbrennen in die Luft abgegeben wird.

In Nordböhmen ist die Lebenserwartung angeblich um 10 Jahre kürzer als in der übrigen Tschechoslowakei ...

Im Schnitt ist sie 4 Jahre kürzer. Wichtiger ist, daß an manchen Orten schon genetische Veränderungen festzustellen sind, da die Konzentration von mutationsfördernden Elementen schon so stark ist. Die Folgen sind Geburtsschäden, eine steigende Anzahl von Erkrankungen der Atmungsorgane. Es ist notwendig, die Lungen zeitweise mit Luft zu waschen, sonst ist es nicht auszuhalten. Ich war jetzt zwei Monate durchgehend im Zentrum von Prag und ich habe ständigen Husten.

Das Immunsystem verschlechtert sich täglich. Normalerweise ist ein Nachlassen der körperlichen Immunverfassung ab dem vierzigsten Lebensjahr zu verzeichnen, hier bei uns beginnt der Verfall bereits ab dem 25. Lebensjahr. Das heißt, daß das Erkennen und Behandeln der Krankheiten sehr schwierig wird. Wir finden eine steigende Anzahl von sich verselbständigenden Krankheiten. Z.B. gibt es Kinder, die nicht in sauberer Luft leben können, weil sie schon „ausgerüstet“ sind, in verschmutzten Gebieten zu leben. Wenn Sie diese Kinder zur Erholung in frische Luft schicken, können sie dort gar nicht schlafen. Zuviel Sauerstoff. Es ist daher nicht sinnvoll, diese Kinder nur für kurze Zeit auf Lufterholung zu schicken. Die Umstellung auf saubere Luft ist für sie sehr gefährlich, ein großes Streßmoment.

Es ist ein Teufelskreis: die Menschen sterben an der Umweltverschmutzung, gleichzeitig sind sie aber schon so an die schlechten Bedingungen angepaßt, daß sie auch in einer gesunden Umwelt nicht mehr leben können.

Wie wollen Sie diesen Teufelskreis durchbrechen?

Das politische System muß verändert werden, das ist die erste Aufgabe, die zweite ist, den Wissensstand der Menschen zu erweitern. Sie wissen oft nichts über die Dinge, die die Umweltqualität vermindern, auch nichts über ihren eigenen Beitrag zur Umweltverschmutzung. Und das dritte ist, die Wirtschaftsstruktur zu verändern. Wir haben einen sehr hohen Energieverbrauch, mit einem kontinuierlichen Anstieg von 5% pro Jahr seit vielen, vielen Jahrzehnten. Es ist nicht möglich, solch eine Entwicklungsstrategie beizubehalten.

Die Tschechoslowakei steht weltweit an vierter Stelle des Primärenergieverbrauches.

Ja, das stimmt. Aber unsere Regierung, die kommunistische Partei, war nicht fähig, dem Rechnung zu tragen, nicht fähig, Entscheidungen zu treffen.

Als Beispiel: Zu Beginn der sechziger Jahre produzierten wir 6 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr, sogar in Zeiten, wo wir nichts verkaufen konnten. Gegenwärtig produzieren wir 16 Millionen Tonnen pro Jahr. Der Weltmarktpreis von Stahl ist sehr tief gesunken, und wir erzeugen mit einem sehr hohen Energieaufwand und unter beträchtlicher Umweltschädigung, nämlich mit Braunkohle. Und deshalb müssen wir die Wirtschaftsstruktur, die Technologie verändern. Das ist der Grund, das politische System zu verändern. Würden wir es nicht verändern, ginge es einfach immer so weiter.

Welche Lösungsversuche sehen Sie für die Zukunft? Ist die Errichtung von Kernkraftwerken wirklich der einzige Ausweg?

Ich denke, als erstes muß der Energieverbrauch radikal gesenkt werden. Aber wir können nicht sagen, daß wir gar keine Atomkraftwerke benutzen, da wir keine natürlichen Quellen haben. Unsere Flüsse sind zu klein, wir beziehen nur 4% der Energie aus Wasserkraftwerken. Wir haben auch keinen Wind, um Windmühlen zu betreiben. Aber ich bin sicher, daß wir die Kernenergie verwerfen, sobald es möglich ist.

Weltweit stellt sich die Frage der Entsorgung der Nuklearabfälle. Wie gedenken Sie dieses Problem zu lösen, wenn sich kein Land zur Endlagerung findet?

Vielleicht finden wir einen Ort in der Wüste Gobi oder in China, wo wir den radioaktiven Abfall vergraben können, zu einem relativ niedrigen Risikoniveau. Wir haben einen viel höheren radioaktiven Ausstoß in die Luft, als Atomkraftwerke jemals verursachen würden.

Das liegt daran, daß in der geologischen Schichtung Nord-Böhmens die Braunkohle auf Uran folgt, sodaß diese natürlich angereichert ist.

Genau, das bedeutet, daß sich auch in der Braunkohlenasche radioaktive Partikel befinden. Das ist sehr gefährlich, besonders für die Menschen. Die radioaktiven Teilchen dringen durch das Atmen in die Lunge ein und verursachen Krebs und andere irreparable Schäden. All das kann man nicht von einem Tag auf den anderen lösen, sondern es muß eine schrittweise Veränderung erfolgen.

Zuerst muß man den Leuten ermöglichen, etwas zu erfinden, zu handeln, sich neu zu orientieren, vor allem in bezug auf den Dienstleistungs- und Umwelttechnologiesektor, die erst neu zu entdecken sind, also ein längerfristiges Projekt darstellen. Wir müssen aber jetzt sofort damit anfangen, denn sonst sind wir zum Tod verurteilt.

70% unseres gesamten Waldes sind tot, ab einer Seehöhe von 750m lebt kein einziger Baum mehr.

Bislang erhalten die nordböhmischen Kohlearbeiter, wenn sie nachweislich mindestens zehn Jahre in den verseuchtesten Gebieten gearbeitet haben, einen höheren Lohn. Das heißt, sie werden dafür bezahlt, eines frühen Todes gewiß zu sein.

Ja, sie werden dafür höher bezahlt, dort zu bleiben. Dieses Geld trägt das Etikett: Begräbnisgeld. Es ist wirklich so, und in Prag ist fast die gleiche Situation. Ein kleiner Unterschied liegt in der Struktur der Luftverschmutzung.

In der Tschechoslowakei werden gerade einige grüne Parteien gegründet. Von einer, die sich „die Grünen“ nennt, wird erzählt, daß sie von Ex-Staatssicherheitsleuten unterwandert ist.

Ja, das war am Anfang so. Aber ich bin sicher, daß „die Grünen“ diese Leute aus der Partei bzw. aus Entscheidungspositionen entfernen können. Sie achten mittlerweile sehr darauf, und ich denke, daß diese neue grüne Partei ganz in Ordnung ist. Es gab hier in Prag eine Gruppe von Geheimdienstleuten, aber die sind alle isoliert, die können nichts mehr tun, sie haben keinen Einfluß mehr. Es war zwar ein unglücklicher Anfang für diese Partei, doch das ist nun vorbei.

Glauben Sie, daß das Bürgerforum bei den zukünftigen Wahlen einen integrativen Faktor darstellen wird oder daß all diese vielen Vereine, die jetzt gegründet wurden, sich als Parteien konstituieren wollen?

Das hängt von der Situation ab. Von Anfang an gab es mehrere kleine Parteien, die sich aber dem Bürgerforum anschlossen, die jetzt ihren Beitrag innerhalb des Forums leisten. Die werden wohl mit dem Bürgerforum einen Block bilden. Bei den grünen Parteien bin ich mir nicht ganz sicher. Aber das ist nicht so wichtig. Dem Bürgerforum geht es nicht darum, die Wahlen zu gewinnen, sondern eine demokratische Gesellschaft zu errichten. Das ist der Erfolg, und nicht, soundsoviele Stimmen zu gewinnen. Es ist nicht unser Ziel, die kommunistische Partei durch ein anderes totalitäres System zu ersetzen. Wir unterstützen das Entstehen von neuen Parteien, von jenen, die demokratisch sind. Bis jetzt ist das alles nicht so wichtig.

Die angestrebten wirtschaftlichen Veränderungen erfordern ja auch eine veränderte Außenpolitik, auch am Umweltsektor. Sie sprachen mit Österreichs Umweltministerin Flemming, die vor kurzem mit einer Delegation von Umweltberatern in Prag war. Welche Zusammenarbeit haben Sie vereinbart?

Ich bin überzeugt davon, daß jegliche Lösungen im Umweltbereich nur gemeinsam zu erreichen sind, im globalen gesehen. Wir unterstützen natürlich auch die Zusammenarbeit mit Österreich, auch industriell. Aber ich denke nicht, das dies zu einem einseitigen Beitrag führen kann. Wenn Sie vielleicht auch die höher entwickelte Technologie in Wien haben, haben Sie nicht soviel Personal für die Forschung bereitstehen. Wir haben eine Menge Leute in der Grundlagenforschung, Spezialisten auf dem Gebiet der Biotop-Forschung. Aber wir laden alle Industriezweige ein, mit uns auf der Basis wirtschaftlichen Austausches zusammenzuarbeiten. Es wäre sehr wichtig, auch auf dem Bereich des Studentenaustausches zusammenzuarbeiten.

Und wie steht es mit einem EG-Beitritt?

Ja, manchmal könnte er sehr nützlich sein. Und ein grundsätzlich neues Europa schaffen. Eines der Felder, wo es wichtig und möglich ist zu beginnen, ist der Bereich des Umweltschutzes.

Und so ist es notwendig, Diskussionen auf allen Ebenen zu beginnen und Lösungen zu finden, die alle Faktoren einschließen. Man muß den Verbrauch reduzieren, nicht nur in der Industrie, sondern man muß auch das Konsumverhalten ändern. Ich befürchte, daß die westliche Gesellschaft zu sehr auf den Konsum materieller Güter konzentriert ist. Das kann nicht der Sinn des Lebens sein, es kann nur der Weg des Überlebens sein. Wir müssen das Wertesystem und den Lebensstandard verändern, aber so, daß wir den materiellen Konsum in natürlichen Grenzen halten — und nicht an dem Kreislauf von Überkonsumtion, Überproduktion und so weiter teilnehmen. Das ist als längerfristige Perspektive sehr gefährlich für alle Länder der Welt.

Nach dem Nein der Ungarn zum Kraftwerksbau steht in der Tschechoslowakei, in Gabcikovo, nun ein fast fertiggestellter Komplex, der aber nicht in Betrieb gehen kann, da das Flußbett der Donau durch Wasserableitung austrocknen würde. Was geschieht jetzt mit diesem Relikt?

Das ist ein sehr schlechtes Projekt. Ich hoffe, daß es möglich sein wird, eine Kompromißlösung zu finden. Wir können es nicht so lassen, wie es jetzt da steht. Ein 17km langer künstlicher Kanal, der zum Teil zig Kilometer breit ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Auswirkung auf die Umwelt war schon so katastrophal — und ist es bis heute —, die ganze Landschaft dort ist zerstört, angefangen von den Veränderungen des Grundwasserspiegels usw.

Wir denken, daß die beste Lösung darin liegt, den ersten Damm von Gabcikovo fertigzustellen und das Kraftwerk mit halber Kraft zu betreiben, sodaß im alten Flußbett ausreichend Wasser verbleibt. Der Grundwasserspiegel muß so hoch gehalten werden, wie es notwendig ist, das Überleben der Aubäume zu gewährleisten. Wir glauben, daß es, um den Bau des Nagymaros-Dammes zu verhindern, notwendig ist, eine sehr kleine Stufe — drei Meter hoch — zu bauen, um den Wasserpegel anzuheben und die Schiffahrt aufrechtzuerhalten. Das könnte die Kompromißlösung sein. Ich sprach mit ungarischen Freunden, die auch — zum Großteil — meinen Standpunkt teilen. Ich hoffe, daß eine Klärung in naher Zukunft möglich sein wird.

Wir danken für das Gespräch.
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