Streifzüge, Heft 2/1997
Juni
1997

Der Kapitalismus und du

Fragmente einer Kritik des bürgerlichen Alltags

Der Alltag hat in den letzten Jahrzehnten zweifellos eine steile Karriere gemacht. Nachdem das Alltägliche in der Wissenschaft vorher kaum Beachtung gefunden hat, stand das profane Leben plötzlich im Mittelpunkt gelehrter Aufmerksamkeit. Der neue Forschungsgegenstand wurde aber weniger kritisch rezipiert als süchtig aufgenommen. Es triumphierte die deskriptive Gier der Anhäufung. Jeder Furz war würdig der Aufarbeitung. Jede G’schicht konnte da Geschichte werden. Ganze Stoßtrupps von Historikern und Soziologen fielen über die „Normalsterblichen“ her und heuchelten Interesse.

Im Mikrokosmos der Kleinigkeiten erstickte das gesammelte Material die Totalität, gingen Erkenntnis oder gar Theorie im Gatsch der Empirie unter. Weniger von Interesse war da schon séine Formbestimmtheit, am allerwenigsten interessierte die Kritik des Alltags. Im folgenden Beitrag geht es darum, von dieser Unart der modischen Stilisierung Abstand zu gewinnen, kurzum den Alltag zum Objekt der Gesellschaftskritik, nicht nur des Allgemeinwissens, zu machen.

1. Alltägliche Erschöpfungen

Der Alltag als der erscheinende Rest der das Wesentliche sinnlich überdimensionierenden objektiven Tatsächlichkeiten und subjektiven Vollzugspflichten ist die träge Aufdringlichkeit schlechthin. In seiner penetranten Art des Daseins läßt er kein Entfliehen zu. Jedem Entzug folgt die Heimholung. Alltag nennt sich die Pflichterfüllung der eigenen Existenz. Er zwingt uns zu konstruktivem Verhalten in einem destruktiven Gesamtzusammenhang. Unser Widerstand ist lächerlich gegen das, was wir durch unser tägliches Walten und Werken dazu beitragen. So gesehen ist der Begriff des Verhaltens überhaupt eine schamlose Übertreibung, setzt er doch voraus, daß dieses aus Überlegung und Entscheidung, also in Selbstbestimmung möglich ist. Das stimmt nur äußerst bedingt, bloß innerhalb der herrschenden Bezüglichkeitssysteme, nicht gegen sie.

„Es ist ein Wesenszug der Pragmatik des Alltagsdenkens, daß die Denktätigkeit nichts anderes als die gedankliche Vorbereitung dringlicher alltäglicher Handlungen bzw. die Reflexion bereits erfolgter Handlungen ist“, [1] schreibt Agnes Heller in ihrem Buch „Das Alltagsleben“ (1970). Die Frage nach dem Warum bleibt zumeist ungestellt. Wichtig ist nicht das „Wissen, was warum ist“, sondern das „Wissen, wie etwas geht“. Es ist nicht leicht, einen wirklich reflektierten Bezug zu seinem Alltag zu entwickeln. Im täglichen Müssen, der Praktizierung des Daseins, ist das überhaupt unmöglich. Im Alltag verhält man sich opportunistisch, seine Vernunft ist jene der Gelegenheit. Es geht immer um die unmittelbare Adäquanz. Das Verhältnis ist affirmativ, nicht kritisch. Das Gedachte verläßt selten das Niveau der Erfahrung. Die individuelle Erhaltung zeitigt die individuelle Haltung.

Der Alltag ist stets eine unmittelbare Aufforderung, keine mittelbare Herausforderung. Er duldet keinen Widerstand. Mit ihm ist kein Hinauskommen möglich, sein Ziel ist nichts anderes als die Reproduktion. Der alltägliche Gebrauch führt zu den Gebräuchen des Alltags. Das Praktizierte erscheint nicht als historisch bestimmt, sondern als krude Daseinsweise. Das ihr Spezifische geht in dieser Allgemeinheit völlig unter, kann in seiner Besonderheit gar nicht mehr wahrgenommen werden. Die tägliche Erschöpfung ist wahrlich der Zustand, der uns um den Verstand bringt. Der Mensch, das ist ein Alltagsautomat, der seinen Geschicken als Diener folgt. Nicht umgekehrt!

An nichts ist man so gewöhnt wie an das Gewöhnliche. „Das Morgige, dessen das alltägliche Besorgen gewärtig bleibt, ist das ‚ewig Gestrige‘“, [2] sagt Heidegger. So wie es ist, ist es gewesen, so wird es werden und vor allem: so soll es ja auch bleiben! Alltag meint die Ziellosigkeit des Gewöhnlichen. Die notwendige, immer wiederkehrende Einlösung ein- und derselben Abläufe. Für das einzelne Individuum ist er die zweite Natur in ihrer puren Form.

2. In den Niederungen der Erfahrung

Die Welt des Alltags ist eine der Erfahrung. Detto dessen Denken. Dieses Denken, das in den Erfahrungen des Alltags hängen bleibt, sich in seinen Maschen verfängt, nennt man positivistisch. Es zeichnet sich dadurch aus, daß es sich naiv und unmittelbar zu den kapitalistisch konstituierten Vorgaben und Begriffen verhält, sie unkritisch als gegeben hinnimmt.

Dieser Alltagsverstand bewegt sich auf der Oberfläche der Alltagserfahrung, auf der Ebene des ‚Tatsachen‘scheins, der das Wesen und das Wesentliche verschleiert, für den Alltagsmenschen unkenntlich und unverständlich macht: Sowohl für diese Alltagshaltung wie für deren theoretische Reflexion trifft der — auf eine nicht zu leugnende, oft subtile Weise — von den theoretischen Akteuren selbst gewählte Begriff des ‚Positivismus‘ zu. Der Alltagsmensch, erst recht der in das empiristische Räderwerk eingespannte Arbeiter, ist notwendiger- und gezwungenermaßen Positivist. Das Durchschauen des Alltagsscheins ist ihm fremd, es würde das Bestehende transzendieren und dem Menschen die Fähigkeit rauben, sich anzupassen, mitzumachen, zu funktionieren, wie es ihm die ihm angetane Funktion in einem System der Selbstreproduktion der repressiven Ordnung abverlangt. Ein auf Totalitätsdenken beruhendes Durchschauen der Verhältnisse würde die für das Funktionieren unerläßliche Bedingung der Identifikation mit wesentlichen Einrichtungen der bestehenden Ordriung unmöglich machen. Identifikation in irgendeiner Form ist in jeder Gesellschaft unvermeidlich und notwendig (...). [3]

Erfahrung ist bloß ein passives Hinnehmen, ein In-Sich-Aufnehmen des Geschehens, ja noch mehr: ein Darin-Aufgehen. Es ist übrigens kein Zufall, daß die abgekürzte Form des Darin-Aufgehens nur das Draufgehen sein kann. Erfahrung verläßt die Form des Passivs niemals als Negation, sondern bloß als sich ständig wiederholende Positionierung des Vorgefundenen. „Die Tätigkeitsformen des Alltagslebens haben die größte Affinität zur Passivität“, [4] schreibt Agnes Heller. Robert Musil faßte genau das unter der Formel des „aktiven Passivismus, dessen man unter Umständen fähig sein muß!“ [5]

Es ist ein Kennzeichen der Erfahrung, daß sie über das Herkömmliche nicht hinauskann und hinauswill. Das gilt paradoxerweise sogar dann, wenn die Handlungen schon selbst einen anderen Charakter angenommen haben. Erfahrung ist Beschränkung des menschlichen Geistes auf das, was sich ihm täglich aufzwingt. Ihr Denken ist ein Registrieren und Speichern. Ihr Verarbeiten dient der Pflichterfüllung. Erfahrung stellt ab auf Realität. Doch Realität ist immer bloß der metaphysische Entwurf der Wirklichkeit. Etwas Abgeschnittenes, Losgelösten, Getrenntes. Jene soll akzeptiert werden in ihrem kruden Dasein, nicht als bestimmte oder bestimmbare Möglichkeit, sondern will als eherne Notwendigkeit aufgefaßt sein.

Erfahrung zeitigt konservatives, weil konservierendes Wissen und Bewußtsein. Dieser Konservativismus hat meist einen einfachen Grund: Die Menschen wissen, was ist, sie wissen aber nicht, was kommt. Solange es ertäglich und unausweichlich erscheint, wird Bekanntes Unbekanntem vorgezogen. „Das Bestehende, mag es sein, wie es will, wird bis zu einem gewissen Grad als natürlich empfunden und nicht gern angetastet“, [6] schreibt der große österreichische Romancier Robert Musil. Oder Friedrich Engels: „Die Tradition ist die große hemmende Kraft, sie ist die Trägheitskraft der Geschichte.“ [7] Neues kann jedenfalls kaum aus der Erfahrung heraus gedacht werden, die scheinbare Leichtigkeit ihres Zurechtfindens im Alltag schlägt um in Ignorantentum und Dummheit, begibt sie sich auf fremdes Terrain. Der Alltag ist konterrevolutionär. Er schneidet die Möglichkeiten der Menschen ab, indem sie in einem neurotischen Wiederholungseifer das Verwirklichte stets zu verwirklichen sucht. Alltag, das ist der Trott, der die menschliche Regression als Potenz birgt.

Die Aufhebung der Erfahrung ist daher eine Bedingung der Emanzipation. Denken ist mehr als Registrieren. Es ist mehr als ein Aufnehmen, es ist ein Erkennen, somit Denken über das Denken, kurzum: Reflektiertes Reflektiertes. Ein Deuten, und das „heißt primär: an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden.“ [8] Man kann mehr erkennen als man erfahren kann. Erkennen ist ohne die aktive Zubereitung, ohne ein Losgehen auf das Objekt unmöglich. Der Gegenstand wird im Prozeß der Erkenntnis bearbeitet. Das Aufgenommene wird nicht bloß hingenommen, begreifen meint immer auch hingreifen und eingreifen. Der Mensch ist im Erkennen Handelnder, nicht bloß Betroffener.

3. Die Erkrankungen des gesunden Menschenverstands

„Dich auf Beistimmung der allgemeinen Menschenvernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht“, [9] schrieb Immanuel Kant in seinen „Prolegomena“. Dies sollte auch uns als Leitlinie dienen.

Der gesunde Menschenverstand kann durchaus als eine einzelfallgebundene Gelegenheitsvernunft beschrieben werden, als eine prinzipielle Ausnutzung der Besonderheit einer Situation oder eines Falles. Was nützt’s?, ist seine Frage. Aber diese wird nicht allgemein gestellt, sondern nur spezifisch, kennt nur einen Ort und eine Zeit: hic et nunc! Wenn also jemand daherkommt und meint, das sage doch der gesunde Menschenverstand, sollten eigentlich die Alarmglocken läuten.

Dem gesunden Menschenverstand liegt die unzulässige Verallgemeinerung der Erfahrung zugrunde. Er baut auf Wahr-Scheinlichkeit und Nachahmung auf, er ist nicht kreativ, sondern reaktiv. Wie die Logik des Kapitals ist auch der gesunde Menschenverstand als ideologischer Modus des Alltags blind. Wenn auch zielsicher blind. Diese Blindheit versteckt sich nämlich hinter der tatsächlichen und meist beeindruckenden Bewältigung des Alltags, woraus dann ja auch gleich voreilig auf seine Gesundheit geschlossen wird. In ihrer anmaßenden wie verrückten Dogmatik unterstellt die Formel, daß alles von ihm abweichende Denken krankhaft sei. Denken als reflektiertes Reflektiertes wird somit überhaupt als ideologisch diskreditiert.

Umgekehrt! Es war die Leistung der abendländischen Aufklärung, ihrer positiven Dialektik, die Kritik des gesunden Menschenverstands ins Zentrum gerückt zu haben. Gottfried Wilhelm Leibniz notierte in These 28 seiner „Monadologie“: „Die Menschen handeln wie die unvernünftigen Tiere, insoweit die Verkettungen ihrer Rezeptionen lediglich nach dem Prinzip des Gedächtnisses erfolgen. So ähnlich ist es bei den empirischen Ärzten, die einfach Praxis haben, aber keineTheorie; wir alle sind bei drei Vierteln unsererTätigkeiten nur Empiriker. [10]

Johann Gottlieb Fichte setzte den gesunden Menschenverstand überhaupt mit dem Nichtdenken gleich, ja denunzierte ihn seinerseits als „unheilbare Krankheit“. In seinem Werk „Der geschloßne Handelsstaat“ schreibt er: „Der Nichtdenker, der doch gesunde Sinne und Gedächtnis hat, faßt den vor seinen Augen liegenden wirklichen Zustand der Dinge auf, und merkt sich ihn. Er bedarf nichts weiter, da er ja nur in der wirklichen Welt zu leben, und seine Geschäfte zu treiben hat, und zu einem Nachdenken gleichsam auf Vorrat, und dessen er nicht unmittelbar zur Stelle bedürfte, sich gar nicht gereizt fühlt. Er geht mit seinen Gedanken über diesen wirklichen Zustand nie hinaus, und erdenkt nie einen andern; aber durch diese Gewohnheit nur diesen zu denken, entsteht ihm allmählich, und ohne daß er sich dessen eigentlich bewußt wird, die Voraussetzung, daß nur dieser sei, und nur dieser sein könne. Die Begriffe und Sitten seines Volkes und seines Zeitalters scheinen ihm die einzig möglichen Begriffe und Sitten aller Völker und aller Zeitalter. Dieser verwundert sich gewiß nicht, daß alles nun gerade so sei, wie es ist, weil es nach ihm gar nicht anders sein kann; er erhebt gewiß nicht die Frage, wie es so geworden, da es nach ihm ja von Anbeginn so gewesen. Nötigt sich ihm ja eine Beschreibung anderer Völker, und anderer Zeitalter auf, oder wohl gar ein philosophischer Entwurf, wie es nirgends gewesen, aber allenthalben hätte sein sollen, so trägt er immer die Bilder seiner Welt, von denen er sich nicht losreißen kann, hinein, sieht alles durch sie hindurch, und faßt nie den ganzen Sinn dessen, was ihm vorgetragen wird. Seine unheilbare Krankheit ist die, das Zufällige für notwendig zu halten.“ [11]

Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist der gesunde Menschenverstand schlichtweg das „bewußtlose Urteilen“, [12] „etwas End- und Bodenloses, das nie dazu kommen kann zu sagen, was es meint, weil es nur meint und sein Inhalt nur Gemeintes ist.“ [13] Die Sicherheit der „sinnlichen Gewißheit“ ist nicht zuletzt Folge ihrer geistigen Beschränktheit.: „Die Kraft ihrer Wahrheit liegt also nun im Ich, in der Unmittelbarkeit meines Sehens, Hörens usf., das Verschwinden des einzelnen Jetzt und Hier, das wir meinen, wird dadurch aufgehalten,daß Ich sie festhalte.“ [14] Mit Hegel sollte uns weiters klar sein „daß in der Wissenschaft ganz andere Bestimmungen vorkommen als im gewöhnlichen Bewußtsein und im sogenannten gemeinen Menschenverstand, der nicht gerade der gesunde“ [15] ist. Auch Adorno konstatierte einen „durch seine Gesundheit erkrankte(n) Menschenverstand“. [16]

4. Die Welt der Ware

Der Kapitalismus, das ist kein Äußeres, das sind wir durch unsere gesellschaftliche Kommunikation. Seine Gesetzlichkeiten sind uns eingeherrscht, nicht von außen aufgeherrscht. Unsere Selbstbeherrschung ist nur die subjektive Seite dieser objektiven Verhältnisse.

Uns interessieren hier vor allem drei Zwangsbereiche des bürgerlichen Alltags, die da sind: Beschäftigung, Markt, Reproduktion. Es geht um:

Erstens: Geld verdienen, um leben zu können, d.h. Wertaneignung durch eigene oder fremde produktive Arbeit;

Zweitens : Austauschen — Kauf und Verkauf als fetischierte Formen des Wechsels von Gebrauchswerten;

Drittens: Unmittelbare und mittelbare Reproduktion (Essen, Schlafen, Kochen, Rasten, Pflegen, Putzen).

Um diese Anforderungen gibt es kein Herumkommen, außer der dritten sind sie nicht bloß historisch überformt, sondern eins und zwei sind geradezu gänzlich historisch bedingt, Ausdruck bestimmter Produktionsverhältnisse, die eben nicht generalisierbar sind, auch wenn das laufend geschieht, so getan wird, als seien Geld und Tausch anthropologische Konstanten der Menschheit, so als wäre das Dasein ohne sie gar nicht mehr vorstellbar, geschweige denn herstellbar. Wenn schon nicht für alle Vergangenheit gültig, so zumindest fur alle Zukunft.

Wir leben in einer Welt der Waren. Der Autor dieses Textes sitzt in seiner Warenwelt. Die Füllfeder, die Bücher, der Computer, die Regale, der Tisch, das Bett, der Fernseher, der Kuchen. Sie alle sind durch mehrere Tauschvorgänge (= Geldgeschäfte) hierhergekommen. Das Gemeinsame dieser Dinge ist ihr Warencharakter, was meint, diese Produkte haben Gebrauchswert und Tauschwert. (Analog gilt das auch für Dienstleistungen). Alles transportiert sich über Wert und Geld. Das Charakteristische ist, daß uns unsere Lebensäußerungen als Waren, eben als kauf- und verkaufbare Gegenstände und Leistungen gegenübertreten. Alles soll seinen Preis haben. Unser System produziert Waren, zirkuliert Waren, konsumiert Waren.

Der unmittelbare Produzent stellt sie nicht für sich her, ja nicht einmal primär für andere, sondern in erster Linie, um an Geld zu kommen. Daher verkauft er seine Arbeitskraft gegen dieses, um sodann den erhaltenen Lohn auf dem Markt, der Zirkulationsebene zu entäußern, die für ihn notwendigen Lebensmittel zu kaufen, um als Konsument durch deren Verzehr undVernutzung seine Arbeitskraft zu erhalten, um in der anschließenden Produktion wiederum seine Arbeitskraft verkaufen und verausgaben zu können. „Der Lohnarbeiter lebt nur vom Verkauf der Arbeitskraft. Ihre Erhaltung — seine Selbsterhaltung erfordert tägliche Konsumtion. Seine Zahlung muß also beständig in kürzeren Terminen wiederholt werden, damit er die zu seiner Selbsterhaltung nötigen Einkäufe — den Akt A-G-W (Arbeit-Geld-Ware, F.S.) oder W-G-W (Ware-Geld-Ware, F.S.) wiederholen kann.“ [17] Das Ganze nennt sich kapitalistischer Waren- und Geldkreislauf und ist im ersten Abschnitt des Zweiten Bandes des Marxschen „Kapitals“ ausführlich dargelegt. [18]

Im Kapitalismus wird also nicht unmittelbar produziert um zu konsumieren — wie Adam Smith noch behauptete —, sondern produziert, um Geld zu erhalten, um kaufen zu können, um konsumieren zu können, um sich reproduzieren zu können, und um wieder von vorne beginnen zu können. Usw., usf. Die Bedürfnisse sind nicht unmittelbar ausgerichtet, sondern mittelbar, indirekt. Unmittelbar und direkt ist nur das Interesse an der Inwertsetzung, an der Verwertung. Die materiellen (und immer mehr auch die ideellen) Verwirklichungen müssen durch die Geldmaschine. Der Mensch selbst ist nur Durchlaufreaktor des Geldes. Was er erhält, gibt er aus, sei es im Konsumieren, Sparen, Anlegen etc.

Die stofflichen Prozesse werden in der kapitalistischen Warengesellschaft durch das Geld immateriell transzendiert und verdoppelt. Geld ist die allgemeine Ware, in der sich alle besonderen Waren ausdrücken. Im Geld erlischt der Unterschied aller Gebrauchswerte, der Wert ist der Fetisch des Stoffes. Im Gegensatz etwa zu Gott, den man heute als überholte Fetischform erkennen kann oder auch nicht, ist dies beim Geld de facto nicht der Fall. Gläubige wie Ungläubige müssen nach seinem Gesetz handeln, ihm somit gehorchen, weil sie Unterworfene sind.

Fetischismus meint, daß die Menschen sich nicht direkt anerkennen, sondern eines Konstrukts bedürfen, um sinnvoll miteinander in Beziehung treten zu können, Die Akzeptanz der Menschen untereinander erfolgt so durch die ihnen objektiv aufoktroyierten und subjektiv realisierten Formen wie eben Geld, Vertrag, Politik, Staat, Recht etc. Das Du ist somit kein direktes Du, sondern eine gesellschaftliche Position: Käufer, Verkäufer, Vertragspartner, Arbeiter, Unternehmer etc. Dem Mantelverkäufer trete ich nicht als Mantelbedürfer gegenüber, sondern ausschließlich als Mantelkäufer. Ob ich einen benötige oder nicht, ist in diesem Tauschakt völlig egal, ebenso ob ich keinen oder schon zweiundzwanzig besitze. Ausschlaggebend ist, ob ich ihn bezahlen kann.

Idealtypisch ist der Tausch stets sachbezogen und unpersönlich. Aber nicht nur Verkäufer und Käufer interessieren nicht, auch der Gebrauchswert fungiert lediglich als Träger des Tauschwerts. Objektive Funktion und subjektive Intention sind im Tauschgeschäft nicht eins. Vornehmlich geht es um die Realisierung des Werts. Die Menschen treten sich als Charaktermasken ihrer Produkte und Leistungen, ihrer Dinge und Geschicklichkeiten gegenüber, auch direktere Bezüglichkeiten (etwa Liebes- und Freundschaftsverhältnisse, die zwar laufend gegen den Markt repellieren, ohne wirklich autonom sein zu können) [19] bleiben von der Warenlogik nicht unberührt.

5. Vom Geld haben müssen

Was brauche ich? oder Was will ich? kann nicht Grundlage sein, sondern: Was kann ich mir leisten? Eine Grundfrage des bürgerlichen Individuums lautet: Wie komme ich zu Geld? Jeder von uns stellt sich zwangsweise die Frage, wo es denn etwas zu holen gibt. Andauernd geht es darum, Geld aufzustellen. Da mag einer grob, ein anderer Vorsichtig, der dritte gemein, der vierte fahrlässig, der fünfte absolut gesetzestreu sein. Das Ziel ist vorgegeben und es ist für alle gleich.

Eines kann sich das Mitglied des kapitalistischen Systems nicht aussuchen: ob es Geld haben will oder nicht. Es will es haben müssen. Für eine Entscheidung ist hier kein Platz. Geld ist quasinatürlich geworden, es ist eine unhinterfragte Existenzbedingung der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Punkt können daher die Menschen — unabhängig von allen demokratischen Freiheiten — nicht frei sein. Es gibt keine Freiheit vom Geld, vom Tauschwert, vom Wert, von abstrakter Arbeit. An dieser Kette hängt das bürgerliche Individuum, ohne sie eigentlich wahrzunehmen. Sie ist ihm Fleisch und Blut geworden, Bestandteil seiner Identität.

Der Mensch ist im Kapitalismus der personifizierte Träger der Waren, egal ob er sie verkauft oder ob er sich selbst verkauft. Aus diesem übermächtigen gesellschaftlichen Gesetz gibt es kein Entfliehen. „Die Abstraktheit des Tauschwertes ist a priori mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder verbündet. (...) Durch die Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs hindurch realisiert sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Der totale Zusammenhang hat die konkrete Gestalt, daß alle dem abstrakten Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem ‚Profitmotiv‘ geleitet werden oder nicht.“ [20]

Cuius regio, eius religio. Der Glaube an das Geld hat totalen Charakter. Zumindest dort, wo es sich nachdrücklich festsetzen konnte. Der Kapitalismus desavouiert schon das einfachste „Menschenrecht“, indem er die menschenwürdige Existenz in materieller Hinsicht an Geld koppelt. Man denke etwa an die öffentliche Drangsalierung jener, die aus dem Verwertungsprözeß rausgefallen sind. Geld ist das soziale Apriori. Dort, wo das Fortkommen auf das Einkommen angewiesen ist, sollte man von Menschenwürde nur bedingt zu sprechen. Sie verbleibt, wie schon das Wort sagt, im Konjunktiv. Menschenwürde ist nur eine fragile bürgerliche Möglichkeit, nicht mehr. Notwendig ist also gerade die Aufhebung von Menschenrecht und Menschenwürde durch das Menschsein.

6. Auf dem Markt

Eines der hartnäckigsten Gerüchte ist dieses: Der Tausch ist eine eherne Konstante aller menschlichen Gesellschaften. Bereits Aristoteles bezeichnete „Verkauf und Kauf, Zinsdarlehen und Bürgschaft, Leihe, Hinterlegung und Miete“ als freiwillige vertragliche Beziehungen, „weil der Ursprung dieser wechselseitigen Beziehungen in unserer freien Entscheidung liegt.“ [21] Die Ontologisierung des Tauschs ist für Aristoteles eine Selbstverständlichkeit: „Daher muß für alle Tauschgüter ein bestimmter Preis festgesetzt sein. Denn so wird es immer Austausch geben und durch ihn Gemeinschaft. Geld ist also jenes Ding, das als Wertmesser Meßbarkeit durch ein gemeinsames Maß und somit Gleichheit schafft. Denn ohne Austausch gäbe es keine Gemeinschaft, ohne Gleichheit keinen Austausch und ohne Meßbarkeit keine Gleichheit.“ [22]

Bei schlichteren Geistern wie Milton Friedman liest sich das Einmaleins der Marktwirtschaft allen Ernstes wie folgt: „So ist der Verbraucher vor einem Druck durch den Verkäufer dadurch gesichert, daß es andere Verkäufer gibt, bei denen er kaufen kann. Ebenso ist der Verkäufer dadurch vor einem Zwang durch den Konsumenten geschützt, daß er mit anderen Konsumenten abschließen kann. Der Angestellte ist vor Nötigung seitens seines Arbeitgebers dadurch geschützt, daß er für andere Arbeitgeber arbeiten kann, und so weiter. All das wird auf dem Markt ohne eine zentrale Instanz erreicht.“ [23] Jeder oberflächliche Blick auf den Arbeits- und Wohnungsmarkt müßte diese euphorische Sichtweise eigentlich entlarven. Gerade heute.

Von der stofflichen oder materiellen Seite her betrachtet, verdeutlicht die Marktwirtschaft nichts anderes als die Trennung der Menschen von ihren Produktions- und Konsumtionsmitteln. Gesellschaftliche Erzeugnisse, ob Häuser oder Paradeiser, Stemmeisen oder Gummistiefel, werden nicht gesellschaftlich verfügt und direkt angeeignet, sondern durchlaufen die Metamorphosen des Kapitals bis sie konsumiert werden können.

Tausch meint, daß Produkte und Leistungen sich in der gesllschaftlichen Kommunikation nur als ein sich wechselseitig Bedingendes erfüllen können. Nehmen bedingt Geben bedingt Nehmen etc. Unter dem Dogma des Tauschwerts können sie nur als zwei äquivalente Seiten derselben Medaille bestehen. Produktenabgabe wie Produktenentnahme sind keine einfachen Akte, sondern gestalten sich im Zwangsverhältnis des Geschäfts. Das gilt auch analog für Dienstleistungen. Nur das Konkretum kann freiwillig sein, nicht die Form in der es sich vollzieht, nicht die Positionierung, von der aus es getätigt wird. Das Geschäft ist das Sakrament bürgerlichen Kommunikation. Seine Rechtsform ist der Vertrag. Dieser verdeutlicht wiederum nichts anderes als das konstitutive Mißtrauen der Menschen gegeneinander. Das objektive Defizit an allgemeiner Verläßlichkeit manifestiert sich darin. Dies alles und mehr zu hinterfragen, wird in der normierten Öffentlichkeit freilich als völliges Hirngespinst wahrgenommen. Solch Denken ist Halluzination.

Der Tausch als Imperativ des Kaufens und Verkaufens zwingt natürlich auch zur Konkurrenz, zum Kampf ‚Jeder gegen jeden‘,sei es am Obst- oder am Arbeitsmarkt. Es geht darum, (sich) teuer zu verkaufen und billig einzukaufen. Unter dem Druck dieser objektiven Vorgabe, die auf ihrer subjektiven Seite die Ausschöpfung aktueller Lebensstandards bedeutet, entsteht ein Klima der allgemeinen Kälte, ein Klima, das permanent Vertrauen und Solidarität untergräbt, diese zu Sonntagsbekenntnissen degradiert. (Bald werden sie auch für den Sonntag nicht mehr gelten.) Permanent denkt das bürgerliche Individuum an das Übervorteilen, auch ohne das eigentlich zu wollen. Das Konkurrenzprinzip ist auf Ausschließung, Zurückdrängung und Vernichtung des Gegenüber programmiert. „DieTatsache, daß ‚der Kampf für sich selbst‘ zugleich ‚ein Kampf gegen andere‘ ist, durchdringt den gesamten Alltag.“ [24] Homo homini lupus.

„Im Kampf ums Leben gibt es keine denkerischen Sentimentalitäten, sondern nur den Wunsch, den Gegner auf dem kürzesten und tatsächlichsten Wege umzubringen, da ist jedermann Positivist; und ebenso wenig wäre es im Geschäft eine Tugend, sich etwas vormachen zu lassen, statt aufs Feste zu gehen, wobei der Gewinn letzten Endes eine psychologische und den Umständen entspringende Überwältigung des anderen bedeutet.“ [25] Im Geschäft liegt die konzentrierte Gewalt der Verhältnisse. Der hellsichtige Musil läßt zurecht fragen: „Aber ist das Geld nicht eine ebenso sichere Methode der Behandlung menschlicher Beziehungen wie die Gewalt und erlaubt uns, auf ihre naive Anwendung zu verzichten? Es ist vergeistigte Gewalt, eine geschmeidige, hochentwickelte und schöpferische Spezialform der Gewalt. Beruht nicht das Geschäft auf List und Zwang, auf Übervorteilung und Ausnützung, nur sind diese zivilisiert, ganz in das Innere des Menschen verlegt, ja geradezu in das Aussehen seiner Freiheit gekleidet?“ [26] Wir haben Freiheiten uns in der Form des Geschäftes zu bewegen, wir haben aber auf der Ebene des gesellschaftlichen Stoffwechsels wenig Freiheit gegen die Form des Geschäfts.

Lohnkampf und Preiskampf sind obligat, immer präsent, machen die Menschen zu Klassenfeinden und Tauschgegnern. Das bürgerliche Selbstbewußtsein (inklusive des einst beschworenen proletarischen Klassenbewußtseins!) kann vor diesem Hintergrund nichts anderes sein als die immanente Selbstbehauptung in Zwangsverhältnissen. Stets geht es ums Durchsetzen. Das bürgerliche Individuum steht unter dem Zwang, sich in Wert zu setzen, (sich) zu verkaufen, um kaufen zu können. Das bedingt natürlich auch unzählige und aufdringliche Abarten der charakterlichen Maskierung, sei es Bluff oder Fassade, Mode oder Werbung. Anbieten, Anpreisen, Anmachen sind bürgerliche Formen der Selbstverstellung. Stets geht es um Täuschung im Sinne desTauschs.

Die Manipulation durch die Massenmedien darf daher gerade vor diesem Hintergrund nicht überschätzt werden, das sind Realisierungsmaschinen, nicht Schaffungsinstanzen der verkehrten Welt im Kopf. Die Kulturindustrie ist Folge, nicht Ursache. Für diese Art von Beeinflussung müssen die Menschen schon konstituiert und dimensioniert sein. Die Durchschnittsmenschen bewegen sich in diesem Kontinuum, sie brauchen nicht verleitet zu werden. Sie stehen auf der Leitung. Und nicht nur auf dieser, sondern auch auf diese. Und zur Zeit verkabeln sie sich immer mehr.

7. Freizeit oder befreite Zeit

Freizeit hat sich als Begriff analog zu dem der (geregelten) Arbeitszeit entwickelt. Ohne diese ist jene gar nicht zu denken. Freizeit ist demnach die Nichtarbeitszeit. Sie steht aber nicht außerhalb der bürgerlichen Kommunikationsformen, sondern ist ihr immanent: Jede Freizeit soll produziert, zirkuliert und konsumiert werden als ein Konglomerat von Waren und Dienstleistungen; jene ist das Gebiet der Unterhaltungsindustrie, auch wenn die Kolonisierten aufmucken und sich gelegentlich wehren, ja gerade Momente außerhalb der Verdinglichung besonders genießen. Doch das gelingt selten. Da die Bedürfnisse gesellschaftlich konstituiert sind und transformiert werden, sind Begriffe wie Freizeit oder Freiraum überhaupt prekär, nicht mehr als zaghafte Annäherungen an etwas, das es nur in Spurenelementen gibt. Freizeit ist somit bloß ein Vorgeschmack von befreiter Zeit. Unter befreiter Zeit kann nur eine wirklich konsequenzlos disponible Zeit verstanden werden, in der die Möglichkeiten sich zu entscheiden, wirksam gegeben sind.

Einkaufen ist keine freie Zeit, Putzen ebensowenig. Essen ist dort, wo es primär dem stofflichen Fortkommen dient, keine freie Zeit, dort, wo es sich genießerisch veranstaltet, sehr wohl. Was freilich nicht immer säuberlich zu trennen ist. Der eingeworfenen Hamburger, das aufgewärmte Gulasch erscheint als notwendige Belästigung, das Aufkochen am Sonntag für Freunde und Bekannte hingegen als eine hohe Form gemeinsamer Lust. Aber selbst die gleiche Speise kann unter geänderten Umständen ganz anders auf uns zukommen. Die Frage der gesellschaftlichen Bestimmung des Essens ist nicht durch die Beschaffenheit desselben gelöst, auch wenn die Qualität der Mahlzeit oft ausschlaggebend fur unser Wohlbefinden sein kann.

Prinzipiell ist es natürlich sinnvoll, Traktoren und Schuhe, Kopierer und Mischmaschinen in kürzerer Tätigkeitsdauer, mit weniger Verschleiß an Muskel, Nerv und Hirn herzustellen. Schonung der menschlichen und natürlichen Ressourcen ist eine Leitlinie der Emanzipation. Bloß das kann überhaupt befreite Zeiten und Räume fur alle Menschen, nicht nur für bestimmte Privilegierte, hervorbringen. Es gilt zu Gegebenheiten vorzudringen, die eben nicht von Reproduktion und Produktion, Markt und Büro, kurzum vom Alltag diktiert werden.

Ein Ziel ist die Abnahme der gesellschaftlich gebundenen Zeit. Doch bisher erwuchsen aus der Überwindung natürlicher Beschränkungen nur kulturelle hintennach. Diese Gesetzlichkeit zu brechen ist eine zentrale Aufgabe. Emanzipation heißt Kampf gegen den existentiellen Kampf und schließlich dessen Überwindung, zumindest was die materielle Seite anbetrifft. Es geht um den Schritt vom Überleben zum Leben. Um nichts weniger als um den Austritt aus der menschlichen Vorgeschichte:

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich das Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. [27]

8. Aus dem Alltag ausbrechen

Man gehört zu dieser Welt, ob man will oder nicht. Gerade die Anerkennung dieser Gehörigkeit ist freilich Voraussetzung ihr nicht hörig zu sein. Der Ansatz der Befreiung liegt, so paradox es scheint, darin, das bürgerliche Gerede vom freien selbstbestimmten Subjekt zu boykottieren und zu destruieren, nicht es als ideologisches Apriori vor sich herzutragen, egal ob sich das jetzt „freier Mensch“ oder „mündiger Bürger“ benennt. Erst wenn man keine falschen Illusionen mehr hegt, ist es möglich, von dieser gesellschaftlichen Bestimmung ideell zu abstrahieren. Die Voraussetzung höherer Erkenntnis ist die Bewußtwerdung der Bewußtlosigkeit, was mitnichten deren sofortige Negation oder gar Aufhebung bedeutet. Notwendig ist vielmehr die bewußte Anwendung der Bewußtlosigkeit, was den Widerspruch schon in der Aussage miteinschließt. Doch genau darum geht es, um dessen Schaffung.

„Aus dem Alltag ausbrechen“ ist zu einem geflügelten Wort geworden. Jawohl, der Alltag ist ein Gefängnis. Nicht bloß eines, sondern das. Leben wird — und das ist nicht von der Hand zu weisen — als dem Alltag gegensätzlich empfunden. Dem ist so. Alltag, das ist die graue Existenz der Monaden, der Leibnizschen fensterlosen Wesen, die gleich Ameisen ihren Stoffwechsel erledigen, auch wenn dieser weitgehend sozial bestimmt und nicht natürlich beschaffen ist. „Ich habe kein Leben, ich habe ein Programm“, sagte unlängst erst das medizinisch-technische Notfallprogramm der „Voyager“.

Eine wirkliche Revolution, d.h. eine, wo nicht nachher die alte Scheiße in dieser oder jener Form wieder hochkommt, ist nur möglich, wenn sie sich als eine Umwälzung gestalten läßt, die den Alltag auch wirklich aushebelt. Denn genau das steht an: Nicht ein anderer Alltag, sondern die Aufhebung des Alltags.

[1Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion (1970), Frankfurt am Main 1978, S. 259

[2Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen, 16. Aufl. 1986, S. 371

[3Leo Kofler, Zur Kritik der „Alternativen“, Hamburg 1983, S. 41

[4Agnes Heller, Das Alltagsleben, S. 89

[5Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I (1930), Reinbek bei Hamburg 1987, S. 368

[6Ebenda, S. 305

[7Friedrich Engels, Einleitung zur englischen Ausgabe „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft “ (1892), MEW, Bd. 19, S. 543

[8Theodor W. Adorno, Einleitung in: ders. u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt und Neuwied, 9. Auf. 1979, S. 42

[9Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), Werkausgabe Band V,
Frankfurt am Main 1988, S. 137

[10Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie (1714), Stuttgart 1979, S. 19

[11Johann Gottlieb Fichte, Der geschloßne Handelsstaat, Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre, und Probe einer künftig zu liefernden Politik mit einem bisher unbekannten Manuskript Fichtes „Ueber Staats Wirthschaft“ (1800), Hamburg 1979, S. 62-63

[12Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Werke 3, Frankfurt am Main 1986, S. 241

[13Ebenda, S. 242

[14Ebenda, S. 86

[15Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I. (1812/1831), Werke 5, Frankfurt am Main 1986, S. 85

[16Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1992, S. 295.

[17Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals (1885), MEW, Bd. 24, S. 40-41

[18Ebenda, S. 31-153

[19Vgl. dazu ansatzweise: Franz Schandl, Versuchungen. Skizzen über die Liebe und das Vögeln, Weg und Ziel Nr. 2/96, S. 20-27

[20Theodor W. Adorno, Einleitung in: ders u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt und Neuwied, 9. Aufl. 1979, S. 21

[21Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Stuttgart 1969, S. 126 [1131a 1-21]

[22Ebenda, S. 135. [1133b 14-1134a 2]

[23Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit
(1962), München 1976, S. 36

[24Agnes Heller, Das Alltagsleben, S. 35

[25Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 303

[26Ebenda, S. 508

[27Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band (1894), MEW, Bd. 25, S. 828