Der Pamir zwischen Islam und Ethnisierung
Die Entwicklungen der letzten Jahre in Afghanistan werden auch Auswirkungen auf seine Nachbarstaaten haben. Während sich dabei alle Augen auf die beiden Regionalmächte Iran und Pakistan richten, scheint das kleine Tajikistan vorerst weiter in der Vergessenheit zu verschwinden.
Während die Sowjetunion 70 Jahre lang eine relativ dichte Grenze zum südlichen Nachbarn Afghanistan zog, werden seit dem Zusammenbruch der UdSSR wieder alte ethnische und religiöse Gemeinsamkeiten beiderseits der Grenze entscheidend für das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten. Die Tajiken bilden nicht nur die Staatsnation der Tajikischen Republik, sondern sie stellten auch innerhalb der Nordallianz, die seit dem Sturz der Taliban wieder eine wichtige Rolle in Afghanistan spielt, die stärkste und einflussreichste Gruppe. Shah Massud, der kurz vor dem 11. September in Tschetschenien ermordet wurde, galt während des afghanischen Bürgerkriegs als militärischer und politischer Kommandant der tajikischen Milizen, die am Höhepunkt der Macht der Taliban als einzige noch militärischen Widerstand gegen die international nie anerkannten Herren Afghanistans leisteten. Der an Afghanistan angrenzende Ostteil des jungen Nachfolgestaates der Sowjetunion, die Hochgebirgsregion Gorno-Badakhshan war historisch besonders eng mit der Entwicklung des gesamten Großraumes verbunden, in dem er sich befindet. Im Westen Gorno-Badakhshans leben wie im äußersten Nordosten Afghanistans überwiegend Angehörige pamirtajikischer ethno-linguistischer Gruppen, die sich nicht nur sprachlich und kulturell von der tajikischen Staatsnation unterscheiden, sondern auch religiös. Die erst relativ spät islamisierten Pamirtajiken sind überwiegend Angehörige der nizaritischen Richtung der ismailitischen Schia, während die Tajiken überwiegend der sunnitischen Richtung des Islam angehören.
Da das unwirtliche und dünn besiedelte Berggebiet Gorno-Badakhshans auch schon vor der Aufteilung des Gebietes durch russische/sowjetische bzw. britische Kolonialherren politischen und ökonomischen Abhängigkeiten zentralasiatischer Stadtkulturen ausgesetzt war und heute der „Nationswerdung“ Tajikistans ausgesetzt ist, ist es wichtig, die historische und politische Entwicklung Gorno-Badakhshans in einen Kontext mit der Staatswerdung und Nationenbildung in Zentralasien zu setzen.
In diesem Zusammenhang gehe ich davon aus, daß Nationen keine naturgegebenen oder natürlich gewachsenen Einheiten darstellen, sondern gedachte Gemeinschaften, die erst durch den Nationalismus mehr oder weniger gewaltsam durchgesetzt wurden. „Es ist der Nationalismus der die Nationen hervorbringt, nicht umgekehrt.“ (GELLNER, 1995: 87) Mit jeder Nationswerdung ist ein Prozeß der nationalen Homogenisierung verbunden, der all jene Gruppen an der Rand drängt, die eben nicht der sich zur Nation konstituierenden Herrschaftsgruppe angehören. Nationswerdungsprozesse sind somit immer politische Projekte, die oft auch gegen den Widerstand großer Bevölkerungsgruppen durchgesetzt werden und in ihrer historischen Herausbildung recht jungen Datums sind.
Auch in Zentralasien waren „staatliche Einheiten auf ethnisch homogener Basis [...] in der Geschichte [...] etwas Fremdes und Neuartiges, für das es auch kaum sprachliche Voraussetzungen gab.“ (GEISS, 1994: 102) Während die städtische Bevölkerung überwiegend iranische Sprachen, erst das Sogdische und später Persisch, als Handels- und Alltagssprache benutzte, benutzten die nomadischen Stämme überwiegend türkische Dialekte. Zweisprachigkeit war allerdings auf beiden Seiten eher die Regel als die Ausnahme. Eine Zugehörigkeit zu einer „Nation“ oder einem „Volk“ wurde bis in die Sowjetunion hinein nicht empfunden. Die Identität wurde für Städterinnen vielmehr durch den Bezug auf ihre Stadt, für Stammesangehörige in Bezug auf den jeweiligen Stamm definiert.
Sowjetische Nationalitätenpolitik
Die zentralasiatischen Nationenkonstrukte wurden nicht durch einen „eigenen Staat“ der jeweiligen Nation etabliert, sondern unter sowjetischer Oberhoheit. Die leninsche, v. a. aber dann die stalinistische Nationalitätenpolitik schuf, kreierte die zentralasiatischen Nationen. In den postsowjetischen Nationalstaaten der Region sind weiter die unter Stalin definierten nationalen Gesellschaften maßgebend. Im Gegensatz zu den baltischen Staaten kam es in Zentralasien nicht zu eigenständigen Nationalbewegungen.
Der Imperialismus des zaristischen Russlands wurde im Zuge der Oktoberrevolution modifiziert, in vielen Bereichen jedoch auf die sowjetische Großmachtpolitik übertragen. Wenn Lenin davon ausging, daß es wie „zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Diktatur der unterdrückten Klasse kommen kann [...] zur unvermeidlichen Verschmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung, das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen kommen“ kann (LENIN, 1916: 173), geht er damit von einem Nationenkonzept aus, das in Zentralasien unbekannt war. Doch unterschied sich die Vorstellung Lenins bereits zu seinen Lebzeiten deutlich von der sowjetischen Realpolitik. Die Sowjetunion entließ zwar eine Reihe ehemaliger Kolonialgebiete in die Unabhängigkeit, brachte aber teilweise schon innerhalb weniger Jahre wieder unter ihre Kontrolle. Die Sowjetrepubliken Zentralasiens unterlagen dabei mehreren Grenzänderungen; die heutigen Grenzen wurden unter Stalin festgelegt.
Eine wichtige Rolle für die stalinsche Nationalitätenpolitik spielten dabei die Sprachen, die „Schaffung von Titularsprachen durch die selektive Förderung von lokalen Dialekten, die Einführung des lateinischen Alphabets und die Aufoktroyierung der kyrillischen Schrift als Beginn einer verstärkten Politik der Russifizierung.“ (GEISS, 1994: 107)
Die problematische Nationsbildung
Die zentralasiatischen Nationsbildungen waren mit all jenen Problemen verbunden, die die Schaffung von Nationen mit sich bringen. Zu jeder Nationswerdung gehört eine mehr oder weniger gewaltsame Homogenisierung der Bevölkerung, die schließlich zur Auslöschung anderer kollektiver Identitäten und Minderheiten führt.
In Zentralasien kam es durch die „Durchmischung“ persischsprachiger und türkischsprachiger Bevölkerung schließlich zur Entstehung großer „Nationaler Minderheiten“. Diese bedingten Rivalitäten zwischen den einzelnen sozialistischen Sowjetrepubliken. Insbesondere Tajikistan fühlte sich gegenüber den anderen Republiken benachteiligt, da alle wichtigen urbanen Zentren persischer bzw. tajikischer Kultur der Usbekischen SSR zugeschlagen wurden. Die tajikische Hauptstadt Duschanbe war zum Zeitpunkt der Republiksgründung eine unbedeutende Kleinstadt.
Das „große Spiel“
Die weitgehend zusammenhängende Bergregion des Pamir wurde, wie bereits kurz angerissen, erst im Zuge des „großen Spiels“ der Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts in verschiedene Nationalstaaten integriert, deren internationale Grenzen noch heute die Region teilen. Als weitere regionale Macht kam mit der Errichtung eines unabhängigen Afghanistans unter Ahmed Schah Durrani (1747-1773) auch dieser von einer Paschtunenföderation beherrschte Nationalstaat mit ins Spiel, der allerdings schon bald unter britischen Einfluß geriet.
Im Nordteil des von Pamirtajiken besiedelten Landstriches wurde, spätestens mit der Grenzziehung von 1895, das alte Fürstentum Wakhan entlang des Pamir Darya in ein afghanisch und russisch beherrschtes Territorium geteilt. Bis zur Oktoberrevolution spielte jedoch lokale Feudalherren insbesondere der vom Amir von Buchara, vor Ort eine größere Rolle als die Zaren im fernen Petersburg. Die Region galt als wirtschaftlich rückständig und wurde von lokalen Khanen kontrolliert. In Abhängigkeit von Amir von Buchara regierten sie das Land mehr oder weniger despotisch.
Sowjetische Herrschaft
Für die meisten Bewohner des Pamir stellte die russische Revolution eine Befreiung von Ausbeutung und despotischer Herrschaft dar. Die UdSSR brachte dem isolierten Berggebiet einen gewaltigen Modernisierungsschub. Khorog wurde Hauptstadt der Region. Die feudalen Strukturen in der Landwirtschaft wurden grundlegend abgeschafft. Schon 1940 wurde der große Pamir-Highway gebaut, der Khorog mit der Republikshauptstadt Duschanbe verbindet, damit war Gorno-Badakhshan mit den kulturellen und politischen Zentren der Sowjetunion verbunden.
Die Sowjetunion baute in Gorno-Badakhshan eine Gesundheitsversorgung und ein funktionierendes Bildungssystem auf. Bis in die Achtzigerjahre konnten 99% der Bevölkerung lesen und schreiben. Der Einfluss der Religionsgemeinschaften nahm auch in Gorno-Badakhshan, wie in der gesamten Sowjetunion ab. Der Kontakt der ismailitischen Muslime des Pamir zu ihrem religiösen Oberhaupt, dem Aga Khan riß während der sowjetischen Herrschaft ab und konnte erst nach der Unabhängigkeit Tajikistans wieder aufgebaut werden.
Einen wichtigen Einschnitt für die Bevölkerung Gorno-Badakhshans stellt die sowjetische Afghanistanpolitik der Achtzigerjahre dar, als die von Pamiris bewohnten Gebiete Afghanistans sich plötzlich unter sowjetischer Herrschaft wiederfanden. Vor allem Teile der Wakhi-Bevölkerung im Süden Gorno-Badakhshans erhofften sich Anfangs eine „Wiedervereinigung“ des alten Wakhan, diesseits und jenseits der sowjetisch-afghanischen Grenze, als jedoch die ersten Särge sowjetischer Soldaten aus dem Pamir zurückkehrten, wurde auch im Pamir die Kritik am militärischen Abenteuer in Afghanistan immer lauter. Verbunden damit begannen auch die Ideen afghanischer Mujahedin langsam ihren Weg in die angrenzenden islamischen Republiken der Sowjetunion zu finden.
Tajikistan ist mit einer Fülle sich überlagernder und überschneidender Konflikte heute einer der instabilsten Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Bereits die ersten Präsidentenwahlen im November 1991 „endeten mit der Rückkehr der alten Kader: Rachmon Nabijew, 1982-1985, Erster Sekretär des ZK der KP der Tadschikischen SSR wurde mit 56,9% zum Präsidenten Tadschikistans gewählt“ (MANGOTT, 1996: 118). Sein Gegenkandidat Dawlat Chudonasarow, ein Pamiri mit starker regionaler Verankerung in Gorno-Badakhshan, erhielt trotz Unterstützung durch die Islamskaja Partija Wosroschdenija (Islamische Partei der Wiedergeburt, IPW), der Nationalbewegung Rastochez und der Demokratischen Partei (DP) nur 30%.
Trotz formalem Mehrparteiensystem behielt die neue Regierung Nabijew allerdings einen sehr autoritären Kurs bei. „Die Verhaftung des der Opposition nahestehenden Bürgermeisters von Duschanbe und die Entlassung des Innenministers, eines Pamiri, im März 1992 lösten eine Serie von Demonstrationen, Sitzstreiks und Blockaden — zunächst in Duschanbe, dann auch in den Provinzen — aus.“ (MANGOTT, 1996: 118) Nachdem sich diese Konflikte bis zu bewaffneten Auseinandersetzungen verschärft hatten, bildete Rachmon Nabijew eine Koalitionsregierung mit der Opposition, die jedoch nur kurzfristig die Konflikte entschärfen konnte. Die Provinzen Chudschand und Kuljab erkannten die neue Koalitionsregierung nicht an, da das auch regional ausgewogenere Kabinett als Bedrohung für die traditionelle Vorherrschaft und Interessen dieser Regionen begriffen wurde. Der Konflikt weitete sich so schnell zum Bürgerkrieg aus. Dabei organisierte sich die Bevölkerung der Provinzen Kuljab überwiegend in der aus Nabijews Nationalgarde hervorgegangenen „Volksfront Tajikistans“, welche in Kurgan-Tjube von Faizali Saidow geführt wurde.
„Die oppositionellen Kräfte, die sich in der ‚Front der Nationalen Rettung‘ (Nijat-i Milli) organisierten, rekrutierten sich vorrangig aus Pamiri und Garmesen, sowohl aus dem Garm-Tal als auch aus Kurgan-Tjube.“ (MANGOTT, 1996: 119) Die Nijat-i Milli wurde dabei von Davlat Usman (russisch: Usmanow) und Schodmon Jussuf (russ.: Jusupow) angeführt. Trotz ideologischer Probleme zwischen den sunnitischen Integralistlnnen der IPW und den ismaelitischen Pamiris stellte dieser Glaubensunterschied „kein Hindernis für eine Waffenbrüderschaft [dar]; beide vereinte) eine extrem traditionalistische Lebensform.“ (MANGOTT, 1996: 119)
Präsident Nabijew wurde im September 1992 vom Präsidium des Obersten Sowjet zum Rücktritt gezwungen und nachdem er sich nach Chudschand abgesetzt hatte vom Pamiri Akbarshah Iskandarow, militärisch unterstützt durch die „Jugend Tajikistans“, ersetzt. Unter anderem durch die Unterstützung Usbekistans an die alte Regierung und insbesondere an die usbekische Minderheit in der Provinz Chudschand gelang es der alten Regierung jedoch — nunmehr unter dem aus Kuljab stammenden Imomali Rachmonow — wieder die Führung an sich zu reißen. „Massenverhaftungen, Exekutionen und Säuberungen durch die militärischen Einheiten der siegreichen Chudschand-Kuljab-Fraktion verstärkten den ohnehin starken Flüchtlingsstrom in das angrenzende Afghanistan (ca. 90.000) oder in die unwegsamen Berge von Gorno-Badachschan (ca. 30.000); Schätzungen über den innertadschikischen Flüchtlingsstrom reichen bis zu einer Million Menschen.“ (MANGOTT. 1996: 120)
Die gesamten Oppositionsparteien wurden von der Regierung Rachmonow verboten, darunter auch die pamirische Autonomiebewegung La’l-i Badakhshan. Trotz massiver Repression und Unterstützung von Seiten Russlands und Usbekistans war das Rachmonow-Regime aber nicht in der Lage den Bürgerkrieg mit Gewalt zu beenden, weshalb „in 1994 his Russian allies and United Nations representatives pressured him into starting peace talks with the Opposition.“ (BROWN, 1996: 26)
Die folgenden jahrelangen Verhandlungen führten zwar zu einem Friedensabkommen, aber „die Umsetzung des am 27.6.1997 von Präsident Imomali Rachmanov und Said Abdullo Nuri, dem Führer der muslimischen Gruppierungen der Vereinigten Tadschikischen Opposition (OTO), unterzeichneten Friedensabkommens [...] kommt weiterhin nur schleppend voran.“ (FISCHER, 1999: 770) Erst im Frühjahr 1999 zog Kirgistan seine im Bürgerkrieg eingesetzten Truppen zurück und am 3. August 1999 erklärten die bewaffneten Einheiten der Opposition ihre Auflösung.
Viele der dem Bürgerkrieg zugrundegelegenen Konflikte sind bis heute nicht gelöst. Dazu gehört neben dem Grad an Autonomie für Gorno-Badakhshans v.a. die Frage der usbekischen Minderheit im Norden Tajikistans, die latenten gegenseitigen Gebietsansprüche Tajikistans und Usbekistans, die ebenso latenten Gebietsansprüche Kirgistans auf Teile Gorno-Badakhshans und die Frage nach dem islamischen oder säkularen Charakter des Staates.
Die Schaffung einer Tajikischen Nation ist durch eine Reihe von Schwierigkeiten charakterisiert. Das unabhängige Tajikistan kehrte zu seinem vorsowjetischen persischen Kulturerbe zurück, was sich ganz wesentlich in der Rückkehr zur persischen Sprache und Schrift äußerte. Dennoch stehen sich religiöse, teilweise islamisch-integralistische Kräfte einerseits und postsowjetische Funktionäre andererseits gegenüber, die sich kaum auf eine gemeinsame „nationale Identität“ des neuen „Nationalstaates“ einigen können.
Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich auch im Verhältnis des Nationalstaates gegenüber seinen ethno-linguistischen und religiösen Minderheiten. Während etwa die Ablehnung eines tajikischen Nationalismus islamische Kräfte für viele Pamiris attraktiv macht, schreckt der sunnitische Integralismus die mehrheitlich ismailitischen Pamiris wiederum vor einer Unterstützung des sunnitischen Integralismus ab. Politische Identität wird so im unabhängigen Tajikistan nicht primär über eine Ideologie erzeugt. „Affinitäten zu regionalistischen Parteien, die Konfessionalität, ethnische Herkunft und Sprachgruppenzugehörigkeit betonen, bestimmen neben politischer Ausrichtung die Zugehörigkeit zu neuformierten, Ethnizität betonenden Koalitionen.“ (KREUTZMANN. 1996: 183)
Ein guter Teil der Pamirtajiken unterstützte 1992 den Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei Davlat Khudanazar, da er einer der bekanntesten ismailitischen Politiker aus Gorno-Badakhshan ist und somit als Vertreter der eigenen ethno-linguistischen Gruppe gesehen wurde. Die Regierung in Dushanbe vertrieb jedoch den prominenten Politiker, der ins Exil gehen musste. In der Folge riegelte die Regierung die Zufahrtswege nach Gorno-Badakhshan mit der Behauptung ab, „it was necessary to control the movement of the Opposition armed groups. The result was the near starvation of the people of GBAO“ (EMADI, 1998: 14), des Gorno-Badackshanischen Autonomen Oblast.
Tajikistan und Afghanistan
Neben diesen sich teilweise überschneidenden Konflikten, spielt auch die geographische Nähe zu Afghanistan in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle für den jungen Nationalstaat. Aus Afghanistan konnten leicht islamisch-integralistische Ideen zum nördlichen Nachbarn exportiert werden. Die politische Entwicklung in Afghanistan, vor allem der Aufstieg der Taliban, ging an Tajikistan nicht spurlos vorüber. Auch die vom Palästinenser Scheich Taqi ad-Din gegründete Hizb at-Tahrir, die die Wiedereinführung des Khalifats auf ihre Fahnen geschrieben hat, verzeichnete die letzten Jahre in Tajikistan, wie in den anderen ex-sowjetischen Republiken Zentralasiens, einen bedeutenden Zulauf. (RASHID, 2002: 151ff) Genauso relevant wie der reale Import integralistischer Ideen, ist aber die Angst der tajikischen Regierung vor einer so genannten „islamischen Gefahr“ die ihre autoritäre Politik international rechtfertigen soll.
Tajikistan spielte für die Taliban in Afghanistan auch eine nicht zu unterschätzende Rolle als Drogentransitland. Mangels anderer Exportgüter ist in den Jahrzehnten des Bürgerkriegs der Mohnanbau und dessen Verwertung zu einem immer wichtigeren Wirtschaftszweig im südlichen Nachbarland Tajikistans geworden. „Neben den religiös und machtpolitisch bedingten Konfliktfeldern befindet sich Tadschikistan zusätzlich in einem offenen Krieg gegen die Drogenmafia.“ (MANUTSCHARJAN, 1998: 6)
Autonomiebestrebungen
In Gorno-Badakhshan gelang es weder den Anhängern der Regierung, noch der integralistischen Opposition den Großteil der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Im August 1991 gründete sich in Gorno-Badakhshan die „autonomistische Bewegung ‚Rubin von Badachschan‘ (La’l-i Badachschan), deren Ziel die Stärkung der Autonomie Gorno-Badakhshans und damit der Pamiri ist.“ (MANGOTT, 1996: 117) Neben dieser Autonomiebewegung genießt die Demokratische Partei, und der aus dem Pamir stammende ehemalige Präsidentschaftskandidat Davlat Khudanazar eine Unterstützung in Teilen der Bevölkerung.
Die Autonomiebewegung La’l-i Badakhshan wurde von Atobek Amirbek gegründet, der seither den wichtigsten ideologischen und politischen Kopf der Bewegung darstellt. La’l-i Badakhshan ist bisher nur für einen Ausbau der Autonomie Gorno-Badakhshans eingetreten. Auch wenn es an der Basis der Bewegung einige Aktivistinnen geben mag, die für die völlige Unabhängigkeit Gorno-Badakhshans eintreten, dürfte der politischen Führung der Autonomiebewegung klar sein, dass ein unabhängiges Gorno-Badakhshan ein mit größten wirtschaftlichen Problemen kämpfender Kleinststaat wäre, der im Wesentlichen aus 90% unwirtlichem Hochgebirge bestünde und in einer solch politisch sensiblen Region ständig mit dem Überleben zu kämpfen hätte.
Ob sich diese gemäßigte Haltung in der Autonomiebewegung als dauerhaft erweisen wird, wird nicht nur von der Autonomiebewegung selbst, sondern auch von der ökonomischen uns politischen Entwicklung des tajikischen Gesamtstaates und seiner Nachbarländer abhängen. Wenn es gelingt Gorno-Badakhshan eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen und die Autonomierechte der Minderheiten so weit auszubauen, dass sich die Pamirtajiken weder von einem tajikischen Nationalstaat noch vom sunnitischen Integralismus bedroht fühlen, sind die Grundlagen für ein gemeinsames politisches Gebilde von Tajiken und Pamirtajiken auch in Zukunft gelegt. Wenn nicht, könnte sich die labile politische Situation im Pamir aber schnell zu einem militärisch ausgetragenen Konflikt verändern, in dem der Gegensatz zwischen Tajikistan und pamirischen AutonomistInnen nur eine Frontlinie wäre.
Für die zukünftige Entwicklung der schleichenden Konflikte Tajikistans wird nicht zuletzt die weitere Entwicklung Afghanistans von Bedeutung sein. Insbesondere durch die Rückeroberung Afghanistans durch die Nordallianz im Windschatten des US-Angriffes auf Afghanistan spielen dort wieder Tajiken, Pamirtajiken und Usbeken eine bedeutendere Rolle als unter den weitgehend paschtunischen Taliban. Diese Entwicklungen können nicht spurlos am kleinen Nachbarn im Norden vorübergehen. Die weitere politische Entwicklung Gorno-Badakhshans wird aber auch sehr stark von der wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten zentralasiatischen Region, sowie von der Politik der Zentralregierung Tajikistans abhängen, der es zwar gelungen ist, die bisherigen bewaffneten Konflikte zu überleben, aber nicht die zugrundeliegenden ökonomischen und politischen Probleme zu lösen. Eine mögliche Ethnisierung des Konfliktes wird v.a. vom Selbstverständnis des neuen Nationalstaates abhängen. Sollte die Regierung einen Staat als einheitlichen Nationalstaat mit einem völkischen Nationenbegiff aufbauen wollen, ist mit Widerstand der Bevölkerung des Pamir zu rechnen. Dasselbe gilt aber auch, wenn sich sunnitische Integralisten durchsetzen sollten, die die schiitischen Bevölkerungen Gorno-Badakhshans als Ketzer betrachten und mit ihnen wohl ähnlich brutal verfahren würden wie die Taliban mit den schiitischen Hazara, die unter Massakern und einer massiven Unterdrückung zu leiden hatten. Nur eine säkulare und nichtnationalistische Politik, die die Interessen der gesamten Bevölkerung berücksichtigt und eine ökonomische Basis für die Region schaffen kann, wird eine Eskalation dieses Konfliktes in Zukunft verhindern können.
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