Internationale Situationniste, Numéro 12
 
1977

Der Beginn einer Epoche

„Wir sollten lange genug leben, um eine politische Revolution zu sehen? Wir, die Zeitgenossen dieser Deutschen? Mein lieber Freund, Sie glauben wohl, was Sie wünschen!“ — so schrieb Arnold Ruge im März 1844 an Marx. Vier Jahre später aber war die Revolution da. Als belustigendes Beispiel einer historischen Ahnungslosigkeit, die zeitlos dieselben Wirkungen erzeugt, da sie immer reichlicher mit ähnlichen Ursachen versorgt wird, wurde Ruges unglücklicher Satz als Motto für die im Dezember 1967 veröffentlichte Die Gesellschaft des Spektakels zitiert und sechs Monate später ereignete sich die Bewegung der Besetzungen, die größte revolutionäre Bewegung, die Frankreich seit der Pariser Kommune gekannt hat.

Der größte Generalstreik, der jemals die Wirtschaft eines hochindustrialisierten Landes zum Stillstand gebracht hat und der erste wilde Generalstreik der Geschichte; die revolutionären Besetzungen und Entwürfe direkter Demokratie; die immer stärkere Auflösung der Staatsmacht fast zwei Wochen lang; die Bestätigung der gesamten revolutionären Theorie unserer Zeit und sogar hier und da der Beginn ihrer teilweisen Verwirklichung; das wichtigste Experiment der modernen proletarischen Bewegung, die zur Zeit in allen Ländern ihre vollendete Form herausbildet, und das Modell, das sie künftig überwinden muss — das war im wesentlichen die französische Bewegung des Mai 1968, das war bereits ihr Sieg.

Weiter unten wollen wir über die Schwächen und Unvollkommenheiten der Bewegung sprechen, die natürlichen Folgen des Unwissens und der Improvisation sowie der toten Last der Vergangenheit selbst dort, wo diese Bewegung sich am besten behaupten konnte. Folgen vor allem der Trennungen, deren Verteidigung allen verbündeten Kräften der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung gerade noch gelungen ist, wobei die bürokratischen, politisch-gewerkschaftlichen Führungskräfte sich in dem Augenblick, in dem es für das System um Leben oder Tod ging, mehr und besser als die Polizei darum bemüht haben. Zuerst aber wollen wir die offensichtlichen Charakterzüge der Bewegung aufzählen, dort, wo ihr Mittelpunkt war, und wo sie ihren Inhalt am freisten durch Wort und Tat zum Ausdruck bringen konnte. Dort proklamierte sie ihre Ziele sehr viel ausdrücklicher als jede andere spontane revolutionäre Bewegung der Geschichte; und sehr viel radikalere und aktuellere Ziele als sie die revolutionären Organisationen der Vergangenheit selbst in ihren Glanzzeiten je formulieren konnten.

Die Bewegung der Besetzungen war die plötzliche Rückkehr des Proletariats als geschichtliche Klasse — eines Proletariats, das sich auf eine Mehrheit von Lohnempfängern der modernen Gesellschaft ausdehnte und immer noch die wirkliche Abschaffung der Klassen und des Lohnwesens als Ziel hatte. Diese Bewegung war die Wiederentdeckung der gleichzeitig kollektiven und individuellen Geschichte, des Sinnes einer möglichen Intervention in die Geschichte und des unwiderruflichen Ereignisses mit dem Gefühl, dass „nichts jemals wieder so sein kann wie zuvor“: so blickten die Leute belustigt auf die befremdende Existenz zurück, die sie acht Tage zuvor geführt hatten — auf ihr überwundenes Überleben. Diese Bewegung war die generalisierte Kritik aller Entfremdungen, aller Ideologien und der gesamten früheren Organisation des wirklichen Lebens, sie war die Leidenschaft der Verallgemeinerung und der Vereinheitlichung. Da jeder in einem solchen Prozess sehen konnte, dass er überall zuhause war, wurde das Eigentum negiert. Das anerkannte Verlangen nach dem Dialog und dem völlig freien Wort, die Lust zur echten Gemeinschaft hatten in den für die Bewegung offenstehenden Gebäuden und im gemeinsamen Kampf ihr Betätigungsfeld gefunden: das Telefon als eins der sehr wenigen technischen Mittel, das noch funktionierte, und die zahllosen Emissäre und Reisenden, die in Park und im ganzen Land zwischen den besetzten Gebäuden, den Fabriken und den Versammlungen hin- und herschweiften, waren die Träger dieses wirklichen Gebrauchs der Kommunikation. Die Bewegung der Besetzungen war offensichtlich die Ablehnung der entfremdeten Arbeit — und folglich die Fete, das Spiel, wirkliche Gegenwart der Menschen und der Zeit. Sie war zugleich auch Ablehnung jeder Autorität, jeder Spezialisierung, jeder hierarchischen Enteignung; sie war Ablehnung des Staates und folglich der Parteien und Gewerkschaften ebenso wie der Soziologen und Professoren, der repressiven Moral und der Medizin. Alle diejenigen, die die Bewegung durch ihre blitzartige Verkettung wachgerufen hatten — „Schnell!“ lediglich rief eine der Parolen auf den Mauern, die vielleicht die schönste war — blickten voll radikaler Verachtung auf ihre früheren Existenzbedingungen und folglich auf diejenigen zurück, die daran gearbeitet hatten, sie in ihnen zu erhalten — von den Fernsehstars bis zu den Urbanisten. Genau wie die stalinistischen Illusionen vieler unter dem Zuckerguss ihrer unterschiedlichen Formen von Castro bis Sartre nackt zum Vorschein kamen, zerbrachen alle miteinander rivalisierenden und doch solidarischen Lügen einer Epoche. Die internationale Solidarität kam spontan wieder an den Tag, zahllose ausländische Arbeiter stürzten sich in den Kampf, und viele Revolutionäre Europas eilten nach Frankreich. Die bedeutende Beteiligung der Frauen an allen Formen des Kampfes ist ein wesentliches Zeichen seiner revolutionären Tiefe. Die Sitten wurden um vieles freier. Die Bewegung war gleichfalls die noch teilweise illusorische Kritik der Ware (unter ihrer albernen sozialen Verkleidung als „Konsumgesellschaft“); sie war auch bereits eine Ablehnung der Kunst, die sich jedoch noch nicht als deren geschichtliche Negation erkannte (unter der armseligen abstrakten Formel der „Phantasie an die Macht“, die nichts von den Mitteln wusste, diese Macht praktisch auszuüben und alles neu zu erfinden, und der es aus Mangel an Macht auch an Phantasie fehlte). Der Hass, mit dem überall gegen die Rekuperatoren zu Felde gezogen wurde, erreichte noch nicht das theoretisch-praktische Wissen von den Wegen ihrer Beseitigung — Neo-Künstler und Neo-Führer der Politik, Neo-Zuschauer gerade der Bewegung, die sie verleugnete. Wenn die handelnde Kritik des Spektakels des Nicht-Lebens noch nicht deren revolutionäre Aufhebung bedeutet, so deshalb, weil die „spontan zum Rätesystem neigende“ Tendenz des Mai-Aufstands fast allen konkreten Mitteln — und unter ihnen ihrem theoretischen und organisatorischen Bewusstsein — weit voraus war, die es ihr ermöglichen sollen, sich dadurch als Macht zu verwirklichen, dass sie die einzige Macht ist.

Ganz nebenbei spucken wir auf die platten Kommentare und die falschen Zeugnisse der Soziologen, der Pensionäre des Marxismus und aller Doktrinäre der alten konservierten Ultralinken bzw. des kriechenden Ultra-Modernismus der spektakulären Gesellschaft; keiner von denen, die diese Bewegung gelebt haben, kann behaupten, dass sie nicht all das enthielt.

Im März 1966 schrieben wir in der Nummer 10 der S.I.: „Mit Sicherheit behaupten wir das in vielen unserer Äußerungen anscheinend Gewagte, da wir überzeugt sind, dass die historische, unwiderlegbar schwerwiegende Bestätigung folgt.“ Besser konnten wir es nicht sagen.

Natürlich hatten wir nichts prophezeit. Wir hatten nur das gesagt, was da war: die materiellen Bedingungen für eine neue Gesellschaft waren schon seit langem geschaffen worden, die alte Klassengesellschaft hatte sich überall aufrechterhalten, indem sie ihre Unterdrückung beträchtlich modernisierte und ihre Widersprüche immer reichlicher weiterentwickelte, und die besiegte proletarische Bewegung kam für einen zweiten, bewußteren und totaleren Angriff zurück. Sicherlich dachten viele das alles, das offensichtlich durch Geschichte und Gegenwart aufgezeigt wurde, und einige sagten es sogar, aber abstrakter, und folglich redeten sie ins Blaue hinein — ohne Echo und Interventionsmöglichkeit. Der Verdienst der Situationisten bestand einfach darin, die neuen Anwendungspunkte in der modernen Gesellschaft zu erkennen und zu benennen: Urbanismus, Spektakel, Ideologie usw. (welche alle früheren keineswegs ausschließen, sondern im Gegenteil wiederbringen. Da diese Aufgabe radikal erfüllt wurde, war sie imstande, manchmal einige Fälle der praktischen Revolte hervorzubringen und auf jeden Fall sie beträchtlich zu verstärken. Diese blieb dann nicht ohne Echo: die Kritik ohne Zugeständnisse hatte nur sehr wenige Träger in den gauchistischen Strömungen der vorhergehenden Epoche gefunden. Wenn viele Leute das gemacht, was wir geschrieben haben, so deshalb, weil wir hauptsächlich über das Negative geschrieben hatten, das von so vielen anderen vor uns und auch von uns selbst erlebt worden war. Was in diesem Frühling 1968 an den hellen Tag des Bewusstseins kam, war nichts anderes als das, was in dieser Nacht der „spektakulären Gesellschaft“ schlief, deren Schau- und Lichtspiele nur die ewig positive Szenerie zeigten. Wir unsererseits hatten gemäß dem Programm, das wir 1962 (vgl. S.I. Nr. 7, S. 260) aufgestellt hattet uns mit dem Negativen zusammengetan. Unseren ‘Verdienst’ geben wir hier nicht genauer bekannt, um Beifall zu ernten, sondern um andere, die gleich handeln werden, so weit wie möglich aufzuklären.

La Sorbonne occupée
« Des assemblées populaires absolument libres dans les murs des universités, alors que, dans la rue, c’est le règne illimité de Trépov, voilà un des paradoxes les plus étonnants du développement politique et révolutionnaire pendant l’automne de 1905. (...) « Le peuple » emplissait les corridors, les amphithéâtres et les salles. Les ouvriers venaient directement de la fabrique à l’université. Les autorités avaient perdu la tête. (...) Non, cette foule inspirée n’absorbait pas en elle toute doctrine. Nous aurions voulu voir prendre la parole devant elle ces gaillards de la réaction qui prétendent qu’entre les partis extrémistes et la masse, il n’y a point de solidarité. Ils n’osèrent point. Ils restèrent confinés dans leurs tannières, attendant un répit pour calomnier le passé. »
Trotsky, 1905.

Alle diejenigen, die diese „Kritik mitten im Kampfgewühl“ nicht sehen wollten, betrachteten in der unerschütterlichen Macht der modernen Herrschaft nur ihren eigenen Verzicht: Ihr anti-utopischer „Realismus“ war nicht mehr das Wirkliche, als ein Polizeirevier oder die Sorbonne wirklichere Gebäude sind als die, die Brandstifter oder „Katangeser“ aus ihnen machen. Als die unterirdischen Gespenster der totalen Revolution aufstanden und ihre Macht über das ganze Land erstreckten, schienen alle Mächte der alten Welt spukhafte Illusionen zu sein, die am hellen Tag vergingen. Nach 30 Jahren des Elends, die in der Geschichte der Revolutionen nicht mehr als ein Monat gelten, ist ganz einfach dieser Monat Mai gekommen, der 30 Jahre zusammenfasst.

Aus unseren Begierden die Wirklichkeit zu machen, ist eine präzise historische Arbeit, die derjenigen der geistigen Prostitution genau entgegengesetzt ist, die ihre Illusion der Beständigkeit irgendeiner vorhandenen Wirklichkeit aufpfropft. So z.B. Lefebvre, der schon in der vorigen Nummer dieser Zeitschrift (Oktober 1967) zitiert wurde, da er sich in seinem Buch Positionen gegen die Technokraten (Verlag Gonthier) zu einem kategorischen Schluss wagte, dessen wissenschaftlicher Anspruch auch nach kaum sechs Monaten seinen Wert hat erkennen lassen: „Die Situationisten … schlagen keine konkrete, sondern eine abstrakte Utopie vor. Glauben sie wirklich, dass an einem schönen, entscheidenden Morgen oder Abend die Leute auf einmal einander ansehen und sagen: ‚Genug! Genug Mühe und Langeweile! Schluss damit!‘ und in die ewige Fete und Schöpfung von Situationen eintreten? Ist das auch einmal am frühen Morgen des 18. März 1871 passiert, so kommt diese Gelegenheit nie wieder.“ So wurde Lefebvre dort ein gewisser geistiger Erfolg zugeschrieben, wo er verstohlen einige radikale S.I.-Thesen abschrieb (vgl. in dieser Nummer den Neudruck unseres 1963 veröffentlichten Flugblattes In die Mülleimer der Geschichte), aber der dachte die Wahrheit dieser Kritik der Vergangenheit zu, obwohl sie viel mehr aus der Gegenwart als aus Lefebvres historischem Nachdenken hervorgegangen war. Er warnte vor der Illusion, ein gegenwärtiger Kampf könne wieder solche Ergebnisse erreichen. Glauben Sie aber nicht, dass Henri Lefebvre der einzige ehemalige Denker ist, der durch das Ereignis endgültig lächerlich gemacht wurde: diejenigen, die sich vor so komischen Äußerungen wie seinen hüteten, dachten das gleiche. Durch den Schlag vom Mai erschüttert, haben alle Suchenden nach dem historischen Nichts zugegeben, dass niemand das irgendwie vorausgesehen hatte, was passiert war. Ein besonderer Platz muss jedoch allen Sekten „auferstandener Bolschewisten“ eingeräumt werden, von denen man sagen muss, dass sie es während der letzten 30 Jahre keinen Augenblick versäumt haben, die nah bevorstehende Revolution von 1917 anzukündigen. Sie haben sich aber auch schön geirrt: es wurde wirklich nicht 1917 und sie waren nicht einmal ganz Lenin. Was die Überbleibsel des alten nicht-trotzkistischen Ultra-Gauchismus betrifft, so brauchten sie mindestens eine sehr wichtige Wirtschaftskrise. Sie machten jedes revolutionäre Moment von ihrer Rückkehr abhängig und sie sahen nichts kommen. Jetzt, wo sie im Mai eine revolutionäre Krise erkannt haben, müssen sie beweisen, dass es also diese unsichtbare Wirtschaftskrise im Frühling 1968 gab. Darum bemühen sie sich ohne Angst vor der Lächerlichkeit, indem sie Tabellen über die wachsenden Preise und Arbeitslosigkeit vorweisen. So ist für sie die Wirtschaftskrise nicht mehr diese furchtbar auffallende objektive Wirklichkeit, die bis 1929 so stark erlebt und beschrieben wurde, sondern eine Art eucharistische Anwesenheit, auf die sich ihre Religion stützt.

Genau wie man die gesamte S.I.-Sammlung neu herausgeben sollte, um zu zeigen, wie sehr all diese Leute sich vorher getäuscht haben, so sollte man auch einen dicken Band schreiben, um die Dummheiten und halben Zugeständnisse Revue passieren zu lassen, die sie seit dem Mai von sich gegeben haben. Wir wollen uns darauf beschränken, den amüsanten Journalisten Gaussen zu zitieren, der am 9. Dezember 1966 die Le Monde-Leser zu beruhigen glaubte, als er von den wenigen situationistischen Verrückten und Anstiftern des Strassburger Skandals schrieb, sie hätten „ein messianisches Vertrauen auf die Fähigkeit der Massen zur Revolution und zur Freiheit“. Heute ist Frédéric Gaussens Fähigkeit zur Freiheit sicherlich nicht um einen Milimeter vorangekommen, aber da wird er in derselben Zeitung am 29. Januar 1969 verwirrt, da er überall „das Gefühl“ wiederfindet, „der revolutionäre Schwung sei auf Weltebene vorhanden.“ „Die Gymnasiasten in Rom, die Studenten in Berlin, die ‚Wütenden‘ in Madrid, Lenins ‚Waisenkinder‘ in Prag und Rebellen in Belgrad, alle greifen dieselbe Welt an — die alte Welt …“ Und Gaussen, mit fast denselben Worten wie damals, misst jetzt allen diesen revolutionären Massen denselben „quasi mystischen Glauben an die schöpferische Spontaneität der Massen“ zu.

Wir wollen uns nicht triumphierend über die Pleite aller unserer geistigen Gegner auslassen und zwar nicht deshalb, weil dieser „Triumph“ — der eigentlich einfach derjenige der modernen revolutionären Bewegung ist — keine wichtige Bedeutung hätte. Dieses Thema ist aber monoton und der erneut zutagegetretene direkte Klassenkampf, der aktuelle revolutionäre Ziele erkennt, die erneut zutagetretende Geschichte — vorher erschien die Subversion der bestehenden Gesellschaft, heute deren Aufrechterhaltung als unglaublich — haben ein auffallend offensichtliches Urteil über die ganze Periode gefällt, die im Mai zu Ende ging. Anstatt das schon Bestätigte zu betonen, ist es von nun an wichtiger, die neuen Probleme zu stellen, die Mai-Bewegung zu kritisieren und die Praxis der neuen Epoche einzuleiten.

In allen anderen Ländern hatte sich die jüngste — und übrigens bis heute immer noch konfuse — Suche nach einer radikalen Kritik des modernen (privaten bzw. bürokratischen) Kapitalismus noch nicht von der engen Basis gelöst, die sie sich in einem Sektor des Studentenmilieus erworben hatte. Ganz im Gegenteil und im Gegensatz zu dem, was die Regierung, die Zeitungen und die Ideologen der modernistischen Soziologie zu glauben vorgeben, war die Mai-Bewegung keine Studentenbewegung. Sie war eine proletarische revolutionäre Bewegung, die sich nach einem halben Jahrhundert der Unterdrückung Bahn brach und normalerweise nichts besaß: ihr unglückliches Paradox war, dass sie lediglich auf dem höchst ungünstigen Boden einer Studentenrevolte das Wort ergreifen und konkrete Gestalt annehmen konnte — in den Straßen um das Quartier Latin, die die Aufständischen besetzt hielten, und in den in derselben Zone ebenfalls besetzten Gebäuden, die im allgemeinen zum Erziehungsministerium gehört hatten. Anstatt sich bei der geschichtlichen, tatsächlich lächerlichen Parodie der leninistischen oder maostalinistischen Studenten aufzuhalten, die sich als Proletarier und damit sogleich als Führungs-Avantgarde des Proletariats verkleideten, muss man sich im Gegenteil vor Augen halten, dass es der fortgeschrittene Teil der unorganisierten und durch alle Formen der Unterdrückung getrennten Arbeiter war, der sich in der beruhigenden Bildwelt der Gewerkschaften und der spektakulären Information als Studenten verkleidet sah. Die Mai-Bewegung war nicht irgendeine politische Theorie auf der Suche nach ihren ausführenden Arbeitern: sie war das handelnde Proletariat auf der Suche nach seinem theoretischen Bewusstsein.

Dass die Sabotage der Universität durch einige Gruppen junger Revolutionäre, die eigentlich bekanntermaßen Antistudenten waren, in Nantes und Nanterre (was die „Wütenden“ betrifft und sicher nicht die Mehrheit der „Bewegung des 22. März“, die diese erst spät in ihrer Tätigkeit ablöste) Gelegenheit dazu gab, Formen des direkten Kampfes weiterzuentwickeln, die von den unzufriedenen Arbeitern und vor allem den jungen schon in den ersten Monaten von 1968 z.B. in Caen und Redon ausgewählt worden waren — das ist ein keineswegs grundsätzlicher Umstand, der außerdem der Bewegung keineswegs schaden konnte. Schädlich war dagegen, dass der als wilder Streik gegen jeden Willen und jedes Manöver der Gewerkschaften vom Zaume gebrochene Streik später von den Gewerkschaften kontrolliert werden konnte. Sie akzeptierten einen Streik, den sie nicht hatten verhindern können, das von jeher übliche Verhalten einer Gewerkschaft gegenüber einem wilden Streik; diesmal mussten sie ihn aber auf nationaler Ebene akzeptieren. Indem sie diesen „nicht offiziellen“ Generalstreik akzeptierten, wurden sie von ihm weiter akzeptiert. Sie konnten die Fabriken weiter unter ihrer Kontrolle behalten und zugleich die große Mehrheit der Arbeiter insgesamt sowie jeden Betrieb in Bezug auf alle anderen von der wirklichen Bewegung isolieren. So dass die einheitlichste und am radikalsten kritische Aktion, die man je erlebt hat, gleichzeitig eine Summe von Isolierungen war und eine unheimliche Anzahl von platten offiziellen Forderungen hervorbrachte. So wie die Gewerkschaften es hatten akzeptieren müssen, dass sich der Generalstreik fragmentarisch behauptet, bis er zur Quasi-Einstimmigkeit gelangte, bemühten sie sich darum, ihn ebenfalls fragmentarisch zu liquidieren, indem sie durch den Terrorismus der Fälschung und ihres Monopols über die Verbindungen in jeder Branche die Krümchen akzeptieren ließen, die am 27. Mai noch von allen abgelehnt worden waren. So wurde der revolutionäre Streik auf ein Gleichgewicht des kalten Krieges zwischen der gewerkschaftlichen Bürokratie und den Arbeitern zurückgeführt. Die Gewerkschaften haben den Streik unter der Bedingung anerkannt, dass er stillschweigend durch die eigene praktische Passivität anerkennt, dass er nichts nützen würde. Die Gewerkschaften haben keine „Gelegenheit versäumt“, revolutionär zu handeln, da sie es von den Stalinisten bis zu den spießbürgerlichen Reformisten absolut nicht sind. Sie haben ebenfalls keine Gelegenheit versäumt, sehr erfolgreich Reformisten zu sein, da die Situation allzu revolutionär war, als dass sie das Risiko auf sich genommen hätten, mit ihr zu spielen, und als dass sie bestrebt waren, Nutzen aus ihr zu ziehen. Sehr offensichtlich wollten sie nur, dass sie so schnell wie möglich ein Ende nimmt, koste es, was es wolle. Hier gibt die stalinistische Heuchelei (der sich wunderbar die halb-gauchistischen Soziologen anschließen — vgl. Coudrays Buch Der Durchbruch, Verlag Le Seuil 1968) eine außerordentliche Achtung — die nur bei so einmaligen Augenblicken gebraucht wird — vor der Kompetenz der Arbeiter vor, vor deren erfahrener „Entscheidung“, die man mit dem phantastischen Zynismus als klar erörtert, mit voller Sachkenntnis gebilligt und auf absolut eindeutige Weise erkennbar hinstellt — dies eine Mal sollten die Arbeiter genau wissen, was sie wollten, weil sie „die Revolution nicht machen wollten!“ Aber die Hemmnisse und Knebel, die von den Angst und Lüge schwitzenden Bürokraten gegen dieses vermeintliche Nicht-Wollen der Arbeiter aufgehäuft wurden, sind der beste Beweis für deren wirklichen, entwaffneten und furchtbaren Willen. Nur indem man die geschichtliche Totalität der Bewegung der modernen Gesellschaft vergisst, kann man sich an diesem kreisförmigen Positivismus weiden, der glaubt, er finde überall die bestehende Ordnung rational wieder, da seine „Wissenschaft“ ihn so weit treibt, dass er diese Ordnung der Reihe nach von der Seite der Frage und von der Seite der Antwort betrachtet. So bemerkt z.B. derselbe Coudray, dass „man mit diesen Gewerkschaften nur 5% haben kann, und wenn man diese 5% will, so genügen diese Gewerkschaften dafür.“ Lässt man die Frage ihrer Absichten in Zusammenhang mit ihrem wirklichen Leben und dessen Interessen beiseite, so fehlt allen diesen Herren zumindest die Dialektik.

Die Arbeiter, die natürlich — wie immer und überall — sehr gute Gründe hatten, unzufrieden zu sein, haben deswegen mit dem wilden Streik angefangen, weil sie die revolutionäre Situation gespürt haben, die aus den neuen Formen der Sabotage in den Universitäten und den aufeinanderfolgenden irrtümlichen Reaktionen der Regierung entstanden war. Ihnen waren selbstverständlich die Formen bzw. Reformen der Universitätsinstitutionen genauso gleichgültig wie uns — dagegen aber sicher nicht die Kritik der Kultur, der Landschaft und des alltäglichen Lebens im fortgeschrittenen Kapitalismus, die sich so schnell ausbreitete, nachdem dieser Universitätsschleier ein erstes Mal zerrissen wurde.

Durch ihren wilden Streik haben die Arbeiter die Lügner Lügen gestraft, die in ihrem Namen sprachen. In den meisten Betrieben konnten sie zwar nicht so weit gehen, wirklich das Wort im eigenen Interesse zu ergreifen und das zu sagen, was sie wollten. Dafür müssen aber die Arbeiter durch ihre autonome Aktion schon die nirgends vorhandenen konkreten Bedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen zu sprechen und zu handeln. Der fast überall herrschende Mangel an diesem Dialog und dieser Verbindung sowie an dem theoretischen Wissen um die autonomen Ziele des proletarischen Klassenkampfes (diese Faktoren beider Kategorien können sich nur zusammen entwickeln) hat die Arbeiter daran gehindert, die Expropriateure ihres wirklichen Lebens zu expropriieren. So kam der fortgeschrittene Kern von Arbeitern, um den herum die nächste proletarische revolutionäre Organisation ihre Gestalt annehmen wird, als armer Verwandter des „studentischen Reformismus“ ins Quartier Latin, der selbst ein reichlich künstliches Produkt der Pseudoinformation bzw. der Grüppchenverblendung war. Es waren junge Arbeiter, Angestellte, Arbeiter aus besetzten Büros, „Halbstarke“ und Arbeitslose, rebellierende Gymnasiasten, die oft gerade diese Arbeitersöhne waren, die der moderne Kapitalismus für diese Bildung zum reduzierten Preis anwirbt, die dazu bestimmt ist, das Funktionieren der hochentwickelten Industrie vorzubereiten („Stalinisten, eure Söhne sind mit uns!“) — es waren „verlorene Intellektuelle“ und „Katangeser“.

Dass ein nennenswerter Prozentsatz der französischen Studenten und vor allem der Pariser sich an der Bewegung beteiligt hat, ist eine offensichtliche Tatsache, die diese aber nicht grundsätzlich kennzeichnen kann und nicht einmal als einer ihrer Hauptzüge betrachtet werden kann. Von den 150.000 Pariser Studenten waren höchstens 10 bis 20 Tausend in den am wenigsten harten Stunden der Demonstrationen dabei und nur einige Tausend bei den gewaltsamen Zusammenstößen auf den Straßen. Der spontane Aufstand am 3. Mai im Quartier Latin war, nachdem die gauchistischen Verantwortlichen in der Sorbonne festgenommen worden waren, der einzige Moment in der Krise, der allein von den Studenten abhängig — und übrigens einer der entscheidenden Momente ihrer Ausdehnung gewesen ist. Am Tage nach der Besetzung der Sorbonne waren fast die Hälfte der Teilnehmer an den Vollversammlungen, die zu dieser Zeit eine sichtbare aufständische Funktion ausübten, immer noch Studenten, die um die Bedingungen ihrer Prüfungen besorgt waren und irgendeine günstige Reform der Universität wünschten. Ohne Zweifel erkannte eine etwas größere Zahl der beteiligten Studenten an, dass die Machtfrage gestellt war: das taten sie aber als naive Kundschaft der kleinen gauchistischen Parteien, als Zuschauer des alten leninistischen Modells oder sogar des exotischen fernöstlichen Mao-Stalinismus. Denn die Basis dieser Grüppchen bestand fast ausschließlich aus Studenten und das dort konservierte Elend war aus fast allen aus diesen Kreisen stammenden Flugblättern klar herauszulesen — das Nichts von Kravetz, die Schwachsinnigkeit von Péninov und Konsorten. So wurden oft die besten Interventionen der in den ersten Sorbonne-Tagen dorthin herbeigeeilten Arbeiter mit der pedantischen und hochmütigen Dummheit dieser Studenten aufgenommen, die sich für Doktoren der Revolution hielten, obwohl sie dagegen bereit waren, bei dem ungeschicktesten Manipulator zu schleimen und zu applaudieren, wenn er sie nur durch irgendeine Albernheit mit Andeutung auf „die Arbeiterklasse“ stimulierte. Jedoch ist schon allein die Tatsache, dass diese Gruppen eine gewisse Anzahl von Studenten rekrutieren, ein Zeichen für das Unbehagen in der gegenwärtigen Gesellschaft: die Grüppchen sind der theatralische Ausdruck einer wirklichen und undeutlichen Revolte, die nach ihren Gründen zu reduzierten Preisen sucht. Letztlich gibt die Tatsache, dass eine kleine Fraktion der Studenten wirklich allen radikalen Mai-Forderungen zugestimmt hat, noch einmal zu erkennen, wie tief diese Bewegung war — und das gereicht ihnen heute noch zur Ehre.

La fin de la tranquillité
« — Pourquoi étiez-vous mêlés aux étudiants ? demande le président. Il y avait aussi des mouvements ouvriers qui accu paient la faculté. Nous y étions à ce titre». Tel n’est pas l’avis du président qui pense qu’il s‘agit plutôt d’agissements de malfaiteurs de droit commun qui ont profité des événements pour commettre des vols. »
Le Monde (14-9-68).

« Le Général de Gaulle a pris le parti de transformer les structures, pour le moins fatiguées, de notre pays ... C’est la voie des réformes. C’est la tâche d’une génération, c’est la seule qui puisse éviter les révolutions dont mai 1968 était les prémices. »
Alain Griotteray (déclaration citée dans Le Monde du 12-4-69).

Obwohl sich 1968 einige tausend Studenten aufgrund ihrer unmittelbaren Erfahrung individuell mehr oder weniger vollständig von der Stellung lösen konnten, die die Gesellschaft für sie bestimmt hatte, blieb die Studentenmasse unverändert. Jedoch nicht aufgrund der pseudo-marxistischen Plattheit, die die soziale Herkunft der (in ihrer großen Mehrheit bürgerlichen bzw. klein-bürgerlichen) Studenten als ausschlaggebend betrachtet, sondern vielmehr aufgrund des gesellschaftlichen Schicksals, das den Studenten definiert: das Werden des Studenten ist die Wahrheit seines Seins. Er wird massenweise für den Einsatz als leitende, mittlere bzw. untere Führungskraft der modernen Industrieproduktion produziert und konditioniert. Außerdem ist der Student unehrlich, wenn er sich über die „Entdeckung“ dieser immer offen dargelegten Logik seiner Ausbildung empört zeigt. Mit Sicherheit hat es für seine Verwirrung und seine Revolte eine Rolle gespielt, dass seine optimale Beschäftigung ökonomisch nicht gesichert war und vor allem in Frage stand, ob die „Privilegien“, die ihm die gegenwärtige Gesellschaft anzubieten vermag, wirklich wünschenswert sind. Gerade darum werden doch die Studenten zum gierigen Vieh, das in der Ideologie des einen oder anderen bürokratischen Grüppchens sein Qualitätssiegel finden möchte. Der Student, der sich als Bolschewist oder siegreicher Stalinist — d.h. als Maoist — sehen möchte, spielt auf zwei Klavieren. Falls sich die Macht nicht nach seinen Wünschen ändert, rechnet er damit, als Führungskraft des Kapitalismus lediglich aufgrund seiner Studien irgendein Fragment der Gesellschaft verwalten zu können. Für den Fall, dass sein Traum Wirklichkeit wird, sieht er sich noch ruhmvoller als „wissenschaftlich“ garantierter Verwalter auf einer noch höheren Stufe der politischen Führung. Die Herrschaftsträume der Grüppchen kommen oft ungeschickt in dem Ausdruck der Verachtung zum Vorschein, die sich ihre fanatischen Mitglieder gegenüber einigen Aspekten der Arbeiterforderung herauszunehmen erlauben, die sie oft ganz einfach dem „Versorgungsdenken“ zurechnen. Inmitten der Ohnmacht, die sich besser verstecken sollte, dämmert hier schon der Hochmut herauf, den diese Gauchisten eines Tages gerne der zukünftigen Unzufriedenheit derselben Arbeiter entgegensetzen würden, wenn sie als selbstpatentierte Spezialisten des Gemeininteresses des Proletariats Staatsmacht und Polizei wie in Kronstadt und in Peking in „ihren zerbrechlichen Händen“ halten könnten, die auf diese Weise kraft glücklicher Umstände verstärkt sein würden. Ist erst einmal die Perspektive derer beseitigt, die in sich die Keime zukünftiger souveräner Bürokratien tragen, büßt der soziologisch-journalistische Gegensatz zwischen den rebellischen Studenten, die angeblich „die Konsumgesellschaft“ ablehnen, und den Arbeitern, die erst noch begierig an ihr teilhaben möchten, jeden Grund ein, ernstgenommen zu werden. Der betreffende Konsum ist nur der Warenkonsum — ein hierarchischer Konsum, der für alle wächst, indem er sich aber dabei zunehmend hierarchisiert. ln der modernen Ware sind für alle, wenn auch ungleichmässig, Abnahme und Verfälschung des Gebrauchswerts vorhanden. Alle erleben diesen Konsum von spektakulären und wirklichen Waren in einer grundsätzlichen Armut, „da er selbst nicht jenseits des Entzugs stattfindet, sondern reicher gewordener Entzug ist“ (Die Gesellschaft des Spektakels). Auch die Arbeiter verbringen ihr Leben mit dem Konsum des Spektakels, der Passivität, der Lügen der Welt der Ideologien und der Waren. Darüberhinaus machen sie jedoch über die konkreten Bedingungen und den Preis, die ihnen in jedem Augenblick ihres Lebens durch die Produktion all dessen aufgezwungen wird, weniger Illusionen als irgendjemand sonst.

Aus all diesen Gründen bildeten die Studenten im Mai 1968 als soziale Schicht, die ebenfalls in einer Krise steckte, nichts anderes als die Nachhut der gesamten Bewegung.

Die quasi allgemeine Unzulänglichkeit der Fraktion der Studenten, die behauptete, revolutionäre Absichten zu haben, ist sicherlich im Verhältnis zur freien Zeit, in der sie sich mit der Aufklärung der Probleme der Revolution hätte beschäftigen können, zwar erbärmlich, aber sehr zweitrangig. Die Unzulänglichkeit der an der Leine geführten und geknebelten breiten Arbeitermassen ist dagegen zwar verzeihlich, aber ausschlaggebend gewesen. Definition und Analyse der Situationisten, was die Hauptmomente der Krise betrifft, sind in René Viénets Buch Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen (Gallimard 1968) dargelegt worden. Es wird hier genügen, die verschiedenen Punkte zusammenzufassen, die in diesem in Brüssel in den drei letzten Juliwochen anhand der schon zur Verfügung stehenden Dokumente verfassten Buch behandelt wurden, dessen Schlüsse unserer Meinung nach alle unverändert beibehalten werden können. Von Januar bis März machte sich die Gruppe der „Wütenden“ in Nanterre (die etwas später im April von der „Bewegung des 22. März“ abgelöst werden sollte) erfolgreich an die Sabotage von Vorlesungen und Räumen. Die allzu späte und sehr ungeschickte Repression durch den Universitätsrat, die mit zwei aufeinanderfolgenden Schließungen der Fakultät Nanterre verbunden waren, rief den spontanen Aufstand der Studenten am 3. Mai im Quartier Latin hervor. Die Universität wurde durch die Polizei und den Streik lahmgelegt. Eine Woche Straßenkämpfe gab den jungen Arbeitern die Gelegenheit, sich dem Aufstand anzuschließen; den Stalinisten, sich täglich durch unglaubliche Verleumdungen in Verruf zu bringen; den gauchistischen Führern der SNE-Sup. und der Grüppchen, ihren Mangel an Phantasie und Schärfe zur Schau zu stellen; der Regierung, immer wieder zu unpassender Zeit Gewalt und unglückliche Zugeständnisse zu gebrauchen. In der Nacht vom 10. zum 11. Mai rüttelte der Aufstand, der das Viertel um die Rue Gay-Lussac eroberte und es mehr als acht Stunden in seinem Besitz halten konnte, das ganze Land aus dem Schlaf und brachte die Regierung dazu, bei einem höchst wichtigen Punkt zu kapitulieren: sie zog die Kräfte zur Aufrechterhaltung der Ordnung aus dem Quartier Latin zurück und eröffnete die Sorbonne wieder, die sie nicht einmal in Betrieb halten konnte. Vom 13. bis 17. Mai entwickelte sich die Bewegung in einer Periode des unaufhaltsamen Aufstiegs bis zu einer allgemeinen revolutionären Krise weiter, wobei der 16. Mai wahrscheinlich der entscheidende Tag war, als die Fabriken damit begonnen, sich für den wilden Streik zu erklären. Am 13. war der bloß eintägige Generalstreik, der von den großen bürokratischen Organisationen beschlossen wurde, um der Bewegung ein schnelles, gutes und womöglich irgendwie für sie vorteilhaftes Ende zu setzen, eigentlich nur ein Beginn gewesen: die Arbeiter und Studenten aus Nantes liefen gegen die Präfektur Sturm und diejenigen, die als Besetzer wieder in die Sorbonne gingen, öffneten sie für die Arbeiter. Im selben Augenblick wurde sie zu einem „Volksclub“, dem gegenüber Sprache und Forderungen der 1848er Clubs zaghaft erscheinen. Am 14. besetzten die Sud-Aviation-Arbeiter in Nantes ihre Fabrik, indem sie die Manager einsperrten. Am 15. folgten 2 bzw. 3 Betriebe ihrem Beispiel und noch mehr vom 16. an, als die Basis der Renault-Werke in Billancourt den Streik durchsetzte. Dann folgten fast alle Betriebe, und in den folgenden Tagen wurden fast alle Einrichtungen, Ideen und Gewohnheiten in Frage gestellt. Fieberhaft bemühten sich Regierung und Stalinisten darum, der Krise durch Auflösung ihrer hauptsächlichen Kraft Einhalt zu gebieten — sie einigten sich darauf, Lohnerhöhungen zuzugestehen, die dazu geeignet sein sollten, die Arbeiter zu sofortiger Wiederaufnahme der Arbeit zu veranlassen. Am 27. lehnte die Basis aber überall das sogenannte „Grenelle-Abkommen“ ab. Dann meinte das Regime, das ein Monat stalinistischer Aufopferung nicht hatte retten können, es sei verloren. Am 29. fassten selbst die Stalinisten den Zusammenbruch des Gaullismus ins Auge und bereiteten sich unwillig dazu vor, zusammen mit den übrigen Linken dessen gefährliche Erbschaft anzutreten — und zwar eine soziale Revolution, die sie entweder entwaffnen oder niederschlagen mussten. Wenn De Gaulle sich gegenüber der Panik der Bourgeoisie und der schnellen Abnutzung der stalinistischen Bremse zurückgezogen hätte, wäre die neue Macht nur die geschwächte, aber offiziell gewordene vorige Allianz gewesen: die Stalinisten hätten mittels bürgerlicher Milizen, Partei-Aktivisten und Armee-Fragmente eine z.B. mit Mendès und Waldeck gebildete Regierung verteidigt. Sie hätten versucht, nicht wie Kerenski, sondern wie Noske zu handeln. De Gaulle zeigte sich kräftiger als seine Verwaltungskader und verschaffte den Stalinisten Erleichterung, als er am 30. bekanntgab, dass er versuchen würde, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben, d.h. dass er die Armee in einen Bürgerkrieg einsetzen würde, um Paris zu halten bzw. zurückzuerobern. „Die hocherfreuten Stalinisten hüteten sich sorgfältig davor, die Fortsetzung des Streiks bis zum Sturz des Regimes zu fordern. Sie beeilten sich, den von De Gaulle festgesetzten Wahlen zuzustimmen, koste es, was es wolle. Unter solchen Umständen war die einzige Alternative die zwischen der autonomen Behauptung des Proletariats und der vollständigen Niederlage der Bewegung — zwischen der Räterevolution und dem Grenelle-Abkommen. Die revolutionäre Bewegung konnte nicht der KPF ein Ende setzen, ohne zunächst De Gaulle verjagt zu haben. Da die Form der Arbeitermacht, die sich in der nach-gaullistischen Phase der Krise hätte entwickeln können, gleichzeitig durch den alten, wieder behaupteten Staat und die KPF blockiert war, blieb ihr keine Chance mehr, ihrer schon in Gang gesetzten Niederlage zuvorzukommen.“ (vgl. Viénet, op.cit.). Es begann dann die Ebbe, obwohl die Arbeiter eine bzw. mehrere Wochen lang den Streik fortsetzten, zu dessen Beendigung sie von allen Gewerkschaften genötigt wurden. Natürlich war die Bourgeoisie in Frankreich nicht verschwunden, sie war nur vor lauter Schrecken stumm geworden. Am 30. Mai sollte sie zusammen mit dem konformistischen Kleinbürgertum wieder auftauchen, um den Staat zu unterstützen. Solange aber die Arbeiter die Machtbasis dieser Bürokraten nicht abgeschafft hatte, indem sie die Form ihrer eigenen autonomen Macht erzwangen, konnte dieser schon von der bürokratischen Linken so gut verteidigte Staat nur dann fallen, wenn er es wollte. Die Arbeiter gewährten ihm diese Freiheit, und sie mussten die normalen Folgen davon ertragen. Die Mehrheit von ihnen hatte die totale Bedeutung ihrer Bewegung nicht erkannt, und keiner konnte es an ihrer Stelle tun.

Hätte sich zwischen dem 16. und 30.Mai in einer einzigen großen Fabrik eine Vollversammlung zu einem Rat konstituiert, mit aller Entscheidungs- und Exekutivgewalt, hätte die Bürokratie verjagt, ihre Selbstverteidigung organisiert und die Streikenden aller Betriebe aufgefordert, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, so hätte dieser letzte qualitative Schritt die Bewegung gleich in den Endkampf treiben können, dessen Richtlinien er alle bereits historisch entworfen hat. Sehr viele Betriebe wären dem so entdeckten Weg gefolgt. Diese Fabrik hätte sofort die unsichere und in jeder Hinsicht exzentrische Sorbonne der ersten Tage ersetzen können, um zum wirklichen Mittelpunkt der Bewegung der Besetzungen zu werden. Echte Delegierte der vielen Räte, die schon potentiell in bestimmten besetzten Gebäuden existierten, und all derer, die sich in allen Industriezweigen hätten durchsetzen können, hätten sich dieser Basis angeschlossen. Eine solche Versammlung hätte dann die Expropriation des gesamten — inklusive des staatlichen — Kapitals proklamieren können; und ankündigen können, dass alle Produktionsmittel des Landes von nun an das kollektive Eigentum des in Form der direkten Demokratie organisierten Proletariats sind, und die Arbeiter der ganzen Welt direkt zur Unterstützung dieser Revolution auffordern können — indem sie sich z.B. endlich einiger technischer Mittel des Fernmeldewesens bemächtigt hätte. Gewisse Leute sagen, eine solche Hypothese sei utopisch. Darauf unsere Antwort: gerade weil die Bewegung der Besetzungen in vielen Augenblicken objektiv nur eine Stunde von einem solchen Resultat entfernt war, hat sie so einen Schrecken so weit verbreitet, den zu dieser Zeit alle aus der Ohnmacht des Staates und der Bestürzung der sogenannten „kommunistischen“ Partei deutlich herauslesen konnten, und seitdem aus der Verschwörung des Schweigens über ihre Wichtigkeit. So dass Millionen von Augenzeugen, wenn sie jetzt wieder von der „sozialen Organisation des Scheins“ erfasst werden, die ihnen diese Epoche als eine vorübergehende Tollheit der — vielleicht sogar nur studentischen — Jugend darstellt, sich fragen müssen, inwieweit eine Gesellschaft selbst nicht irrsinnig ist, die eine solche wunderliche Verirrung geschehen lassen konnte.

Natürlich war in dieser Perspektive ein Bürgerkrieg nicht zu vermeiden. Wenn der bewaffnete Zusammenstoß nicht mehr von dem abhängig gewesen wäre, was die Regierung betreffs der eventuellen bösen Absichten der sogenannten „kommunistischen“ Partei befürchtete bzw. zu befürchten vorgab, sondern ganz objektiv von der Konsolidierung der direkten proletarischen Macht in einer industriellen Basis (selbstverständlich einer totalen und nicht irgendeiner „Arbeitermacht“, die auf wer weiß welche Pseudo-Kontrolle über die Produktion ihrer eigenen Entfremdung beschränkt gewesen wäre), so wäre die bewaffnete Konterrevolution bestimmt sofort in Gang gesetzt worden. Sie wäre aber ihres Sieges nicht sicher gewesen. Ein Teil der Truppen hätte bestimmt gemeutert, und die Arbeiter hätten Waffen gefunden und gewiss keine Barrikaden mehr gebaut — die ohne Zweifel als politische Ausdrucksform am Anfang der Bewegung gut, aber offensichtlich strategisch lächerlich waren (und Leute wie Malraux, die im Nachhinein behaupten, die Panzer hätten die Rue Gay-Lussac viel schneller erobert als die polizeilichen Einsatzkommandos, haben sicher in diesem Punkt recht, aber konnten sie damals die Kosten eines solchen Sieges politisch abdecken? Dieses Risiko sind sie auf jeden Fall nicht eingegangen, sie haben sich lieber totgestellt, obwohl sie diese Demütigung bestimmt nicht aus Humanismus hinuntergeschluckt haben). Eine fremde Invasion wäre dann zwangsläufig gefolgt, was gewisse Ideologen davon auch halten mögen (man kann Hegel und Clausewitz gelesen haben und doch nur Glucksmann sein), vermutlich von den NATO-Kräften ausgehend, aber mit direkter oder indirekter Unterstützung des „Warschauer Pakts“. Dann wäre aber vor dem europäischen Proletariat sofort wieder alles aufs Spiel gesetzt.

Seit der Niederlage der Bewegung der Besetzungen ist sowohl von denen, die an ihr teilgenommen haben, als auch von denen, die sie über sich ergehen lassen mussten, oft die Frage gestellt worden: „War das eine Revolution?“. Wenn in der Presse und im alltäglichen Leben ein feige neutrales Wort — „die Ereignisse“ — benutzt wird, so zeigt das, wie sehr vor einer Antwort und selbst vor der Formulierung der Frage zurückgewichen wird. Eine solche Frage muss in ihr wirkliches historisches Licht gestellt werden. Der „Erfolg“ bzw. „Misserfolg“ einer Revolution als platte Bezugnahme der Journalisten und Regierungen bedeutet in dieser Angelegenheit nichts, aus dem einfachen Grund, dass seit den bürgerlichen Revolutionen keine Revolution erfolgreich war: keine hat die Klassen abgeschafft. Bisher hat die proletarische Revolution nirgends den Sieg davongetragen, während der praktische Prozess aber, durch den ihr Projekt zur Erscheinung kommt, schon mindestens zehn historisch äußerst wichtige revolutionäre Momente hervorgebracht hat, die man verabredetermaßen Revolutionen nennt. Nie konnte sich in ihnen der totale Inhalt der proletarischen Revolution entfalten, jedesmal aber handelt es sich wieder um eine wesentliche Unterbrechung der herrschenden sozio-ökonomischen Ordnung und um das Auftauchen neuer Formen und Auffassungen des wirklichen Lebens — vielseitige Phänomene also, die nur in ihrer Gesamtbedeutung, die selbst von ihrer eventuellen historischen Zukunft nicht zu trennen ist, verstanden und beurteilt werden können. Unter allen partiellen Kriterien, die zur Einschätzung dessen gebraucht werden, ob man dieser oder jener Periode der Störung der Staatsmacht den Titel einer Revolution verleihen sollte, ist ganz gewiss dasjenige am schlimmsten, das berücksichtigt, ob das etablierte Regime gefallen ist oder sich erhalten konnte. Dieses von den Denkern des Gaullismus nach dem Mai reichlich geltend gemachte Kriterium machte es der von einem Tag auf den anderen berichtenden Information ebenso möglich, irgendeinen militärischen Putsch eine Revolution zu nennen, der im Laufe eines Jahres das Regime in Brasilien, Ghana, Irak oder sonstwo gestürzt hat. 1905 dagegen stürzte die Revolution das Zar-Regime nicht, das bloß zu einigen vorübergehenden Zugeständnissen gezwungen wurde. 1936 beseitigte die spanische Revolution formell die bestehende politische Macht nicht, sie ging im übrigen von einem proletarischen Aufstand aus, der anfänglich diese Republik gegen Franco unterstützen wollte. 1956 hat die ungarische Revolution auch nicht Nagys bürokratisch-liberale Regierung abgeschafft. Berücksichtigt man noch dazu andere bedauernswerte Beschränkungen, so wies die ungarische Bewegung zahlreiche Aspekte eines nationalen Aufstandes gegen eine fremde Herrschaft auf; und obwohl dieses Kennzeichen eines nationalen Widerstand in der Pariser Kommune nicht so bedeutend war, hat es doch in ihrem Ursprung eine Rolle gespielt. Außerdem ersetzte diese die Macht Thiers nur innerhalb von Paris. Was den Sankt-Petersburger Rat von 1905 betrifft so hat er sogar nie die Hauptstadt unter seine Kontrolle gebracht. Alle hier als Beispiele angeführten Krisen, deren praktische Verwirklichung und sogar deren Inhalt unvollendet blieben, brachten jedoch ausreichend radikale Neuheiten und hielten die durch sie getroffenen Gesellschaften ernstlich genug in Schach, um sie legitimerweise Revolutionen zu nennen. Wenn man über Revolutionen nach der Größe des Blutbades urteilen will, das sie mit sich bringen, so braucht diese romantische Auffassung nicht einmal diskutiert zu werden. Unbestreitbare Revolutionen haben sich durch sehr wenig blutige Zusammenstöße behauptet — selbst die Pariser Kommune, die mit einem Gemetzel enden sollte — und im Gegenteil haben viele bürgerkriegsähnliche Zusammenstöße Tausende von Toten aufgehäuft, ohne irgendwie Revolutionen zu sein. Nicht die Revolutionen sind im allgemeinen blutig, sondern die Reaktion und Repression, die ihnen in einer zweiten Phase entgegengesetzt werden. Bekanntlich hat die Frage der Totenzahl während der Mai-Bewegung zu einer Polemik geführt, zu der die vorübergehend beruhigten Ordnungsfreunde immer wieder greifen. Laut der offiziellen Wahrheit hat es nur 5 Tote gegeben, die auf der Stelle gestorben sind, unter denen ein einziger Polizist. Alle, die das behaupten, fügen selbst hinzu, es sei ein unwahrscheinlicher Glücksfall gewesen. Die wissenschaftliche Unwahrscheinlichkeit dieser offiziellen Mitteilung wird noch dadurch beträchtlich verstärkt, dass man nie zugestehen wollte, dass ein einziger der sehr vielen Schwerverwundeten in den folgenden Tagen sterben konnte — dieses seltsame Glück verdankt jedoch keiner der schnellen chirurgischen Hilfe besonders während der Nacht der Rue Gay-Lussac. Wenn andererseits eine leichte Fälschung mit dem Zweck, die Zahl der Toten zu unterschätzen der Regierung in ihrer verzweifelten Lage in dem Augenblick sehr nützlich war, ist sie das aus anderen Gründen auch nachher geblieben. Schließlich aber sind insgesamt die rückblickenden Beweise für den revolutionären Charakter der Bewegung der Besetzungen so schlagend wie diejenigen, die sie durch ihre bloße Existenz der Welt ins Gesicht geworfen hat: den Beweis dafür, dass sie eine neue Legitimität entworfen hatte, lieferte das im Juni wiederhergestellte Regime selbst, indem es es niemals für möglich hielt, die Verantwortlichen für die offensichtlichen illegalen Handlungen, durch die es teilweise seiner Autorität und sogar seiner Gebäude beraubt worden war, zu verfolgen, um wieder dieselbe innere Sicherheit im Staat zu erreichen. Für diejenigen aber, die die Geschichte unseres Jahrhunderts kennen, ist allerdings folgendes das Evidenteste: alles, was die Stalinisten pausenlos und in jeder Phase getan haben, um die Bewegung zu bekämpfen, beweist, dass die Revolution da war.

Un slogan de mai
Cette inscription, tracée sur un mur du boulevard de Port-Royal, reproduit exactement celle dont le n° 8 de cette revue (p. 42) avait publié la photographie. Elle gagnait certainement en force à accompagner, cette fois, une grève sauvage étendue à tout le pays.

Während die Stalinisten wie immer sozusagen die ideale arbeiterfeindliche Bürokratie in reiner Form darstellten, hatten die ersten Keime der gauchistischen Bürokratien keinen Stützpunkt. Alle behandelten die tatsächlichen Bürokratien ostentativ rücksichtsvoll sowohl aus Berechnung als auch aus Ideologie (mit der Ausnahme der „Bewegung des 22. März“ die sich darauf beschränkte, ihre eigenen Unterwanderer — J.C.R., Maoisten usw. — zu schonen). Folglich blieb ihnen nichts anderes übrig, als eine spontane Bewegung, die viel extremistischer als sie war, und gleichzeitig Apparate, die dem Gauchismus in einer so offensichtlich revolutionären Situation auf gar keinen Fall Zugeständnisse machen konnten, „weiter nach links“ — die aber nur in Bezug auf ihre eigenen mangelhaften Berechnungen — treiben zu wollen. Deshalb gab es eine reiche Blüte pseudo-strategischer Illusionen: so glauben einige Gauchisten, dass die Besetzung irgendeines Ministeriums in der Nacht zum 25. Mai die Bewegung zum Sieg geführt hätte (andere Gauchisten hatten aber damals manövriert, um einen solchen „Exzess“ zu verhindern, der mit ihrer eigenen Planung des Sieges nicht zusammenpasste). Andere glaubten schließlich, dass die Fakultäten sich zu Stützpunkten der Stadtguerilla entwickeln würden, und warteten dabei auf die Verwirklichung ihres bescheidenen Traums, deren „verantwortliche“ und gesäuberte Verwaltung zu behalten, um dort eine sogenannte „Sommeruniversität“ zu organisieren. (Nun fielen allerdings nach dem Arbeiterstreik alle Fakultäten, ohne sich überhaupt zur Wehr gesetzt zu haben, und die Sorbonne hätte in weniger als einer Stunde durch einen Streifzug der CRS schon eingenommen werden können, als sie als vorübergehendes Zentrum der sich ausdehnenden Bewegung am Ende der kritischen Nacht zum 17. Mai mit allen offenen Türen fast menschenleer war.) Indem die Grüppchen weder einsehen wollten, dass die Bewegung schon über eine politische Veränderung im Staat hinausging, noch richtig verstehen, was eigentlich auf dem Spiel stand — nämlich ein kohärentes und totales Bewusstwerden der Arbeiter in den Betrieben — arbeiteten sie allerdings dieser Perspektive entgegen, indem sie im Überfluss von Motten zerfressene Illusionen verbreiteten und überall mit dem schlechten Beispiel dieses bürokratischen Benehmens vorangingen, das alle revolutionären Arbeiter ankotzt; indem sie letztlich auf die unglücklichste Weise aller vergangenen Revolutionsformen, den Parlamentarismus sowie auch die Guerilla im Stil Zapatas parodierten, ohne dass dieses erbärmliche Theater sich je mit der geringsten Wirklichkeit gedeckt hätte. Normalerweise waren die zurückgebliebenen Ideologen der kleinen gauchistischen Parteien und Anbeter der Irrtümer einer entschwundenen revolutionären Vergangenheit fast ohne Waffen, um eine moderne Bewegung zu verstehen. In der „Bewegung des 22. März“, ihrer eklektischen und durch modernistische, mit Schnürchen zusammengefügte Inkohärenz bereicherte Vereinigung, waren fast alle ideologischen Mängel der Vergangenheit mit den Fehlern eines naiven Konfusionismus verbunden. Die Rekuperatoren standen an der Spitze derer selbst, die ihre Angst vor „der Rekuperation“ laut verkündeten, die sie übrigens verschwommen als eine Gefahr etwas mystischer Art betrachteten, da es ihnen schon am kleinsten Wissen um die Grundwahrheiten über Rekuperation und Organisation fehlte — darum, was ein Delegierter und ein unverantwortlicher „Wortführer“ ist, der eigentlich dadurch die Führung innehat, da die hauptsächliche praktische Macht der „Bewegung des 22. März“ darin bestand, mit Journalisten zu sprechen. Ihre lächerlichen Stars kamen vor allen „sunlights“, um der Presse zu erklären, dass sie sich davor hüteten, Stars zu werden.

Die überall ein wenig spontan entstandenen „Aktionskomitees“ standen an der zweideutigen Grenze zwischen direkter Demokratie und unterwanderter und rekuperierter Inkohärenz. Fast alle wurden durch diesen inneren Widerspruch zerrissen. Die Trennung war aber zwischen den beiden hauptsächlichen Organisationsformen noch deutlicher, die dieselbe Benennung hatten. Auf der einen Seite gab es die Komitees, die auf lokaler Basis (Aktionskomitees in den Vierteln bzw. Betrieben, Besetzungskomitees in bestimmten, in die Hände der revolutionären Bewegung gefallenen Gebäuden) oder zu dem Zweck gebildet wurden, bestimmte spezialisierte Aufgaben zu erfüllen, deren praktische Notwendigkeit offensichtlich war, und vor allem zur internationalistischen Ausdehnung der Bewegung (italienisches, nord-afrikanisches Aktionskomitee usw.). Auf der anderen Seite entstanden aber auch immer mehr professionelle Komitees, die versucht haben, den alten Syndikalismus wiederherzustellen — am meisten aber zum Nutzen der Halbprivilegierten und folglich mit deutlich kooperativem Charakter als Tribüne für getrennte. Spezialisten, die sich als solche an die Bewegung anschließen, in ihr überleben und aus ihr sogar noch irgendeinen Vorteil für ihre Bekanntheit ziehen wollten (so z.B. die „Generalstände des Films“, die Schriftstellerunion, das Aktionskomitee des englischen Instituts der Sorbonne u.a.m.). Noch stärker als ihre Ziele waren ihre Methoden entgegengesetzt. In den ersteren Komitees waren Beschlüsse vollstreckbar, während sie bei den anderen abstrakte Wünsche blieben; in den ersteren deuteten sie schon auf die revolutionäre Macht der Räte hin, während sie bei den anderen die Machtgruppen im Staat parodierten.

Die besetzten Gebäude, wenn sie nicht unter der Kontrolle der „getreuen Verwalter“ aus den Gewerkschaften waren und sofern sie nicht als pseudo-feudales Eigentum der einzigen Versammlung ihrer üblichen Verbraucher aus der Universität isoliert geblieben sind, stellten einen der stärksten Stützpunkte der Bewegung dar (so z.B. die Sorbonne in den ersten Tagen; die Gebäude, die von den „Studenten“ von Nanterre den Arbeitern und Bewohnern der Randsiedlung geöffnet wurden; die INSA, in deren Gebäuden sich revolutionäre Arbeiter aus Lyon niederließen; das Nationale Pädagogische Institut). Die diesen Besetzungen innewohnende Logik konnte die besten Folgen haben: es muss übrigens darauf hingewiesen werden, wie eine Bewegung, die paradoxerweise vor der Perspektive einer Beschlagnahme der Waren zögerte, sich dagegen keinerlei Sorgen darum machte, schon von einem Teil des staatlichen Immobilienkapitals Besitz ergriffen zu haben.

Wenn schließlich die Aufnahme dieses Beispiels in den Fabriken verhindert wurde, so muss auch gesagt werden, dass der Stil, den viele dieser Besetzungen geschafft hatten, sehr mangelhaft war. Fast überall verhinderte die bewahrte Routine, die Bedeutung einer Situation zu erkennen sowie die Instrumente, die sie für die laufende Aktion anbot. Z.B. wird in der Nummer 77 von I.C.O. (Januar 1969) dem Buch von Viénet, in dem ihre Anwesenheit in Censier erwähnt wird entgegengehalten, dass die seit langem durch dieses Bulletin in Verbindung stehenden Genossen „nicht ‚getagt‘ hätten — weder in der Sorbonne noch in Censier noch sonstwo; alle waren in dem Streik auf ihrem Arbeitsplatz“, sowie „in den Versammlungen und auf den Straßen engagiert. Sie haben nie daran gedacht, in irgendeiner Form eine ‚permanente Dienststelle‘ in den Fakultäten zu errichten, und noch weniger daran, ein ‚Verbindungsorgan mit den Arbeitern‘ bzw. einen ‚Rat‘ zu bilden, auch keinen ‚für die Erhaltung der Besetzungen‘“ — was sie für „die Beteiligung an parallel laufenden Organen“ halten, „mit dem Zweck, anstelle des Arbeiters aufzutreten.“ Etwas weiter unten fügt ICO hinzu, sie hätten dort trotzdem „zwei Gruppensitzungen pro Woche“ abgehalten, da „die Fakultäten und vor allem die ruhigere Censier-Fakultät kostenlose Räume zur Verfügung stellten.“ So wurden die ICO-Arbeiter (von denen wir gerne annehmen wollen, sie seien dort so wirksame wie bescheidene Arbeiter, wo sie sich auf ihren genauen Arbeitsplätzen und den umliegenden Straßen im Streik engagieren) durch ihre Bedenken dazu gebracht, bei einem der neuartigsten Aspekte der Mai-Krise nur die Möglichkeit zu sehen, ihre Stammkneipe zu ersetzen, indem sie über kostenlose Räume in einer ruhigen Fakultät verfügten. Sie geben weiter zu — aber in einem weiterhin selbstzufriedenen Ton — dass manche ihrer Genossen „schnell aufhörten, den ICO-Zusammenkünften beizuwohnen, da diese ihnen keine Antwort auf ihren Wunsch, ‚etwas zu tun‘ geben konnten“. So ist für diese Arbeiter das ‚Etwas tun‘ automatisch zur schimpflichen Tendenz geworden, an die Stelle ‚des Arbeiters‘ treten zu wollen — sozusagen an die Stelle des Wesens des Arbeiters an sich, der — laut Definition — nur in seiner Fabrik vorhanden ist, d.h. dort, wo z.B. die Stalinisten ihn zum Schweigen zwingen und ICO normalerweise warten muss, bis sich alle Arbeiter selbst auf reine Weise befreit haben (Läuft man sonst nicht Gefahr, an die Stelle dieses wirklichen und heute noch stummen Arbeiters zu treten?). Eine solche ideologische Wahl der Zersplitterung verhöhnt das wesentliche Bedürfnis, das von so vielen Arbeitern im Mai als so lebenswichtig dringend empfunden wurde — und zwar die Koordinierung und Kommunikation zwischen den einzelnen Kämpfen und Ideen, die sich von freien Treffpunkten aus hätten entwickeln können, außerhalb der der gewerkschaftlichen Polizei unterworfenen Fabriken. ICO ist jedoch weder vor noch seit dem Mai bis zum Ende seiner metaphysischen Schlussfolgerung gegangen. Sie existiert als vervielfältigte Veröffentlichung, durch welche einige Dutzend Arbeiter sich damit abfinden, ihre eigenen Analysen an die Stelle derer zu setzen, die einige Hundert andere Arbeiter, die diese nicht verfasst haben, spontan machen könnten. In der Nummer 78 vom Februar erfahren wir sogar, dass „die Auflage von ICO innerhalb eines Jahres von 600 auf 1.000 Exemplare gestiegen ist“. Aber jener Rat für die Erhaltung der Besetzungen (CMDO) z.B., der die Tugend der ICO anscheinend sehr schockiert, allein indem er das Nationale Pädagogische Institut besetzte und ohne von seinen anderen damaligen Aktivitäten bzw. Veröffentlichungen sprechen zu wollen, konnte dank einer sofortigen Vereinbarung mit den streikenden Arbeitern der IPN-Druckerei in Montrouge Texte mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren kostenlos drucken lassen. Die meisten Exemplare wurden dann unter andere streikende Arbeiter verbreitet und niemand hat bisher versucht zu zeigen, dass ihr Inhalt es im geringsten bezweckte, anstelle von den Entscheidungen irgendeines Arbeiters aufzutreten. Die Beteiligung an den Verbindungen, die von dem CMDO in Paris und in der Provinz hergestellt wurden, hat außerdem niemals der Anwesenheit von Streikenden auf ihrem Arbeitsplatz — und sicher auch nicht auf der Straße — widersprochen. Schließlich haben einige streikende Setzer des CMDO es für weitaus besser gehalten, irgendwo anders mit den zur Verfügung stehenden Maschinen zu arbeiten, als passiv in „ihrem“ Betrieb zu bleiben.

Wenn die Puristen der Arbeiteruntätigkeit dabei sicherlich die Gelegenheit verpasst haben, das Wort zu ergreifen — als Antwort auf alle Male, in denen sie zum Schweigen gezwungen wurden, das bei ihnen zu einer Art stolzen Gewohnheit geworden ist — so wurde doch die Menge der neo-bolschewistischen Unterwanderer viel schädlicher. Das schlimmste allerdings war der äußerste Mangel an Homogenität der Versammlung, die in den ersten Besetzungstagen der Sorbonne zum mustergültigen Mittelpunkt einer Bewegung wurde — ohne es eigentlich gewollt oder auch nur alles klar verstanden zu haben —, die die Fabriken mitriss. Dieser Mangel an sozialer Homogenität folgte zunächst aus dem zahlenmäßig sehr starken Übergewicht der Studenten trotz des guten Willens vieler von ihnen, das aber durch einen ziemlich großen Prozentsatz von Besuchern noch verstärkt wurde, die aus rein touristischen Gründen gekommen waren — auf dieser objektiven Basis konnten Leute wie Péninou oder Krivine ihre gröbsten Manöver entwickeln. Zu der Zweideutigkeit der Teilnehmer kam noch die wesentliche Zweideutigkeit der Handlungen einer improvisierten Versammlung hinzu, die zwangsläufig dazu gebracht worden war, die Räte-Perspektive vor dem ganzen Land zu repräsentieren — in jedem Sinne des Wortes und folglich auch im schlimmsten. So fasste diese Versammlung Beschlüsse sowohl für die Sorbonne selbst — übrigens schlecht und mystifiziert, da sie nicht einmal Herr über ihre eigene Organisation werden konnte — als auch für die Gesellschaft im Krisenzustand: sie wollte und proklamierte mit ungeschickten aber aufrichtigen Worten die Vereinigung mit den Arbeitern und die Negation der alten Welt. Wenn wir ihre Fehler aussprechen, wollen wir doch nicht vergessen, was für ein großes Gehör sie gefunden hatte. In derselben Nummer 77 der ICO wird den Situationisten vorgeworfen, damals in dieser Versammlung nach der mustergültigen Tat gesucht, die „in die Legende eingehen“ würde, und einige Köpfe „auf das Podium der Geschichte“ gestellt zu haben. Was uns betrifft, glauben wir nicht, irgendeinen als Star auf eine historische Bühne gestellt zu haben, wir sind aber auch der Meinung, dass die gezierte Überlegene Ironie dieser „schönen Arbeiterseelen“ am äußerst falschen Ort kommt — es war eine historische Bühne.

Da die Revolution verloren hat, mussten sich die sozio-technischen Mechanismen des falschen Bewusstseins natürlich in einem wesentlich unbeschädigten Zustand wiederherstellen: das Spektakel prallt gegen seine reine Negation und kein Reformismus kann dann die Zugeständnisse erhöhen (und wäre es nur um 7%), die es der Wirklichkeit macht. Eine Überprüfung der ungefähr dreihundert Bücher, die in dem Jahr nach der Bewegung der Besetzungen herausgekommen sind (wobei wir nur die in Frankreich verlegten berücksichtigen), sollte genügen, um dies selbst denjenigen mit der geringsten Erfahrung zu zeigen. Nicht die Zahl dieser Bücher könnte verspottet oder getadelt werden, wie einige Leute, die von der Gefahr einer Rekuperation gequält werden, gemeint haben; sie haben doch um so weniger Gründe zur Unruhe, als es bei ihnen im allgemeinen nicht viel gibt, das die habsüchtigen Rekuperatoren verlocken könnte. Die Tatsache, dass so viele Bücher veröffentlicht wurden, bedeutet vor allem, dass die historische Bedeutung der Bewegung trotz eigensüchtiger Verständnislosigkeit und Verleugnung tief empfunden wurde. Von einem viel einfacheren Standpunkt aus soll die Tatsache kritisiert werden, dass von den 300 Büchern kaum 10 lesenswert sind, ob es sich um Berichte und Analysen handelt, die von jeder lächerlichen Ideologie frei sind, oder um Sammlungen unverfälschter Dokumente. Die auf der ganzen Linie vorherrschende ungenügende Information bzw. Fälschung ist auf bevorzugte Art und Weise benutzt worden, wie fast immer über die Tätigkeit der Situationisten berichtet wurde. Selbst ohne von den Büchern zu sprechen, die sich darauf beschränken, sie zu verschweigen, bzw. einige absurde Beschuldigungen vorzubringen, ist durch die drei verschiedenen Kategorien dieser Bücher je ein Stil der Unwahrheit gewählt worden. Beim ersten Muster wird die Aktion der S.I. auf die 18 Monate vorher geschehene Strassburger Affäre beschränkt als ein erster entfernter Auftakt einer Krise, in der sie dann nicht mehr zu finden gewesen sei (diese Position vertritt auch Cohn-Bendit, dem es sogar gelungen ist, kein Wort über die Gruppe der „Wütenden“ in Nanterre zu sagen). Als diesmal positive und nicht mehr bloße Unterlassungslüge wird beim zweiten Muster jeder Evidenz zum Trotz behauptet, die Situationisten hätten es akzeptiert, irgendwie mit der „Bewegung des 22. März“ Fühlung zu nehmen, und viele gehen sogar so weit und lassen uns vollständig mit ihr verschmelzen. Schließlich schildert uns das dritte Muster als eine autonome Gruppe von unverantwortlichen Wüterichen, die sogar mit Waffengewalt die Sorbonne oder sonstige Gebäude überfallen hätten, um dort eine ungeheuerliche Unruhe anzustiften, und die verrücktesten Forderungen geltend gemacht hätten.

Es lässt sich jedoch nicht leicht leugnen, dass die Situationisten 1967-1968 einigermaßen kontinuierlich gehandelt haben. Gerade diese Kontinuität scheint sogar denen unangenehm gewesen zu sein, die mit ihren vielen Interviews bzw. angeworbenen Anhängern den Anspruch darauf erheben, die Führungsrolle in der Bewegung anerkannt zu bekommen — eine Rolle also, die die S.I. ihrerseits immer wieder von sich gewiesen hat; so werden einige unter diesen Leuten durch ihre schwachsinnige Ruhmsucht dazu gebracht, gerade das zu verheimlichen, was sie etwas besser als andere kennen. Die situationistische Theorie hatte beträchtlich zur Entstehung der generalisierten Kritik beigetragen, aus der die ersten Vorfälle der Mai-Krise entstanden sind und die sich gleichzeitig mit ihr entfaltete. Das war nicht nur unserer Intervention gegen die Strassburger Universität zuzurechnen; so waren z.B. in den wenigen Monaten vor Mai Vaneigems und Debords Bücher in je 2 bis 3.000 Exemplaren verbreitet worden, von denen ein außergewöhnlich hoher Prozentsatz von revolutionären Arbeitern gelesen wurde (nach gewissen Angaben sollen die beiden Bücher die beiden 1968 in den Buchhandlungen am meisten gestohlenen Bücher gewesen sein, wenigstens im Verhältnis zu ihrer Auflage). Durch die Gruppe der „Wütenden“ kann die S.I. mit vollem Recht sagen, dass sie eine nicht unwichtige Rolle bei der genauen Entstehung der Unruhen in Nanterre innehatte, die so weit führen sollten. Schließlich glauben wir, dass wir nicht allzu viel hinter der großen, spontanen Massenbewegung zurückblieben, die im Mai 68 im ganzen Land herrschte, sowohl durch unsere Tätigkeit in der Sorbonne als auch durch die verschiedenen späteren Aktionsformen des „Rates für die Aufrechterhaltung der Besetzungen“ (CMDO). Außer der eigentlichen S.I. bzw. einer größeren Anzahl von einzelnen Leuten, die ihre Thesen billigten und dementsprechend handelten, befürworteten noch viele andere situationistische Perspektiven, sei es wegen eines direkten Einflusses oder unbewusst, da diese zum großen Teil genau diejenigen waren, die diese Epoche einer revolutionären Krise objektiv in sich trug. Diejenigen, die daran zweifeln, brauchen nur die Mauern zu lesen (für alle, die es nicht unmittelbar erleben konnten, weisen wir auf den von Walter Lewino veröffentlichten Bildband Die Phantasie an die Macht hin, Losfeld-Verlag 1968).

Man kann also behaupten, dass die systematische Bagatellisierung der Rolle der S.I. nur eine Einzelheit darstellt, die der aktuellen und in der herrschenden Perspektive normalen Bagatellisierung der gesamten Bewegung der Besetzungen entspricht. Die Art Eifersucht gewisser Gauchisten, die stark zu diesem Werk beiträgt, ist übrigens vollkommen fehl am Platz. Die extremistischen Gauchistengrüppchen haben keinen Grund, als Rivalen der S.I. aufzutreten, da diese keine Gruppe ihrer Art ist, die mit ihnen auf dem Gebiet des Militantismus konkurriert oder die wie sie beansprucht, die revolutionäre Bewegung im Namen einer „korrekt“ behaupteten Interpretation dieser oder jener erstarrten, dem Marxismus bzw. dem Anarchismus entnommenen Wahrheit zu leiten. Wer die Frage so versteht, vergisst, dass die S.I. im Gegensatz zu diesen abstrakten Wiederholungen, in denen alte Schlussfolgerungen, die in den Klassenkämpfen immer noch aktuell sind, unentwirrbar mit unzähligen, einander zerreißenden Irrtümern bzw. Fälschungen durchsetzt sind, vor allem einen neuen Geist in die theoretische Auseinandersetzung über die Gesellschaft, die Kultur und das Leben eingeführt hatte. Zweifellos war dieser Geist revolutionär. Er konnte sich bis zu einem bestimmten Grad mit der wieder ansetzenden wirklichen revolutionären Bewegung verbinden. Genau in dem Maße, wie diese Bewegung ebenfalls neu war, konnte sie der S.I. ähnlich sein und deren Thesen teilweise übernehmen — keineswegs aber durch den traditionellen politischen Prozess des Beitritts bzw. des Mitläufertums. Der vollauf neue Charakter dieser praktischen Bewegung lässt sich gerade aus dem Einfluss selbst ablesen, der von der S.I. ausgeübt wurde und der überhaupt nichts mit einer Führungsrolle zu tun hat. Alle gauchistischen Tendenzen — inklusive der „Bewegung des 22. März“, die in ihrem Trödelladen Leninismus, chinesischen Stalinismus, Anarchismus und sogar ein kleines bisschen missverstandenen „Situationismus“ anzubieten hatte — beriefen sich ganz ausdrücklich auf eine lange Vergangenheit der Kämpfe, Beispiele und hundertmal veröffentlichter und ausdiskutierter Doktrinen. Freilich waren diese Kämpfe bzw. Veröffentlichungen von der stalinistischen Reaktion unterdrückt und von den bürgerlichen Intellektuellen vernachlässigt worden. Sie waren jedoch weitaus zugänglicher als die neuartigen Positionen der S.I., die sich nie anders als durch unsere eigenen Veröffentlichungen und neuesten Aktivitäten hatten bekanntmachen können. Wenn die wenigen bekannten S.I.-Dokumente ein solches Gehör gefunden haben, so offensichtlich deshalb, weil ein Teil der fortgeschrittenen praktischen Kritik sich selbst in dieser Sprache erkannte. So ist unsere jetzige Position ziemlich gut dazu geeignet, das zu sagen, was im Mai wesentlich war — sogar in seinem verborgen gebliebenen Teil: die unbewussten Tendenzen der Bewegung der Besetzungen bewusst zu machen. Andere, die lügen, sagen, es hätte bei diesem absurden Ausbruch nichts zu verstehen gegeben; oder sie benutzen den Schirm ihrer Ideologie dazu, um nur wirkliche, aber ältere und weniger wichtige Aspekte als das Ganze zu beschreiben; andere schließlich setzen durch jetzt neue Themen für eine sich selbst verzehrende „Fragestellung“ die „argumentistische“ Methode fort. Für sie haben sie die großen Zeitungen und die kleinen Freundschaften, die Soziologie und die hohen Auflagen. Wir haben nichts von alledem und unser Recht auf das Wort verdanken wir nur uns selbst. Doch wird das, was jene über den Mai sagen, sich in allgemeiner Gleichgültigkeit entfernen und in Vergessenheit geraten müssen; das dagegen, was wir sagen, letztlich geglaubt und wiederaufgenommen werden.

Genauso gut wie auf den Mauern ist der Einfluss der situationistischen Theorie auch in der Aktion der Revolutionäre von Nantes und der „Wütenden“ von Nanterre zu sehen, die auf eine andere Art und Weise mustergültig sind. In der gesamten Presse ist Anfang 1968 leicht zu erkennen, welche Empörung durch die neuen, von den „Wütenden“ eingeführten bzw. systematisch benutzten Aktionsformen hervorgerufen wurde. „Nanterre im Schlamm“ wurde zum „verrückten Nanterre“, da sich einige „Campushalbstarke“ eines Tages einig geworden waren, dass „alles, was fraglich ist, in Frage gestellt werden muss“ und da sie das „bekanntmachen“ wollten.

Diejenigen, die damals zusammenkamen und die Gruppe der „Wütenden“ bildeten, dachten tatsächlich nicht im voraus daran, Unruhe zu stiften. Diese „Studenten“ waren nur zum Schein und wegen des Stipendiums dort. Es geschah nur, dass Schlammwege und Wellblechbaracken ihnen weniger hassenswert zu sein schienen als die Betongebäude, die tölpelhafte Selbstgefälligkeit der Studenten und die Hintergedanken der modernistischen Professoren. Bei der ersteren war für sie immer noch etwas Menschliches übriggeblieben, während sie nur Elend, Langeweile oder Lüge in der kulturellen Nährlösung fanden, in der Lefebvre mit seiner Redlichkeit, Touraine mit seinem Ende des Klassenkampfes, Bouricaud mit seinen Kraftmenschen und Lourau mit seiner Zukunft zusammen planschten. Außerdem kannten sie die situationistischen Thesen und wussten, dass die denkenden Köpfe des Uni-Gettos diese gleichfalls kannten, oft an sie dachten und ihren Modernismus aus ihnen schöpften. Sie beschlossen, dass jedermann das erfahren sollte und beschäftigten sich damit, die Lüge zu entlarven, indem sie es sich vorbehielten, später andere Spielplätze zu finden: rechneten sie doch damit, dass, wenn sie einmal Lügner und Studenten verjagt und die Fakultät zerstört haben würden, das Glück sie zu anderen Begegnungen in anderem Maßstab führen würde und dass dann „Glück und Unglück Gestalt annehmen würden“.

Détail d’une bande dessinée des Enragés
(publiée le 14-2-68)

Durch ihre Vergangenheit, aus der sie kein Hehl machten (die meisten waren frühere Anarchisten, es gab aber auch Surrealisten und einen ehemaligen Trotzkisten), beunruhigten sie schnell diejenigen, mit denen sie zunächst zusammenstießen — die alten gauchistischen Grüppchen, ob Trotzkisten vom C.L.E.R. oder anarchistische Studenten einschließlich Daniel Cohn-Bendit, die alle über den Mangel an Zukunft für die UNEF und die Funktion der Psychologen diskutierten. Ihre Entscheidung, zahlreiche Ausschlüsse ohne unnütze Duldsamkeit durchzuführen, schützte sie vor dem Erfolg, den sie schnell bei ungefähr zwanzig Studenten hatten, sowie vor all denen, die nach einem Situationismus ohne Situationisten ausspähten, in den sie ihre Zwangsvorstellungen und ihr Elend hineintragen könnten. Unter solchen Umständen bestand diese Gruppe, die ab und zu bis zu fünfzehn Mitglieder hatte, meistens aus sechs Agitatoren. Wir haben gesehen, dass es vollkommen genügte.

Sind heute die Sabotagemethoden, die von den „Wütenden“ angewandt wurden, und vor allem die Sabotage der Vorlesungen in den Fakultäten und in den Gymnasien alltäglich geworden, so erregten sie doch damals sowohl die Gauchisten als auch die guten Studenten, so dass die ersteren sogar manchmal Ordner aufstellten, die die Professoren vor niederprasselnden Beschimpfungen und faulen Apfelsinen schützen sollten. Durch Verallgemeinerung des Gebrauchs wohlverdienter Beschimpfungen und der Wandbekritzelung, der Parole eines bedingungslosen Boykotts der Prüfungen, der Verteilung von Flugblättern in den Universitätsräumen und letzten Endes des Skandals ihres alltäglichen Lebens zogen sich die „Wütenden“ den ersten Repressionsversuch zu — Riesels und Bogorgnes Vorladung vor den Dekan am 25. Januar; Chevals Ausschluss aus dem Studentenheim Anfang Februar; Bigorgnes Ausweisung (Ende Februar) und Verurteilung zu 5 Jahren Aussperrung aus allen französischen Universitäten (Anfang April). Parallel dazu fingen die Grüppchen an, eine Agitation im engeren politischen Sinne anzustiften und weiterzuentwickeln.

Doch wurden die alten Affen der Reserve, die sich in der verwickelten Inszenierung ihres „Denkens“ verloren hatten, erst spät unruhig. Man musste sie also zwingen, das Gesicht zu verziehen — so z.B. als der vor Wut platzende Morin unter dem Beifall der Studenten ausrief: „Sie haben mich vor einigen Tagen in die Mülleimer der Geschichte zurückgewiesen …“ — Zwischenruf: „Wieso bist du denn eigentlich rausgekommen?“ — „Ich stehe lieber auf der Seite der Mülleimer als auf der derjenigen, die sie handhaben, und auf jeden Fall lieber auf der Seite der Mülleimer als der Krematorien!“ Oder z.B. der vor Zorn geifernd brüllende Touraine: „Die Anarchisten und noch viel mehr die Situationisten habe ich jetzt satt! Ich bin immer noch derjenige, der hier zu befehlen hat und sollten Sie es eines Tages sein, so würde ich dort hingehen, wo man weiß, was arbeiten heißt!“ Erst ein Jahr später sollten die Entdeckungen dieser Vorkämpfer in den Artikeln ihre Anwendung finden, in denen Raymond Aron und Etiemble gegen die Unmöglichkeit jeder Arbeit und den Aufstieg des gauchistischen Totalitarismus bzw. des roten Faschismus protestierten. Vom 26. Januar an bis zum 22. März wurden die Vorlesungen fast pausenlos gewaltsam unterbrochen. So wurde eine permanente Agitation zur Durchführung mehrerer Projekte erhalten, die doch fehlschlugen — Veröffentlichung einer Broschüre Anfang Mai, Eindringung und Plünderung des Verwaltungsgebäudes der Fakultät mit Hilfe von Revolutionären aus Nantes Anfang März. Bevor der Dekan Groppin so viel erleben musste, denunzierte er in einer Pressekonferenz am 28. März „eine Gruppe unverantwortlicher Studenten, die seit einigen Monaten die Vorlesungen stören und Partisanenmethoden in der Fakultät praktizieren … Diese Studenten sind mit keiner bekannten politischen Organisation verbunden. Sie stellen eine Art Sprengstoff in einem sehr empfindlichen Milieu dar.“ Was die Broschüre betrifft, so war der Drucker der „Wütenden“ nicht so schnell wie die Revolution. Als die Krise vorbei war, verzichtete man auf die Veröffentlichung eines Textes, der den Anschein hätte geben können, eine Prophezeiung nach dem Ergebnis zu sein.

Aus all dem lässt sich das Interesse der „Wütenden“ für den Abend des 22. März erklären, auch wenn sie von vornherein allen anderen Protestierenden misstrauten. Während Cohn-Bendit, der schon ein Stern am Himmel von Nanterre war, mit den am wenigsten Entschlossenen diskutierte, ließen sich die zehn „Wütenden“ allein im Raum des Fakultätsrats nieder, in dem sich die zukünftige „Bewegung des 22. März“ erst 22 Minuten später an sie anschloss. Es ist jetzt bekannt (vgl. Viénets Buch), wie und warum jene sich aus dieser Farce zurückzogen. Sie sahen außerdem, dass die Polizei nicht kam und dass sie mit solchen Leuten das einzige Ziel nicht erreichen könnten, das sie sich für diese Nacht gesetzt hatten und zwar die vollständige Zerstörung der Prüfungsakten. In den frühen Stunden des 23. März beschlossen sie, fünf von ihnen auszuschließen, die es abgelehnt hatten, den Raum zu verlassen, aus Angst, „sich von den Studentenmassen zu trennen“!

Es ist freilich witzig festzustellen, dass die Auseinandersetzung mit den doppelzüngigen Denkern der „Arguments“-Gang der Mai-Bewegung zugrunde liegt. Indem sie aber den abstoßenden Trupp der vom Staat besoldeten subversiven Denker angegriffen haben, taten die „Wütenden“ etwas anderes, als nur einen alten Streit zu erledigen: sie sprachen schon als Bewegung der Besetzungen, indem sie um die wirkliche Besetzung aller von der Lüge beherrschten Sektoren des gesellschaftlichen Lebens durch alle Menschen kämpften. Auf ähnliche Weise zerstörten sie bereits, als sie auf die Betonwände schrieben: „Nehmt eure Wünsche für die Realität!“, die Rekuperationsideologie der von der „Bewegung des 22. März“ anmaßend lancierten Formel „Die Phantasie an die Macht“. Tatsächlich — sie hatten Wünsche und die anderen keine Phantasie.

Im April kamen die „Wütenden“ fast nicht mehr nach Nanterre zurück. Der Wunsch nach direkter Demokratie, der durch die „Bewegung des 22. März“ zur Schau gestellt wurde, war offensichtlich bei einer so schlechten Gesellschaft nicht durchführbar und sie weigerten sich im voraus, den kleinen Platz einzunehmen, der ihnen als extremistischen Spaßmachern gern links von der lächerlichen „Kommission für Kultur und Kreativität“ eingeräumt wurde. Im Gegensatz dazu bedeutete die Wiederaufnahme durch die Studenten von Nanterre — wenn auch zu einem fraglichen anti-imperialistischen Zweck — einiger Agitationsmethoden, dass man damit anfing, die Debatte auf das Gebiet zu bringen, das sie hatten definieren wollen. Das beweisen die Pariser Studenten ebenfalls, die am 3. Mai die Polizei angriffen und dadurch den neusten Missgriff der Universitätsverwaltung erwidert hatten. Über das gewalttätige Warnungsflugblatt, das am 6. Mai mit dem Titel Die Wut im Bauch von den „Wütenden“ verteilt wurde, empörten sich nur die darin denunzierten Leninisten, so sehr es der wirklichen Bewegung angemessen war; in zwei Tagen Straßenkämpfen hatten die Aufständischen seine Gebrauchsanweisung gefunden. Die autonome Aktivität der „Wütenden“ ging genau so konsequent zuende, wie sie begonnen hatte. Sie wurden wie Situationisten behandelt, noch bevor sie in der S.I. waren, da die gauchistischen Rekuperatoren sich von ihnen beeinflussen ließen, wobei sie es für möglich hielten, sie durch ihre eigene Zurschaustellung vor diesen Journalisten zu verschweigen, die selbstverständlich von den „Wütenden“ zurückgewiesen worden waren. Das Wort „Wütende“ selbst, mit dem Riesel die Bewegung der Besetzungen auf unvergessliche Art geprägt hat, bekam spät und eine Zeitlang eine werbungsmäßige „cohn-benditische“ Bedeutung.

Durch die schnelle Folge der Straßenkämpfe während der ersten zehn Maitage waren die S.I.-Mitglieder, die „Wütenden“ und noch einige Genossen gleich zusammengebracht worden. Am 14. Mai, am Tag nach der Besetzung der Sorbonne also, nahm diese Einigkeit Gestalt an, als sie sich zu einem „Wütende-S.I.-Komitee“ zusammenschlossen, das am selben Tag mit der Veröffentlichung einiger Dokumente mit dieser Unterschrift begann. Daraus folgte eine breitere Ausdrucksmöglichkeit der situationistischen Thesen innerhalb der Bewegung, wobei es aber nicht darauf ankam, besondere Grundsätze aufzustellen, nach denen wir beansprucht hätten, die wirkliche Bewegung zu gestalten. Indem wir sagten, was wir meinten, sagten wir gleichzeitig, wer wir waren, während so viele andere sich verkleideten, um zu erklären, dass die korrekte Politik ihres Zentralkomitees befolgt werden müsse. An diesem Abend machte sich die Sorbonne-Vollversammlung, die effektiv den Arbeitern offen stand, daran, auf der Stelle ihre Macht zu organisieren und René Riesel, der die radikalsten Positionen über die Organisation selbst der Sorbonne und die totale Ausdehnung des begonnenen Kampfes behauptet hatte, wurde in das erste Besetzungskomitee gewählt. Am 15. schickten die in Paris anwesenden Situationisten ein Rundschreiben An die S.I.-Mitglieder und an die Genossen, die sich mit unseren Thesen einverstanden erklärt haben in die Provinz und ins Ausland. In diesem Text wurde der laufende Prozess und dessen mögliche Entwicklungsformen in abnehmender Wahrscheinlichkeitsfolge kurz analysiert — und zwar die Erschöpfung der Bewegung in dem Fall, indem sie sich „auf die Studenten“ beschränken würde, „bevor sich die anti-bürokratische Agitation noch weiter ins Arbeitermilieu verbreitet hat“, die Repression oder schließlich die „soziale Revolution“. Er enthielt auch die Berichterstattung über unsere bisherige Tätigkeit und forderte dazu auf, sofort maximal zu handeln, „um die Agitation bekanntzumachen, zu unterstützen und auszudehnen.“ Als unmittelbare Themen für Frankreich schlugen wir dann folgendes vor: „die Besetzung der Fabriken“ (die am vorherigen Abend geschehene Besetzung von Sud-Aviation war gerade bekannt geworden); die „Bildung von Arbeiterräten; die endgültige Schließung der Universität und die vollständige Kritik aller Entfremdungen.“ Wir wollen daraufhinweisen, dass wir zum ersten Mal seit der Entstehung der S.I. irgendjemanden, selbst diejenigen, die unseren Positionen am nächsten standen, dazu aufforderten, etwas zu tun. Deswegen fand unser Rundschreiben Anklang, vor allem in einigen Städten, in denen sich die Maibewegung am stärksten durchsetzte. Am 16. Mai abends versandte die S.I. ein neues Rundschreiben, in dem wir die weitere Entwicklung im Laufe des Tages darlegten und „eine stärkere Machtprobe“ voraussagten. Diese Rundschreibenreihe wurde durch den Generalstreik unterbrochen, aber dann nach dem 20. Mai in einer anderen Form von den Emissären wiederaufgenommen, die das CMDO in die Provinz und ins Ausland schickte.

Dernier rapport du comité d’occupation a l’assemblée générale de la Sorbonne, le 17 mai
« Que nous importe le jugement qui pourra être ultérieurement porté sur nos obscures personnalités. Si nous avons constaté les différences politiques qui existent entre la majorité de la Commune et nous, ce n’est pas pour attirer le blâme sur les uns et l’éloge sur les autres. C’est pour que plus tard, si la Commune était vaincue, on sache qu’elle était autre que ce qu’elle a paru être jusqu’ici. »
Gustave Lefrançais, Discours à ses mandants du 4ᵉ arrondissement, le 20 mai 1871.

In Viénets Buch wird im einzelnen ausgeführt, wie die meisten Mitglieder des Besetzungskomitees der Sorbonne, das von der Vollversammlung am Abend des 15. geschlossen wiedergewählt worden war, auf Zehenspitzen weggingen, wobei sie den Manövern und Einschüchterungsversuchen einer informellen Bürokratie (UNEF, MAU, JCR usw.) nachgaben, die bestrebt war, unterirdisch die Sorbonne wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. So übernahmen die „Wütenden“ und die Situationisten am 16. und 17. Mai die Verantwortung für das Besetzungskomitee. Nachdem die Vollversammlung vom 17. schließlich die Handlungen, durch die dieses Komitee sein Mandat ausgeübt hatte, nicht gebilligt hatte — und sie übrigens auch nicht missbilligte, da jede Abstimmung von den Manipulatoren verhindert wurde — erklärten wir sofort, dass wir die ohnmächtige Sorbonne verlassen würden und alle, die um dieses Besetzungskomitee zusammengekommen waren, gingen mit uns. Sie sollten den Kern des Komitees für die Aufrechterhaltung der Besetzungen (CMDO) bilden. Man muss darauf hinweisen, dass das zweite, nach unserem Auszug gewählte Besetzungskomitee identisch mit sich selbst und auf die bekannte ruhmreiche Weise weiter fungierte bis zum Einzug der Polizei im Juni. Nie wieder war die Rede davon, jeden Tag absetzbare Delegierte von der Vollversammlung wiederwählen zu lassen. Dieses Komitee aus Berufspolitikern schaffte sogar sehr schnell die Vollversammlungen ab, die es nur für Ursachen der Unruhe und des Zeitverlustes hielt. Dagegen können die Situationisten ihre Tätigkeit in der Sorbonne allein in der Formel zusammenfassen: „Alle Macht der Vollversammlung“. Deshalb ist es lustig, jetzt von einer situationistischen Macht sprechen zu hören, während diese „Macht“ in Wirklichkeit nur darin bestand, immer wieder an das Prinzip der direkten Demokratie gerade hier und überall zu erinnern, unaufhörlich Rekuperatoren und Bürokraten zu denunzieren und von der Vollversammlung zu verlangen, dass sie die Verantwortung auf sich nimmt, indem sie Beschlüsse fasst und alle ihre Beschlüsse vollstreckbar macht.

Alle Manipulatoren und gauchistischen Bürokraten hatten sich über die konsequente Haltung unseres Besetzungskomitees allgemein entrüstet. Zwar hatten wir in der Sorbonne das Prinzip und die Methoden der direkten Demokratie verteidigt, wir hegten jedoch nur wenig Illusionen über die soziale Zusammensetzung und das allgemeine Bewusstseinsniveau dieser Versammlung. Wir sahen wohl ein, wie paradox das Vorhandensein einer Vertretung war, die entschlossener als ihre Mandanten in ihrer Forderung nach direkter Demokratie war, und ferner, dass es auf die Dauer nicht zu halten war. Wir waren aber vor allem darum bemüht gewesen, die beträchtlichen Mittel, die uns dank der Besetzung der Sorbonne zur Verfügung standen, in den Dienst des beginnenden wilden Streiks zu stellen. So verbreitete das Besetzungskomitee z.B. am 16. um 15 Uhr eine kurze Erklärung, in der „zur sofortigen Besetzung aller Fabriken in Frankreich und zur Bildung von Arbeiterräten“ aufgefordert wurde. Alle übrigen Vorwürfe gegen uns waren fast ohne Bedeutung im Vergleich mit dem Skandal, der durch diese „verwegene“ Aufforderung aus der Sorbonne überall — außer bei denen, die die Besetzung an der Basis durchgeführt hatten — hervorgerufen wurde. Doch waren in diesem Augenblick schon zwei oder drei Fabriken besetzt, ein Teil der NMPP-Fahrer versuchte, den Zeitungsvertrieb zu blockieren und in den Renault-Werken begannen die Arbeiter mehrerer Werkstätten erfolgreich damit, die Arbeit stillzulegen, wie man zwei Stunden später erfuhr. Es fragt sich, in welcher Eigenschaft Individuen ohne Titel den Anspruch darauf erheben konnten, die Sorbonne zu besetzen, wenn sie die Besitzergreifung allen Eigentums im ganzen Land durch die Arbeiter nicht befürworteten? Unserer Meinung nach stellte eine solche Stellungnahme die letzte Antwort der Sorbonne dar, die auf gleicher Höhe mit der Bewegung stand, die die Fabriken jetzt glücklicherweise ablösten — d.h. auf gleicher Höhe mit der Antwort der Fabriken selbst auf die ersten begrenzten Kämpfe im Quartier Latin. Gewiss widersprach dieser Aufruf nicht den Absichten der Mehrheit derer, die damals in der Sorbonne waren und so viel getan haben, um ihn zu verbreiten. Da die Fabrikbesetzungen um sich griffen, befürworteten übrigens die gauchistischen Bürokraten selbst eine Tatsache, mit der sie sich am Vorabend nicht zu kompromittieren gewagt hatten, obwohl sie ihre Missbilligung der Räte nicht verleugneten. Die Bewegung der Besetzungen brauchte gar nicht von der Sorbonne gebilligt zu werden, um auf andere Betriebe überzugreifen. Abgesehen davon, dass zu dieser Zeit jede Stunde zählte, um alle Fabriken mit der Aktion zu verbinden, die durch einige von ihnen begonnen worden war, während die Gewerkschaften überall versuchten, Zeit zu gewinnen, um die allgemeine Stillegung der Arbeit zu verhindern; dass ferner ein solcher Aufruf von dieser Stelle gleich weit verbreitet wurde — inklusive über Rundfunk —, haben wir es aber vor allem für wichtig gehalten, zusammen mit dem beginnenden Kampf das Maximum zu zeigen, das er sofort anstreben sollte. Die Arbeiter in den Fabriken gingen nicht so weit und bildeten keine Räte; was die Streikenden betrifft, die begannen, in die Sorbonne zu strömen, so fanden sie freilich dort nicht das Vorbild.

Man kann der Meinung sein, dass dieser Aufruf dazu beigetragen hat, hier und dort einige Perspektiven des radikalen Kampfes zu eröffnen. Auf jeden Fall bleibt er sicherlich eines der Ereignisse dieses Tages, die die größte Furcht eingeflößt haben. Bekanntlich ließ der Ministervorsitzende um 19 Uhr ein Kommuniqué verbreiten, in dem behauptet wurde, dass die Regierung „angesichts verschiedener Versuche, die von extremistischen Gruppen angekündigt bzw. in Gang gesetzt wurden, um eine generalisierte Unruhe zu stiften“ alles unternehmen würde, um „den öffentlichen Frieden“ und die republikanische Ordnung aufrechtzuerhalten, „sobald es sich herausstellen würde, dass die Universitätsreform als bloßer Vorwand gebraucht wird, um das Land in die Unordnung zu stürzen.“ Gleichzeitig wurden 10.000 Reservisten der Gendarmerie zurückberufen. Die „Universitatsreform“ war tatsächlich nur ein Vorwand — sogar für die Regierung, die hinter dieser so plötzlich entdeckten ehrenvollen Notwendigkeit ihren Rückzug vor dem Aufstand im Quartier Latin verschleierte.

Der Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen, der zunächst die IPN-Gebäude in der Rue d’Ulm besetzte, tat sein Möglichstes während der weiteren Entwicklung der Krise, zu der übrigens keine der bestehenden organisierten revolutionären Gruppen mehr Nennenswertes beitragen konnte, sobald sich der Streik generalisiert hatte und in der Defensive stehenblieb. Der CMDO, in dem die Situationisten, die Wütenden und 30 bis 60 andere revolutionäre Räte-Anhänger zusammengekommen waren, sorgte für zahlreiche Verbindungen in Frankreich und außerhalb Frankreichs, wobei er sich am Ende der Bewegung besonders damit beschäftigte, Revolutionären anderer Länder deren Bedeutung bekanntzumachen, die durch sie zwangsläufig beeinflusst werden mussten. Er veröffentlichte eine gewisse Anzahl von Plakaten und Dokumenten — mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren bei den wichtigsten von ihnen —, von denen der Bericht über die Besetzung der Sorbonne vom 19., Für die Macht der Arbeiterräte vom 22. und die Adresse an alle Arbeiter vom 30. Mai die wesentlichsten sind. Der CMDO, der von niemandem geführt bzw. für die Zukunft eingespannt worden war, „vereinbarte am 15.Juni, sich aufzulösen … Der CMDO hatte keineswegs versucht, etwas für sich zu erreichen, nicht einmal irgendwie Leute anzuwerben, um dann permanent fortzubestehen. Seine Teilnehmer trennten nicht ihre persönlichen Ziele von den allgemeinen Zielen der Bewegung. Sie waren unabhängige Individuen, die für einen bestimmten Kampf auf einer bestimmten Grundlage und in einem bestimmten Augenblick zusammengekommen waren; nach diesem Kampf wurden sie wieder autonom“ (vgl. Viénets Buch). Der Rat für die Erhaltung der Besetzungen war „ein Verbindungsmittel — keine Macht“.

Einige haben uns im Mai und seither vorgeworfen, alle kritisiert und damit die Aktivität der Situationisten als die einzig annehmbare dargestellt zu haben. Das ist falsch. Wir haben die Bewegung der Massen in ihrer ganzen Tiefe sowie die beachtlichen Initiativen von mehreren zehntausend Individuen gebilligt. Wir haben weiterhin die Aktivitäten einiger revolutionärer Gruppen, die wir z.B. in Nantes und Lyon kennengelernt haben, gebilligt, sowie die Handlungen all derer, die mit dem CMDO in Kontakt standen. Aus den von Viénet angeführten Dokumenten wird außerdem ganz klar, dass wir teilweise manche Erklärungen der Aktionskomitees ebenfalls billigen. Gewiss hätten wir vielen Gruppen oder Komitees zugestimmt, die uns während der Krise unbekannt geblieben sind, wenn wir die Gelegenheit gehabt hätten, über sie Bescheid zu wissen; es liegt um so mehr auf der Hand, dass wir sie gar nicht kritisieren konnten, da wir sie nicht kannten. Wenn das einmal gesagt worden ist; so ist es immerhin erstaunlich, wenn man von uns in dem Fall der kleinen gauchistischen Parteien und der „Bewegung des 22. März“ irgendeine höfliche Billigung erwartet, obwohl man unsere früheren Positionen kennt und die Aktivität der betreffenden Leute während dieser Periode feststellen kann.

Genauso wenig haben wir behauptet, dass bestimmte Aktionsformen der Bewegung der Besetzungen — außer vielleicht dem Gebrauch der kritischen „Comix“ — eine direkte situationistische Herkunft hatten. Im Gegenteil sind sie unserer Meinung nach alle aus den „wilden“ Arbeiterkämpfen erwachsen, die wir seit mehreren Jahren in einigen Nummern unserer Zeitschrift bei ihrer jeweiligen Entstehung erwähnt haben, wobei wir genau angaben, woher sie kamen. Als erste haben die Arbeiter das Gebäude einer Zeitung gestürmt, um gegen die verfälschten Informationen über ihre Aktion zu protestieren (Lüttich 1961); die Wagen in Brand gesteckt (Merlebach 1962); damit angefangen, die Parolen der neuen Revolution auf die Wände zu schrieben (so z.B. „Hier endet die Freiheit“ auf eine Wand der Rhodiaceta-Fabrik 1967). Dagegen kann man darauf als auf ein offensichtliches Vorspiel zur Aktivität der Wütenden hinweisen, dass zum ersten Mal am 26. Oktober 1966 in Strassburg ein Universitätsprofessor angegriffen und aus seinem Lehrstuhl verjagt wurde — das musste der Kybernetiker Abraham Moles tatsächlich bei seiner Eröffnungsvorlesung von den Situationisten erleiden.

Alle Texte, die wir während der Bewegung der Besetzungen veröffentlicht haben, zeigen, dass die Situationisten nie Illusionen über die Chancen ihres vollständigen Erfolgs verbreitet haben. Wir waren uns bewusst, dass diese objektiv mögliche und notwendige revolutionäre Bewegung einen sehr niedrigen Ausgangspunkt hatte: als spontane und zerstückelte, um ihre eigene Vergangenheit und die Totalität ihrer Ziele nicht wissende Bewegung, tauchte sie nach einem halben Jahrhundert des Niederwerfens wieder auf, und trat ihren immer noch fest im Sattel sitzenden Besiegern, den Bürokraten und den Bourgeois gegenüer. Die Revolution hatte unserer Meinung nach nur eine sehr schwache Möglichkeit, zwischen dem 17. und dem 30. Mai dauerhaft zu siegen. Da aber diese Chance vorhanden war, haben wir sie als das Maximum aufgezeigt, das von einem bestimmten Punkt der Krise an auf dem Spiel stand, und das es sicherlich wert war, aufs Spiel gesetzt zu werden. Schon die Bewegung war für uns, was auch immer später passieren mochte, ein großer historischer Sieg und wir waren der Meinung, dass nur die Hälfte dessen, was schon passiert war, ein sehr bedeutungsvolles Ereignis gewesen wäre.

Niemand kann bestreiten, dass die S.I. — damit gleichfalls im Gegensatz zu allen Grüppchen — jede Propaganda für sich abgelehnt hat. Weder schwang der CMDO die „situationistische Fahne“ noch sprach ein einziger unserer damaligen Texte von der S.I., außer dem, in dem wir Barjonets zynische Aufforderung zur gemeinsamen Front am Tag nach der Charléty-Demonstration erwiderten. Unter den vielfältigen für die Werbung benutzten Abkürzungsbuchstaben der Gruppen, die sich als zur Führung berufen betrachten, hat man auf den Pariser Mauern keine einzige Parole mit dem „S.I.“-Kennzeichen sehen können — obwohl zu dieser Zeit unsere Anhänger diejenigen waren, die in Paris im wesentlichen das Regiment führten.

Unserer Meinung nach — und diese Meinung wollen wir in erster Linie den Genossen in anderen Ländern darlegen, die eine derartige Krise auch kennen werden — zeigen diese Beispiele das, was einige im wesentlichen kohärente Individuen in der ersten Phase der wiederauftauchenden revolutionären proletarischen Bewegung tun können. Im Mai gab es in Paris nur etwa zehn Situationisten und Wütende und überhaupt keinen im übrigen Frankreich. Dank der glücklichen Vereinigung der spontanen revolutionären Improvisation und der Art Nimbus von Sympathie, der um die S.I. herum vorhanden war, wurde es aber möglich, eine breitere Aktion nicht nur in Paris selbst, sondern auch in mehreren Großstädten zu koordinieren, als ob es sich um eine schon auf nationaler Ebene vorhandene Organisation gehandelt hätte. Noch breiter als diese spontane Organisation selbst wurde eine Art undeutliche und geheimnisvolle situationistische Drohung in vielen Orten empfunden und denunziert: ihre Träger waren einige hundert, vielleicht sogar einige tausend Individuen, die von den Bürokraten und den Gemäßigten „Situationisten“ genannt wurden — und öfters noch Situs, in der Volksbenennung, die zu dieser Zeit entstand. Wir halten uns dadurch für geehrt, dass dieses Wort „Situ“, das anscheinend seine herabsetzende Herkunft in der Sprache gewisser Studentenkreise in der Provinz hat, nicht nur dazu benutzt wurde, um die extremistischsten Teilnehmer an der Bewegung der Besetzungen zu kennzeichnen, sondern auch etwas in sich hatte, was nach Vandale, Dieb und Halbstarkem klang.

Wir glauben nicht, dass wir es vermieden haben, Fehler zu begehen. Wir wollen sie hier aufzählen, damit die Genossen, die sich eventuell später in einer ähnlichen Lage befinden können, aus ihnen lernen.

Barricade spartakiste
« Noske tire avec l’artillerie — Spartakus n’a que l’infanterie — Les grenades frappent dans nos rangs — Les chiens de Noske donnent l’assaut à Büxenstein. »
Chanson des ouvriers, soldats et matelots de Berlin, 1919
citée in Georges Glaser, Secret et Violence.

« Rue Gay-Lussac, les rebelles — n’ont que les voitures à brûler … Ils nous lancent comme grêle — grenades et gaz chlorés — Nous ne trouvons que des pelles — et couteaux pour nous armer. »
Chanson du C.M.D.O.

Auf der Rue Gay-Lussac, auf der wir uns als kleine, spontan zusammengekommene Gruppe wiedergefunden haben, sind jeder dieser Gruppen zig Bekannte begegnet — bzw. Leute, die uns nur vom Sehen kannten und zu uns kamen, um zu reden. Dann entfernte sich jeder in der wunderschönen Unordnung dieses „befreiten Viertels“ zu dieser „Grenze“ oder jener Verteidigungsvorbereitung hin, lange bevor die Polizisten zum unvermeidlichen Angriff übergegangen waren. So dass nicht nur alle diese Leute mehr oder weniger isoliert geblieben sind, sondern auch unsere Gruppen selbst nicht zusammenkommen konnten. Es war also ein schwerer Fehler von uns, nicht alle gleich dazu aufgefordert zu haben, zusammenzubleiben. In weniger als einer Stunde wäre eine so handelnde Gruppe stetig angewachsen und sie hätte alle diese Barrikadenkämpfer zusammengebracht, die wir irgendwie kannten — unter denen jeder von uns mehr Freunde wiedertraf als man zufällig im Laufe eines Jahres in Paris treffen kann. So konnte eine Truppe von zwei bis dreihundert Leuten zusammengestellt werden, die sich untereinander kannten und gemeinsam handelten, was in diesem zersplitterten Kampf gerade am meisten gefehlt hat. Zweifellos war dieser Kampf durch das zahlenmäßige Verhältnis zu den das Viertel umzingelnden Kräften, die ungefähr dreimal so groß wie die der Aufständischen waren, ohne überhaupt von der Überlegenheit der Bewaffnung zu sprechen, sowieso zum Misserfolg verurteilt. Durch eine solche Gruppe hätte man aber einen gewissen freien Spielraum schaffen können, sei es durch irgendeinen Gegenangriff an einem bestimmten Punkt des angegriffenen Geländes, sei es durch den Bau weiterer Barrikaden am östlichen Teil der Rue Mouffetard (einer Zone, die bis sehr spät in die Nacht hinein von der Polizei ziemlich schlecht beherrscht wurde), um den Rückzug derer zu ermöglichen, die in dem Netz gefangen waren (einige Hundert konnten nur durch Zufall einen unsicheren Zufluchtsort in der Ecole Normale Supérieure finden).

Unter den Umständen und bei der damaligen Unterstützung haben wir im Besetzungskomitee der Sorbonne ungefähr alles getan, was wir tun konnten. Man kann uns nicht vorwerfen, nicht mehr getan zu haben, um den Baustil dieses traurigen Gebäudes zu verändern, das wir uns nicht einmal ganz angesehen haben. Zwar gab es immer noch eine verschlossene Kapelle, aber eines unserer Plakate — wie auch Riesel in seiner Intervention bei der Vollversammlung am 14. Mai — rief die Besetzenden dazu auf, sie schnellstens zu zerstören. Andererseits ist „Radio-Sorbonne“ — der Sorbonner „Sender“ — keineswegs ein Sender und man kann uns also nicht dafür tadeln, ihn nicht gebraucht zu haben. Selbstverständlich haben wir am 17. Mai weder ins Auge gefasst, das Gebäude in Brand zu stecken noch Vorbereitungen dafür getroffen, wie damals nach einigen obskuren Verleumdungen der Grüppchen ein Gerücht umging: die Tagesangabe genügt, um zu zeigen, dass ein solches Vorhaben unpolitisch gewesen wäre. Wir haben uns auch nicht mit verstreuten Einzelheiten beschäftigt, für wie wichtig man sie auch immer halten mag, es ist also reine Einbildung von Jean Maitron, dass „Küche und Restaurant der Sorbonne … bis zum Juni unter der Kontrolle der Situationisten geblieben sind. Sehr wenige Studenten unter ihnen, aber viele arbeitslose Jugendliche“ (vgl. Die Sorbonne, dargestellt durch sich selbst, S. 114, Editions Ouvrières 1968). Folgenden Irrtum müssen wir uns jedoch selbst vorwerfen: die Genossen, die damit beauftragt waren, Flugblätter und Erklärungen des Besetzungskomitees zum Drucker zu bringen, haben vom 16. Mai 17 Uhr an die Unterschrift „Besetzungskomitee der Sorbonne“ durch „Besetzungskomitee der autonomen Volksuniversität der Sorbonne“ ersetzt und keiner hat das gemerkt. Das war bestimmt ein ziemlich bedeutender Rückfall, denn für uns war die Sorbonne nur als ein durch die revolutionäre Bewegung beschlagnahmtes Gebäude von Interesse, während diese neue Unterschrift glauben ließ, dass wir den Anspruch dieses Ortes anerkennen würden, weiter als Universität zu bestehen, und sei sie auch eine „autonome Volksuniversität“ — etwas also, das wir auf jeden Fall verachten und dessen scheinbare Billigung in einem solchen Augenblick um so schlimmer war. Ein weniger wichtiger Flüchtigkeitsfehler wurde am 17. Mai begangen, als ein von Arbeitern an der Basis der Renault-Werke verfasstes Flugblatt mit der Unterschrift des „Besetzungskomitee“ verbreitet wurde. Zwar hatte das Besetzungskomitee gut daran getan, diesen Arbeitern ohne jede Zensur Ausdrucksmittel zur Verfügung zu stellen, es musste aber präzisiert werden, dass dieser Text von ihnen verfasst und vom Besetzungskomitee nur herausgebracht worden war. Das um so mehr, als diese Arbeiter, die dazu aufforderten, den „Marsch auf die Renault-Werke“ fortzusetzen, zu dieser Zeit immer noch das mystifizierende Argument der Gewerkschaften akzeptierten über die Notwendigkeit, die Fabriktore geschlossen zu halten, damit die Polizei deren Öffnung nicht zum vorteilhaften Vorwand nähme, um anzugreifen.

Der CMDO hat es seinerseits vergessen, bei jeder seiner Veröffentlichungen zu erwähnen, dass sie „von streikenden Arbeitern gedruckt“ worden waren, was gewiss als beispielhaft gewirkt hätte, in vollkommener Übereinstimmung mit den darin angedeuteten Theorien und eine ausgezeichnete Antwort auf den üblichen Gewerkschaftsstempel der Pressedruckereien gewesen wäre. Ein noch ernstlicherer Irrtum: während wir das Telefon hervorragend benutzt haben, haben wir die Möglichkeit einer Anwendung der Fernschreiber vollkommen vernachlässigt, die es doch ermöglicht hätten, zahlreiche im ganzen Land besetzte Fabriken und Gebäude zu erreichen und Informationen in ganz Europa zu versenden. Seltsamerweise haben wir das brauchbare Netz der Sternwarten vernachlässigt, das uns wenigstens von der in Meudon besetzten Sternwarte aus zugänglich war. Wenn es darüberhinaus darauf ankommt, ein Urteil über das Wesentliche zu fällen, und wir alle verschiedenen Handlungen der S.I. zusammengenommen betrachten, sehen wir nicht, weshalb sie Tadel verdient hätten.

Führen wir jetzt die hauptsächlichen Resultate an, die durch die Bewegung der Besetzungen bisher erzielt wurden. In Frankreich ist sie zwar besiegt, aber keineswegs niedergeworfen worden. Das ist zweifellos der bemerkenswerteste Punkt, der für die Praxis am interessantesten ist. Anscheinend war bisher nie eine so schwerwiegende soziale Krise zuende gegangen, ohne dass die Repression ihr folgt und mehr oder weniger dauerhaft die revolutionäre Strömung schwächt — sozusagen eine Art Gegenschlag, auf den diese sich als auf den Preis für das historische Experiment, die sie zutage gebracht hat, gefasst machen muss. Bekanntlich wurden keine eigentlich politischen Unterdrückungsmaßnahmen aufrechterhalten, obwohl natürlich einige hundert Aufständische — außer den vielen auf dem Verwaltungsweg ausgewiesenen Ausländern — in den folgenden Monaten wegen sogenannter „gemeinrechtlicher“ Delikte verurteilt wurden (obwohl mehr als ein Drittel der CMDO-Mitglieder bei den verschiedenen Zusammenstößen festgenommen worden war, fiel keines in diese Kategorie, nachdem der Rückzug des CMDO Ende Juni sehr gut durchgeführt worden war). Alle politischen Verantwortlichen, die am Ende der Krise der Festnahme nicht entgehen konnten, sind nach einigen Wochen Haft wieder auf freien Fuß gesetzt worden und keiner wurde vor Gericht gebracht. Die Regierung musste sich zu diesem neuen Rückzug entscheiden und zwar nur, um einen scheinbar ruhigen Universitätsbeginn und Scheinprüfungen im Herbst 1968 durchzuführen; der Druck, der allein vom Aktionskomitee der Medizinstudenten ausgeübt wurde, genügte, um dieses wichtige Zugeständnis schon Ende August zu erkämpfen.

Durch ihren Umfang hat die revolutionäre Krise das ernstlich aus dem Gleichgewicht gebracht, „was frontal angegriffen wurde ... und zwar die gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft“ (Viénet). Sicherlich nicht wegen der ganz und gar erträglichen allgemeinen Lohnerhöhung und nicht einmal wegen der vollständigen Stillegung der Produktion während mehrerer Wochen, sondern vor allem deshalb, weil die französische Bourgeoisie ihr Vertrauen zur Stabilität des Landes verloren hat. Daraus — zusammen mit den anderen Aspekten der aktuellen Währungskrise des internationalen Tauschhandels — folgte eine massive Kapitalflucht und die schon im November entstandene Krise des Franc (die Devisenvorräte sind von 30 Milliarden Franc im Mai 1968 auf 18 Milliarden ein Jahr später gesunken). Nach der verschobenen Abwertung am 8. August 1969 begann Le Monde am folgenden Tag wahrzunehmen, dass „wie der General so auch der Franc im Mai ‚gestorben‘ war“.

Das „gaullistische“ Regime stellte eine wirklich geringfügige Einzelheit innerhalb dieser allgemeinen Infragestellung des modernen Kapitalismus dar. Auch der Macht de Gaulles ist jedoch im Mai der Todesstoß versetzt worden. Trotz seines Wiederaufkommens im Juni — das, wie wir schon sagten, objektiv leicht war, da der wirkliche Kampf anderswo verloren worden war — konnte de Gaulle als der Verantwortliche für den Staat, der die Bewegung der Besetzungen überlebt hatte, unmöglich den Fleck entfernen, verantwortlich für den Staat gewesen zu sein, der den Skandal ihrer Existenz hatte erdulden müssen. De Gaulle, der nur durch seinen persönlichen Stil das gesamte Geschehen deckte, wobei diese Entwicklung nichts anderes als die normale Modernisierung der kapitalistischen Gesellschaft war, hatte durch Prestige herrschen wollen. Im Mai war sein Prestige aber endgültig gedemütigt worden, was sowohl subjektiv von ihm selbst empfunden als auch objektiv von der herrschenden Klasse und von den Wählern, die endlos für sie stimmten, festgestellt wurde.

Die französische Bourgeoisie sucht nach einer rationelleren, weniger launenhaften und träumerischen Form der politischen Macht, die sie auch auf klügere Art vor den neuen Drohungen schützen kann, deren plötzliches Auftauchen sie bestürzt festgestellt hat. De Gaulle wollte den nachhaltigen Alptraum, „die letzten Mai-Gespenster“ vertilgen, indem er am 27. April das am 24. Mai angekündigte Referendum gewinnt, das in derselben Nacht durch den Aufstand rückgängig gemacht worden war. Die „feste Macht“, die damals gestolpert ist, spürte wohl, dass sie ihr Gleichgewicht nicht wiedergefunden hatte, und sie bestand unvorsichtigerweise darauf, durch den Ritus einer erneuten künstlichen Zustimmung schnell beruhigt zu werden. Die Parolen der Demonstranten vom 13. Mai 1968 sind bestätigt worden: De Gaulle hat seinen 11. Jahrestag nicht erreicht — sicherlich nicht dank der bürokratischen bzw. pseudo-reformistischen Opposition, sondern weil man am folgenden Tag sehen konnte, wie die Rue Gay-Lussac unmittelbar zu allen Fabriken Frankreichs führte.

Occupation du rectorat de la Sorbonne
« O prodige! Combien de belles créatures vois-je ici assemblées! Que l’humanité est admirable! O splendide nouveau monde qui compte de pareils habitants! »
Shakespeare, La Tempête.

Eine generalisierte Unruhe, die alle Einrichtungen an der Wurzel infragestellt, herrscht in den meisten Fakultäten und vor allem in den Gymnasien vor. Konnte der Staat, indem er sich auf das Dringendste beschränkte, das Unterrichtsniveau in den wissenschaftlichen Lehrfächern und in den Spezialhochschulen ungefähr retten, so wurde dagegen das Schuljahr 1968-1969 gänzlich verloren und die Diplome sind praktisch entwertet, obwohl die Mehrheit der Studenten immer noch weit davon entfernt ist, sie zu verachten. Auf die Dauer lässt sich eine solche Situation mit der normalen Entwicklung eines hochindustrialisierten Landes nicht vereinbaren und sie leitet den Abfall in die Unterentwicklung ein, indem sie einen „Engpass“ im Gymnasialunterricht schafft. Wenn auch die extremistische Strömung praktisch nur eine enge Basis unter den Studenten hat, sieht es doch so aus, als ob sie kräftig genug ist, um einen ständigen Verfallsprozess aufrechtzuerhalten. Ende Januar z.B. haben die Besetzung und Plünderung des Sorbonne-Rektorats, sowie zahlreiche andere ernstliche Vorfälle seit dieser Zeit gezeigt, dass die bloße Aufrechterhaltung eines Pseudounterrichts die Kräfte der Aufrechterhaltung der Ordnung beträchtlich beunruhigt.

Durch die sporadische Agitation in den Fabriken, deren Arbeiter den wilden Streik kennengelernt haben und in denen mehr oder weniger bewusst den Gewerkschaften feindlich gesinnte radikale Gruppen Wurzeln gefasst haben, entstehen trotz der Bemühungen der Bürokraten zahlreiche Streiks, die leicht immer konzentriertere Betriebe lahmlegen, die wegen der verschiedenen Arbeitsverfahren immer mehr voneinander abhängig sind. Durch diese Erschütterungen wird jeder daran erinnert, dass der Boden in den Betrieben immer noch locker ist und dass die modernen Ausbeutungsformen im Mai zugleich die Gesamtheit ihrer vereinigten Mittel und ihre neue Gebrechlichkeit erkennen lassen haben.

Nachdem der alte orthodoxe Stalinismus angefressen war (was sogar aus dem Stimmenverlust der CGT bei den letzten Berufswahlen herauszulesen ist), erschöpfen sich jetzt die kleinen gauchistischen Parteien durch unglückliche Manöver: fast alle hätten gern mit dem Mai-Prozess wieder mechanisch angefangen, um ihre damaligen Fehler noch einmal zu begehen. Sie haben leicht die übriggebliebenen Aktionskomitees unterwandert und die Aktionskomitees sind zwangsläufig verschwunden. Die kleinen gauchistischen Parteien selbst spalten sich in zahlreiche feindliche Nuancen, wobei jede starr an einer Dummheit festhält, die ruhmreich alle die ihrer Rivalen ausschließt. Zweifellos sind die seit Mai zahlreich gewordenen radikalen Elemente immer noch vereinzelt, vor allem in den Fabriken. Die Kohärenz, zu der sie gelangen müssen, wird immer noch entweder durch ehemalige Illusionen, Geschwätz oder sogar manchmal durch eine ungesunde, einseitige „pro-situationistische“ Bewunderung verdorben, da sie es nicht verstanden haben, eine echte autonome Praxis zu organisieren. Für sie ist der einzige Weg, der offensichtlich ein schwieriger und langer ist, die Bildung von Räte-Organisationen revolutionärer Arbeiter, die sich auf der einzigen Grundlage der totalen Demokratie und der totalen Kritik zusammenzuschließen. Ihre erste theoretische Aufgabe besteht darin, die letzte Form der Ideologie zu bekämpfen und zu widerlegen, die die alte Welt ihnen entgegensetzen wird: und zwar die Räte-Ideologie, von der z.B. eine erste große Form am Ende der Mai-Krise von der in Toulouse tätigen Gruppe „Révolution Internationale“ ausgedrückt wurde. Diese schlug ganz einfach vor — man weiß übrigens nicht wem — Arbeiterräte zu wählen, die über den Vollversammlungen stehen, denen somit nicht anderes übrigbleiben würde, als die Taten dieser weisen revolutionären Neo-Führung zu billigen. Dieses leninistisch-jugoslawische Ungeheuer, das seither von der „Trotzkistischen Organisation“ von Lambert wiederaufgenommen wurde, mutet heutzutage fast genauso seltsam an wie der Gebrauch des Ausdrucks „direkte Demokratie“ durch die Gaullisten, als sie für den „Dialog“ des Referendums schwärmten. Als einzige Räte wird die nächste Revolution nur die souveränen Vollversammlungen an der Basis, in den Betrieben und den Vierteln anerkennen, sowie ihre Delegierten, die zu jeder Zeit absetzbar sein und nur von ihnen abhängen werden. Eine Räteorganisation wird niemals ein anderes Ziel verfolgen: sie muss die handelnde Ausdrucksform einer Dialektik sein, die über die erstarrten und einseitigen Formen des Spontaneismus und der offen bzw. heimlich bürokratisierten Organisation hinausgeht. Sie muss eine Organisation sein, die auf revolutionäre Weise auf die Räterevolution hinzielt — eine Organisation, die nach der Eröffnung des Kampfes weder auseinandergeht noch zur Institution wird.

Peinture modifiée en janvier 1969
« Comment allons-nous mettre en faillite la culture dominante? De deux façons, graduellement d‘abord et puis brusquement. »
Internationale Situationniste 8 (janvier 1963).

« De nombreux passants, parmi lesquels des ouvrières d’un chantier voisin, s’appliquent à copier des citations affichées sur les murs de la faculté, située au bord de la Vltava (…) « Quelle époque terrible que celle où des idiots dirigent des aveugles » (Shakespeare) ».
Le Monde (20-11-68).

« Ces inscriptions, vous les avez tous lues : nées au début de ianvier 1969, elles ont disparu après le premier tour des élections présidentielles. Leur existence a été éphémère, mais elles ont suscité tant de commentaires que les responsables de la publicité dans le métro, pour éviter toute « nouvelle vague », viennent d’apposer dans chaque station une affiche où l‘on rappelle aux auteurs de graffiti « qu’ils encourent une amende de 400 à 1 000 francs, assortie d’une peine de deux jours à un mois » ... Un spécialiste de la publicité résumait l’action des auteurs de graffiti par la formule : « Ils ont combattu la publicité sur son propre terrain avec ses propres armes » ... Responsables : un petit groupe d’étudiants révolutionnaires. Mi-lettristes, mi-situationnistes ... ».
France-Soir (6-8-69).

Diese Perspektive bleibt nicht auf Frankreich beschränkt, sondern sie ist international. Sie stellt den totalen Sinn der Bewegung der Besetzungen dar, der überall verstanden werden muss, wie ihr Beispiel im Jahre 1968 ernstliche Unruhen in Europa, Amerika und Japan entfacht bzw. zu einer höheren Stufe gebracht hat. Unter den unmittelbaren Maifolgen waren die bemerkenswertesten die blutige Revolte der mexikanischen Studenten, die in relativer Isolierung niedergeworfen werden konnte, und die Bewegung der jugoslawischen Studenten gegen die Bürokratie und für die proletarische Selbstverwaltung, die die Arbeiter teilweise mitriss und Titos Regime stark gefährdete. Dort aber kam die russische Intervention in die Tschechoslowakei dem Regime mehr zu Hilfe als die von der herrschenden Klasse laut verkündeten Zugeständnisse: sie ermöglichten es ihm, das ganze Land zusammenzubringen, indem es die eventuelle Invasion einer fremden Bürokratie befürchten ließ. Die Polizei in verschiedenen Ländern beginnt, die Hand der neuen Internationale zu denunzieren, und sie glaubt die Weisungen französischer Revolutionäre sowohl in Mexiko im Sommer 1968 als auch in Prag während der anti-russischen Demonstration vom 28. März 1969 zu entdecken, während die Regierung Francos seine Zuflucht zum Ausnahmezustand am Anfang dieses Jahres ausdrücklich dadurch rechtfertigte, dass die Unruhen in den Universitäten sich womöglich zu einer Krise französischen Typs entwickeln könnten. Seit langem erlebte England wilde Streiks und eines der Hauptziele der Labourregierung war selbstverständlich ihr Verbot; es steht aber außer Zweifel, dass Wilson durch das erste Experiment eines allgemeinen wilden Streiks dahin gebracht wurde, schnell und verbissen noch dieses Jahr eine Gesetzgebung zur Unterdrückung dieser Art Streiks zu erkämpfen. Dieser Karrieremacher hat jedoch nicht gezögert, mit dem „Castle-Projekt“ seine Karriere und die Einheit selbst der politisch-gewerkschaftlichen Labour-Bürokratie zu riskieren, da die Gewerkschaften, obwohl sie unmittelbare Feinde des wilden Streiks sind, doch Angst davor haben, ihre ganze Bedeutung einzubüßen, indem sie jede Kontrolle über die Arbeiter verlieren, sobald sie dem Staat das Recht darauf überlassen, ohne ihre Vermittlung gegen die wirklichen Formen des Klassenkampfes einzugreifen. Und am 1. Mai sollte der antigewerkschaftliche Streik von 100.000 Setzern, Hafen- und Metallarbeitern gegen das sie bedrohende Gesetz zum ersten Mal seit 1926 einen politischen Streik in England zeigen — wie billig tauchte diese Form des Kampfes unter einer Labour-Regierung wieder auf.

Wilson kam in Verruf, als er auf sein wertestes Projekt verzichten musste und der gewerkschaftlichen Polizei die Sorge dafür wiedergab, selbst die wilden Streiks zu unterdrücken, die von nun an 95% aller Streiks in England ausmachen. Im August hat der wilde Streik, der nach acht Wochen von den Gießern der Port-Talbot Stahlwerke gewonnen wurde, „bewiesen, dass die TUC-Führung für diese Rolle doch nicht ausgerüstet ist“ (Le Monde vom 30.8.69).

Wir erkennen recht gut den neuen Ton, in dem ab jetzt auf der ganzen Welt eine radikale Kritik der alten Gesellschaft den Krieg erklärt — von der extremistischen mexikanischen Gruppe ‘Caos’, die im Sommer 1968 zur Sabotage der Olympischen Spiele und der ’spektakulären Konsumgesellschaft’ aufforderte bis zu den Parolen auf den Mauern Englands und Italiens; von dem Schrei bei einer Demonstration in der Wall Street — laut AFP vom 12.April — : „Stop the Show!“ in dieser amerikanischen Gesellschaft, auf deren „Niedergang und Fall“ wir 1965 hinwiesen und deren Verantwortliche jetzt selbst zugestehen müssen, sie sei eine „kranke Gesellschaft“, bis hin zu den Veröffentlichungen bzw. Handlungen der Acratas in Madrid.

Inscription sur les fresques de Gênes (1969)

In Italien konnte die S.I. schon Ende 1967 — zur Zeit also, als die Besetzung der Universität von Turin eine breite Bewegung initiierte — gewissermaßen der revolutionären Strömung Hilfe leisten, sowohl mit einigen schlechten aber schnell vergriffenen Basistexten (bei Feltrinelli und De Donato), als auch durch die radikale Aktion einiger Individuen, auch wenn die aktuelle italienische S.I.-Sektion formell erst im Januar 1969 gebildet wurde. Die langsame Entwicklung seit 22 Monaten der italienischen Krise — das, was „der kriechende Mai“ genannt wurde — war zunächst 1968 in der Bildung einer „Studentenbewegung“ versumpft, die noch viel rückständiger als die französische und noch dazu isoliert war — mit der einzigen, beispielhaften Ausnahme der Besetzung des Rathauses in Orgosolo in Sardinien durch die vereinigten Studenten, Hirten und Arbeiter. Die Arbeiterkämpfe selbst setzten aber langsam an, und sie wurden 1969 stärker trotz der Bemühungen der stalinistischen Partei und der Gewerkschaften, die sich damit erschöpften, diese Drohung zu zerstückeln, indem sie eintägige Streiks je Arbeiterkategorie auf nationaler Ebene bzw. eintägige Generalstreiks je Provinz bewilligten. Anfang April brachte der Aufstand in Battipaglia, dem die Meutereien in den Gefängnissen von Turin, Mailand und Genua folgten, die Krise auf eine höhere Ebene, und er beschränkte den Spielraum für die Manöver der Bürokratie noch mehr. Nachdem die Polizei in Battipaglia geschossen hatte, sind die Arbeiter mehr als 24 Stunden lang Herren der Stadt geblieben, sie haben von Waffen Besitz ergriffen, die in ihre Kasernen geflüchteten Polizisten belagert und zur Übergabe aufgefordert und Straßen und Eisenbahnlinien gesperrt. Als die massiv zur Verstärkung angekommenen Carabineri die Stadt und die Verkehrslinien wieder unter Kontrolle hatten, war der entworfene Rat in Battipaglia immer noch vorhanden und er behauptete, den Gemeinderat zu ersetzen und die direkte Macht der Einwohner über ihre eigenen Angelegenheiten auszuüben. Wenn die von den Bürokraten geleiteten Demonstrationen zur Unterstützung in ganz Italien ohne Wirkung blieben, so ist es zumindest den revolutionären Elementen in Mailand gelungen, diese Bürokraten gewaltsam anzugreifen und die Stadtmitte zu verwüsten, wobei es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei kam. Bei dieser Gelegenheit haben die italienischen Situationisten auf passendste Weise die französischen Methoden übernommen.

In den darauffolgenden Monaten haben die „wilden“ Bewegungen in den Fiat-Werken und unter den Arbeitern Norditaliens noch mehr als die vollendete Auflösung der Regierung gezeigt, wie nahe Italien einer modernen revolutionären Krise steht. Die Art und Weise, wie im August die wilden Streiks in den Pirelli-Werken in Mailand und in den Fiat-Werken in Turin verlaufen sind, deutet auf einen kurz bevorstehenden, totalen Zusammenstoß hin.

La Zengakuren en 1968

Man wird leicht verstehen, aus welchen Gründen wir vor allem bisher hier das Problem der allgemeinen Bedeutung der neuen revolutionären Bewegungen und das ihrer Beziehungen zu S.I.-Thesen zusammen behandelt haben. Früher bedauerten diejenigen, die bereit waren, einige Punkte unserer Theorie als interessant anzuerkennen, dass wir selbst deren gesamte Wahrheit von der Rückkehr der sozialen Revolution abhängig machten, und sie hielten diese letzte „Hypothese“ für unglaubwürdig. Dagegen stellten einige Aktivisten, die zwar auf Leerlauf gestellt waren, sich aber dessen rühmten, für jede aktuelle Theorie unempfindlich zu sein, folgende schwachsinnige Frage über die S.I.: „Was hat sie für eine Praxis?“ Da sie unfähig waren, den dialektischen Prozess der Begegnung zwischen der wirklichen Bewegung und „ihrer eigenen unbekannten Theorie“ überhaupt zu verstehen, wollten alle das vernachlässigen, was sie für eine Kritik ohne Waffen hielten. Jetzt bewaffnet sie sich. Den „Anfang der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt“ haben wir in diesem französischen Mai erlebt, als die rote und die schwarze Fahne der Arbeiterdemokratie verbunden waren. Die Fortsetzung wird kommen. Wenn wir gewissermaßen der Rückkehr dieser Bewegung unseren Namen aufgeprägt haben, so nicht deshalb, weil wir irgendein Moment davon bewahren oder uns dadurch irgendeine Autorität verschaffen wollten. Von jetzt an sind wir sicher, dass unsere Aktivität zu einem zufriedenstellenden Ende führt: die S.I. wird aufgehoben werden.

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