Heft 1-2/2005
Mai
2005

Der Tyrann und der Warlord

Der Irak zwischen „failed state“ und beginnendem „nationbuilding“

Die Warlordisierung nach dem Sturz des Ba’th-Regimes im Irak zeigt wie eng totalitärer Staat und Staatszerfall verbunden sind. Aus den rivalisierenden Banden, die die iraki­sche Ba’th-Partei vor ihrer Machtergreifung darstellten, wurden nach dem Zerfall ihrer Macht wieder rivalisierende Banden.

Die Herrschaft der irakischen Ba’th-Partei nach ih­rem zweiten Putsch 1968 stellte den vorläufigen End- und Höhepunkt einer Entwicklung dar, der eine Reihe von coups d’état rivalisierender Strömungen lin­ker und rechter Panarabisten vorangegangen sind.

Im Gegensatz zur syrischen Ba’th-Partei, die sehr wohl über einen Parteiapparat verfügte, dem auch Intellektuelle angehörten, und der trotz seiner ideolo­gischen Entlehnungen aus dem europäischen Faschis­mus gewisse Elemente formaler und durch politische Verfahrensweisen und Institutionen vermittelter Herrschaft beibehielt, bestand der irakische Zweig der Ba’th-Partei von Anfang an lediglich aus rivalisieren­den Banden deklassierter Jugendlicher. Die irakischen Ba’thisten waren von Anfang an eine — eben nicht politische Strömung sondern — Bande, die Adorno in einem anderen Zusammenhang als Bekenntnis „zur menschlichen Gesellschaft als einem Massenracket in der Natur“ [1] bezeichnet hatte.

Racket als Grundform der Herrschaft

Der irakische Ba’thismus der Fünfzigerjahre war also keine politische Partei im eigentlichen Sinn, die gemeinsame Interessen verfolgt hätte, sondern ein klassisches Beispiel für die Herrschaftsstruktur des Rackets, jener Grundform von Herrschaft, die als unmittelbare Herrschaft für Horkheimer „die völlige Brechung der Persönlichkeit“ verlangt. „Das Indi­viduum muß sich aller Macht begeben, die Brücken hinter sich abbrechen. Als der echte Leviathan fordert das Racket den rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag.“ [2]

Racket und Staat, Warlord und Staatsmann schlie­ßen sich damit nicht nur nicht aus, sondern bedingen einander insbesondere dort, wo Herrschaft kaum durch bürgerlich-liberale Institutionen gezähmt ist, sondern in ihrer archaischen unmittelbaren Form auftritt. Oder anders rum: Rackets können durchaus staatliche Macht erobern, ja staatenbildend wirken, Staaten können aber auch selbst wiederum ausgehöhlt und auf ihre repressiven Elemente reduziert zu (riva­lisierenden) Rackets zerfallen. Die unter den Schutz einen solchen Staates gestellte Bevölkerung kommt dabei in einen ähnlichen „Genuss“ von „Schutz“, wie etwa kleine Händler und Ladenbesitzer von ihren Schutzgelderpressern. „Ein amerikanischer Histori­ker beschrieb die Staaten als protection rackets, und andere Autoren sahen wiederum im protection racket den Staat.“ [3]

Dies ist keine Besonderheit des Irak, sondern durchaus allgemein auf Staatlichkeit bezogen. Aller­dings stellte die Ba’th-Partei, deren Ableger im Irak 1952 gegründet wurde, geradezu den Prototyp des po­litischen Rackets dar. [4] Die Partei versuchte nicht ein­mal nach außen den Anschein einer zivilen Partei zu erwecken. Vielmehr dominierten von Anfang an die kriminellen Bandenelemente und die parteiinternen Geheim- und Sicherheitsdienste das Bild.

Die Instabilität der Bandenherrschaft

Mit dem ersten Putsch der Ba’th-Partei vom 8. Februar 1963 zeigte sich deutlich das Gewaltpo­tential, das dieser unmittelbaren Form der Herrschaft innewohnt. Innerhalb weniger Tage wurden tausende politische Gegner verhaftet, erschossen und in den sogenannten „Todeszügen“ in die Wüste geschickt. Insgesamt wurden in den Wochen nach dem Putsch allein rund 10.000 (vermeintliche) KommunistInnen ermordet.

Rackets sind nun zwar als Kern oder Urform von Herrschaft zu begreifen, allerdings sind sie als per­sonale Abhängigkeitsnetzwerke nicht stabil, sondern vom Agieren einzelner Bandenmitglieder abhängig. Gelingt es einem Racket eines Staates habhaft zu wer­den so muss sich das Racket zu einer gewissen Form von Staat­lichkeit transformieren, da es als instabile und nicht institutiona­lisierte Form der Herrschaft in seiner reinen Form keinen Staat verwalten kann und rasch von anderen rivalisierenden Rackets abgelöst wird.

Genau dies geschah 1963 mit der eben an die Macht gekom­mene Ba’th-Partei. Hatte das Racket erst einmal die Fäden der staatlichen Macht in der Hand, wusste es nicht mehr so recht was es eigentlich damit anfangen sollte. Außer Repression und Gewalt um der Erhalt der Macht willen, fiel dem Regime nichts ein. Zudem rivalisierten die panarabistischen Banden weiter un­tereinander. Schließlich bekriegten sich bereits wenige Wochen nach dem Putsch verschiedene Fraktionen der Ba’th-Partei um die Macht. Bereits im Untergrund vorhandene Rivalitäten um Macht und Einfluss, die trotz der teilweise verwen­deten Etikettierungen als „Links- und Rechtsba’thisten“ in der Realität keinen politischen Hintergrund hatten, verunmöglichen es der Partei ein stabiles Re­gime zu errichten. Eine Regierungspartei, die abwechselnd als Verbrecherbande oder Warlord agiert, kann auf Dauer kei­ne politische Macht stabilisieren. Das ers­te Ba’th-Regime war damit innerhalb weniger Monate völlig am Ende und wurde noch einmal von rivalisierenden arabischen Nationalisten [5] abgelöst, die al­lerdings letztlich ebenso daran scheitern ein stabiles Staatswesen aufzubauen, wie zuvor die Ba’thisten.

Totalitärer Staat

Eine Fraktion der Ba’th-Partei lernte jedoch aus dieser Niederlage dazu. Die Gewaltexzesse in den ersten Wochen nach dem Putsch und die folgenden innerparteilichen Bandenkriege hätten — so die innerparteiliche „Selbstkritik“ — wieder zum Verlust der Macht geführt. Also wollte man es beim nächsten Versuch an­ders machen. Schließlich galt es die Macht nicht zu erobern um sie sich sogleich wieder selbst zu demontieren, sondern diese zu einer stabilen Herrschaftsform zu verwandeln, in der der Irak nach den ideologischen Vorgaben des völkischen Nationalismus der Ba’th-Partei umzuge­stalten wäre.

Deshalb hielt sich die Partei bei ihrem zweiten Putsch 1968 vorerst mit Gewaltexzessen zurück. Zur Verschleierung des Charakters des neuen Regimes wurden in der ersten Stufe des Umsturzes sogar eine Reihe von nichtba’thistischen arabi­schen Nationalisten mit wichtigen Posten betraut. Die noch von den Exzessen von 1963 öffentlich diskreditierte Ba’th-Partei wollte vorerst nicht (alleine) an die Öf­fentlichkeit treten. So folgte dem Putsch vom 17. Juli 1968 ein kurzes Regime, das verschiedene Strömungen des arabischen Nationalismus einschloss, hinter dem aber bereits die Ba’th-Partei stand. Das Regime versprach die Freilassung der politischen Gefangenen und entließ tat­sächlich eine Reihe Gefangener. Bereits am 30. Juli betrachteten die Ba’thisten ihre Macht jedoch bereits als so weit ge­festigt, dass sie eine Auslandsreise von Verteidigungsminister al-Da’ud dazu nutzten um sich seiner und einiger ande­rer „Koalitionspartner“ zu entledigen. Im September verkündigte das Regime eine vorläufige Verfassung, die den Islam zur
Staatsreligion erklärt und den „Sozialismus“ zur Grundlage des ökonomischen Systems.

Bereits wenige Tage nach der Verkündigung der Verfassung ist es jedoch mit den versöhnlichen Signalen an die Opposition, insbesondere an KurdInnen und KommunistInnen, vorbei. Wieder beginnen willkürliche Verhaftungen mit Folter und Hinrichtungen. Das Regime versucht nun schrittweise und systematisch das Tempo der Repression zu erhöhen und legt dabei weit mehr Geschick an den Tag, als nach dem ersten Putsch von 1963. Die Dosis der Einschüchterung und Gewalt wird schrittweise erhöht und betrifft zuerst nur kleinere und schwächere Gruppen in der irakischen Bevölkerung. So kann sich die Mehrheit weiter in Sicherheit wiegen. Der erste öffentlich im Fernsehen übertragene Schauprozess richtet sich gegen die — nach den Auswanderungs­- und Deportationswellen der 50er Jahre — schwächste Minderheit des Irak: die ira­kischen Juden. Elf angebliche „zionisti­sche Verschwörer“ — darunter acht Juden — werden schließlich auf dem Befreiungs­platz in Bagdad öffendich erhängt und der Bevölkerung zur Schau gestellt. Aber nicht nur das Fernsehen überträgt das Ereignis, auch zehntausende Bewohner­Innen der Hauptstadt werden gezwun­gen die Leichen zu bestaunen. Teilweise werden die Körper der Toten bespuckt und beschimpft. Das Regime will damit die Bevölkerung zum Mittäter machen. In der Funktionsweise der Bandenkri­minalität geschult, wissen die Ba’thisten, dass nichts mehr zusammenschweißt, als gemeinsame Verbrechen. So soll die Be­völkerung — großteils gegen ihren Willen — dazu gezwungen werden am Verbrechen teilzuhaben.

Gewalt und Repression beschränkte sich jedoch nicht auf die kleinste und schwächste Minderheit, bei der nach Jah­ren der „antizionistischen“ Propaganda die geringste Gefahr einer Solidarisierung der Massen bestand. Schrittweise wurde dies ausgeweitet auf KurdInnen, Assyrer­Innen, SchiitInnen und KommunistIn­nen, bis schließlich jenes System entstand, das Kanan Makia so treffend als „Repub­lik der Angst“ [6] beschrieben hatte. Dabei ging das Regime weit geschickter vor, als beim ersten Versuch. Statt wahlloser Ge­walt wurde sie nun zielgerichtet einge­setzt. Gewalt und Repression gegen eine Gruppe wurde dabei immer mit einer Lockerung für oder eine Allianz mit einer anderen Gruppe kombiniert. So wurde (potentielle) Opposition von einer Ver­bündung gegen das Regime abgehalten und selbst durch die streckenweise Zu­sammenarbeit mit dem Regime kompromittiert. Auf diese Weise eroberte die 1968 noch kleine Ba’th-Partei schrittweise eine Massenbasis, die sie etwa der Kommunis­tischen Partei — bis in die Siebzigerjahre hinein die stärkste KP der arabischen Welt — mit dieser Mischung aus Kompromittierung und Repression abspenstig machen konnte. Erleichtert wurde diese Taktik noch durch einige sehr populäre Schritte der Regierung, wie wie etwa der Erfüllung einer langjährigen Forderung der irakischen Linken nach Verstaatli­chung der Erdölförderung und den Aus­bau des Wohlfahrtsstaates mit den da­durch vorhandenen Einnahmen aus der Ölrente. Wohlfahrt und Schulbildung, die primär der ideologischen Indoktrination diente, wurden damit einerseits ausge­baut und modernisiert, andererseits dem direkten Zugriff des Regimes unterstellt. Zum Ölrentiersstaat geworden, konnte das Regime sowohl mit (finanzieller) Zu­wendung an seine Freunde, als auch mit Repression regieren.

All dies legte die Basis zum wirklich totalitären Staat, zu dem der Irak mit Beginn des ersten Golfkrieges wurde. Dieser von Saddam Hussein losgetretene Krieg gegen den Iran, ermöglichte dem Regime — mit dem Argument der Gefahr durch den Krieg — die innere Repression im gesamten Land zu einem permanen­ten Spitzelstaat auszubauen und die letz­ten Reste der Opposition zu zerschlagen. Während und am Ende des Golfkrieges geschahen die schlimmsten Massaker des Regimes, wie die Anfal-Kampagne und die Giftgasangriffe gegen die Kurden, die international als Kriegshandlungen ver­tuscht werden konnten.

Der zweite Golfkrieg als Wendepunkt der irakischen Staatlichkeit

Während der erste Golfkrieg noch zu einer Stärkung der staatlichen (Repressions-)Strukturen führte, endete er zugleich im ökonomischen und sozialen Desaster. Der Überfall Saddam Husseins auf das benachbarte ölreiche Quwait, dem der Irak zudem während des Kriegs gegen den Iran angehäufte Schulden zurückzahlen musste, war primär öko­nomisch bedingt. Die panarabische Rhe­torik des Regimes übertünchte nur ober­flächlich die Tatsache, dass das Regime damit primär zum Befreiungsschlag aus einer Situation ansetzen wollte, in der der fast ein Jahrzehnt dauernde Krieg gegen den Iran die irakische Wirtschaft zurück­gelassen hatte. Waren in den Siebzigerjah­ren noch Gastarbeiter aus der gesamten arabischen Welt in den Irak gekommen um an der aufstrebenden Ökonomie des Landes teilzuhaben, hatte der aufwendi­ge Krieg gegen den iranischen Nachbarn nicht nur über eine Million Tote zurück­gelassen, sondern auch ein finanziell und ökonomisch ausgeblutetes Land, das bei seinen arabischen Verbündeten schwer verschuldet war. Einer der Hauptgläubi­ger des Irak war Quwait, dessen sich das Ba’th-Regime nun hoffte militärisch ent­ledigen zu können.
Die Rechnung Saddam Husseins ging jedoch nicht auf. Vielmehr endete sein Quwait-Abenteuer im militärischen Desaster. Das Regime hatte wohl nicht damit gerechnet, dass die USA — immerhin pha­senweise inoffizielle Verbündete des Irak gegen das als gefährlicher eingeschätzte Mullah-Regime — mit einer breiten Ko­alition arabischer und europäischer Ver­bündeter die irakische Armee innerhalb kürzester Zeit nicht nur aus Quwait ver­treiben, sondern auch im Irak eine ver­nichtende Niederlage bereitet würde. Das Werk wurde jedoch 1991 noch nicht zu Ende geführt.

Obwohl sich in der Folge der Niederla­ge der irakischen Armee hunderttausende IrakerInnen im Süden und Norden des Landes gegen die Regierung erhoben und auf Hilfe von den wenige Kilometer ent­fernt stehenden Truppen der Alliierten hofften, wurden die Aufständischen nicht nur im Stich gelassen. Die irakische Ar­mee konnte sogar ungehindert die letzten militärischen Kräfte dazu aufbieten den Aufstand im Süden blutig niederzuschla­gen. Zerstörte Städte und zehntausende Tote blieben in Massengräbern zurück. Lediglich im Norden wurde eine prekäre „Sicherheitszone“ für die kurdische Min­derheit geschaffen um eine Massenflucht in die Nachbarstaaten zu verhindern.

Insgesamt weigerten sich 1991 jedoch Europäer wie US-Amerikaner und ihre arabischen Verbündeten das Ba’th-Re­gime zu stürzen. Die Europäer pochten auf die nationale Souveränität des Irak und wollten sich nur in den engen Gren­zen der UN-Resolutionen, die lediglich eine Befreiung Quwaits, nicht aber einen Regimewechsel in Bagdad legitimierten, am Krieg beteiligen. Die US-Administration unter George Bush senior fürch­tete sich jedoch insbesondere vor einer Destabilisierung der Region und einer Machtübernahme schiitisch-islamisti­scher Kräfte mit proiranischer Ausrich­tung. Die vermeintliche Stabiliät unter einem „gezähmten“ Ba’th-Regime wurde damals noch einem Sturz des Regimes vorgezogen. Die arabischen Verbündeten schließlich konnten angesichts ihrer eigenen autoritären Regime kein Interesse an einem Regimewechsel haben und poch­ten in ihrem ureigensten Interesse auf die irakische Souveränität.

Verrottender Staat

Der folgende Status des Irak als be­siegter Staat, der weitgehend seiner staatlichen Funktionen und seiner Sou­veränität nach Außen verlustig gegangen ist, jedoch noch über mehr als genügend Repressionsinstrumente nach innen ver­fügte, verursachte einen schleichenden Übergang vom totalitären Staat zum ver­rottenden Staat, der von einem nur noch formal Regierung spielenden Warlord regiert wurde. Die UN-Sanktionen gegen den Irak führten zwar zu einer ökonomi­schen und sozialen Verwüstung des Lan­des und zur Aushöhlung der irakischen Staatlichkeit, nicht jedoch zu einer Schwä­chung des Repressionsapparates nach in­nen. Der Staat ging zwar zunehmend all seiner Funktionen im Sozial-, Bildungs- und Wohlfahrtsbereich verlustig und ver­lor damit viele Aspekte von Staatlichkeit, allerdings blieb dem Regime der gesamte Repressionsapparat dieses Staates erhal­ten um auf rohe Gewalt gestützte Macht im Inneren aufrecht zu erhalten. Die UN-Sanktionen gefährdeten nicht im ge­ringsten die Clique um Saddam Hussein, sondern kamen ihr auch noch zugute. Das Regime hatte damit das willkom­menste Argument zur Hand um sich überhaupt aller staatlichen Aufgaben zu entledigen. Mit dem Hinweis auf die UN und die angeblich dahinter stehen­den dunklen Mächte des Zionismus und des Imperialismus, konnte sich das Regime aller Aufgaben entledigen und die Gewinne aus dem „Oil for food“- Programm privatisieren. Ende der Neunzigerjahre gab es nur noch in jenen Vierteln von Bagdad und jenen Städten des sunnitischen Dreiecks eine funktionierende Infrastruktur an Spi­tälern, Straßen oder Stromversorgung, in denen ein hoher Anteil regimetreuer Bevölkerung zu finden war. Der Irak ging damit zunehmend jener Bereiche der Staatlichkeit verlustig, von denen normalerweise eine Bevölkerung für die Anerkennung der Herrschaft des Staa­tes profitiert. Der Zusammenbruch des irakischen Gesundheits- und Bildungs­systems war keineswegs automatische Folge des Embargos. Vielmehr nutzte die Regierung das Embargo um sich all dieser kostenintensiven Staatsaufgaben zu entledigen. Während die irakische Bevölkerung unter dem ökonomischen Niedergang der Neunzigerjahre litt bau­te sich Saddam Hussein in allen Städten des Landes ausufernde Luxuspaläste. Fast alle „Präsidentenpaläste“ und Lu­xusvillen von Günstlingen des Regimes entstanden nicht in der ökonomischen Blüte der 70er-Jahre sondern in der Phase des ökonomischen und sozialen Niedergangs der 1990er-Jahre.

Aus einem totalitären Regime, das je­doch noch immer einen Staat beherrsch­te, war damit zunehmend eine Clique von Warlords geworden, an deren Spit­ze Saddam Hussein als Meta-Warlord stand. Dabei bereicherte sich jedoch nicht nur die unmittelbare Umgebung Saddam Husseins am Embargo und den Embargobrechern, sondern ein ganzes Klientelsystem innerhalb und außer­halb des Irak. Freunde des Regimes wurden weltweit mit Ölgutscheinen [7] für ihre „Solidaritätsarbeit“ entloht. Im Land selbst war — etwa für Kranke und Arme — das Überleben nur allzu oft von der Loyalität zum Regime bzw. zu den jeweiligen lokalen Eliten abhängig. Unter dem Deckmantel vordergrün­dig weiter funktionierender staatlicher Strukturen löste sich die eigentliche Verwaltung so zunehmend zugunsten informeller Strukturen direkter Ab­hängigkeit auf.

Vom Meta-Warlord zurück zu den rivalisierenden Rackets

Herrschaften personaler Abhängig­keiten, wie sie etwa unter modernen Warlords zu finden sind, besitzen einen hohen Grad an Instabilität. So konnte sich das irakische Regime zwar bereichern, allerdings nicht dauerhaft an der Macht halten. Der Sturz des Regimes durch eine US-geführte Koalition im Frühling 2003 war nur noch der letzte Anstoß zum Zu­sammenbruch eines Regimes, das jede andere Legitimation als die pure Gewalt verloren hatte. Selbst die letzte Bastion des Regimes, die Militärs und die Spezial­truppen der Republikanischen Garde bra­chen wie ein Kartenhaus zusammen. Der Krieg dauerte nicht nur wesentlich kürzer als erwartet, sondern führte auch zu rela­tiv wenigen militärischen wie zivilen Op­fern. Tausende irakische Soldaten gingen einfach samt ihren Waffen nach Hause.

In dieser Situation gelang es den neu­en Besatzungsmächten zwar rasch die militärische und zivile Kontrolle zu über­nehmen, allerdings brachte der völlige Zusammenbruch staatlicher Strukturen eine Menge von Problemen für die nähe­re Zukunft mit sich. Schließlich lösten die Besatzungsbehörden mit der irakischen Armee auch noch die letzte funktionieren­de staatliche Struktur auf. Statt die Führungspositionen mit Vertretern der demo­kratischen Opposition zu ersetzen, aber die Armee selbst beizubehalten, wurden die Soldaten einfach — unter Beibehaltung ihres Soldes — nach Hause geschickt. So entstand ein Potential von Bewaffneten, die nicht mehr in staatliche Strukturen eingebunden waren und damit leicht von neuen Warlords rekrutiert werden konn­ten. Ohne verbliebene staatliche Struktu­ren füllten neue Warlords das durch den Sturz des Meta-Warlords frei gewordene Vakuum in jenen Regionen auf, in denen nicht Strukturen der alten Opposition das Machtvakuum ausfüllen konnten.

Im Irak konnte somit kein funktionie­render Staat übernommen und demokra­tisiert werden. Deshalb geht es seit dem April 2003 nicht nur um Demokratisie­rung, sondern um das, was im anglo-amerikanischen Diskurs als „nation-building“ bezeichnet wird, wohl aber besser als „Staatsaufbau“ zu benennen wäre. [8]

Das vorläufige Entstehen radikalisla­mistischer und ba’thistischer Warlords im Zentralirak ist in dieser Phase zwischen Staatszerfall und Staatsaufbau weit we­niger überraschend als es auf den ersten Blick erscheint. Die ba’thistische Herr­schaft, die aus der ungezügelten Herr­schaft der Rackets hervorgegangen war, ist am Ende ihrer Macht wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen und zum blanken Bandenterror mutiert.

Staatsterror, Warlords, die liberale Demokratie und die Emanzipation

Staatsterror durch illegitime Herrschaft und der Zerfall von Staatlichkeit in rivalisierende Warlords sind eng miteinander verbunden. Totalitärer Staat und Racket sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Liberale Demokratien stellen lediglich die Zähmung und Institutionali­sierung der Urform der Herrschaft durch das Racket dar. Diese Zähmung bildet jedoch die Basis für weitere Schritte in Richtung einer allgemeinen Emanzipa­tion. Demokratie stellt in diesem Sinne zwar nicht das Ziel von Emanzipation dar, allerdings ihre Basis. Erst die Institutiona­lisierung von Herrschaft in der Form ei­ner bürgerlichen Demokratie ermöglicht es über diese hinaus zu gehen und in der allgemeinen Emanzipation das im Rah­men der Demokratie selbst uneinlösbare Versprechen des Liberalismus einzulö­sen. Der Kommunismus, als Aufhebung des Wertgesetzes und der Befreiung des Einzelnen von Staat und Kapital, ist nicht in der archaischen Konfrontation der Ra­ckets zu erkämpfen, sondern nur über die Zwischenstufe der liberalen Demokratie. Wenn europäische Linke und „Kommu­nistinnen“ also — wie im Irak — vermeint­lich „rebellische“ Rackets gegen die De­mokratie in Stellung bringen, schaufeln sie damit ihr eigenes Grab und werden zum Hindernis ihrer eigenen Ziele. Gera­de im Falle der verschiedenen Despotien des Nahen Ostens ist es deshalb das Ge­bot der Stunde die Entwicklung bürger­licher Demokratien zu unterstützen, auf deren Basis erst der Kampf um allgemei­ne Emanzipation möglich wird.

[1Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: S. 292

[2Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 12: S. 288

[3Pohrt, Wolfgang: Brothers in Crime. Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit. Über die Herkunft von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets und Gangs. 2. Auflage, Berlin, 2000, S. 34

[4Zur Frühgeschichte der Ba’th-Partei in Syrien und im Irak vgl. Hanna Batatu: The Old Social Classes and the Revolutionary Movements of Irak. A Study of Irak’s Old Landed and Commercial Classes and of its Communists, Ba’thists and Free Officers. New Jersey, 1978. S. 722-748

[5Im November 1963 übernimmt, wieder mit Hilfe der Militärs, Abd el-Salam Arif die Macht. Nach dem Tod Arifs wird im April 1966 dessen Bruder Abd el-Rahman Arif Präsident.

[6Kanan Makiya: Republic of Fear. The Politics of Modern Irak. Berkeley/Los Angeles, 1998 (erstmals 1989 unter dem Pseudonym Samir al-Khalil erschienen)

[7Nach dem Sturz Saddams wurden im Irak Dokumente gefunden, die belegen, daß das „Oil for Food“-Programm unter Mitwirkung der verantwortlichen UNO-Abteilung als persönliche Einnahmequelle Saddams sowie seiner Günstlinge mißbraucht wurde. Der US-Rechnungshof schätzte die illegalen Einnahmen auf 4,4 Milliarden Dollar aus Kommissionen und 5,7 Milliarden Dollar aus Schwarzmarkt-Aktivitäten. Saddam Hussein hatte einen Teil der Gelder für die Unterstützung palästinensischer Terrorgruppen ausgegeben. Unter den Begünstigten befanden sich jedoch auch Freunde Jacques Chiracs, der UNO-Exekutivdirektor des Hilfsprogramms Benon Sevan sowie Kojo Annan, der Sohn von UN-Generalsekretär Kofi Annan. Auf einer Liste von EmpfängerInnen von Ölgutscheinen, die Anfang 2004 von der irakischen Zeitung al-Mada veröffentlicht wurde, befanden sich auch zwei Namen aus Österreich: die SPÖ-nahe „Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen“ (GÖAB) und der Innsbrucker Universitätsprofessor Hans Köchler. Auf späteren Listen tauchte dann auch der Name der FPÖ-nahen „Irakisch-Österreichischen Gesellschaft“ auf. Irakisch-Österreichische Gesellschaft und GÖAB schieben sich seither den „Schwarzen Peter“ gegenseitig zu und behaupten Opfer einer Verwechslung geworden zu sein.

[8Tatsächlich geht es dabei eher um den Aufbau von Staatlichkeit, denn von „Nation“. Auch wenn wir den Unterschied zwischen der deutschen und französischen Nationsdefinition mit einkalkulieren, so geht es in diesem Falle auch nicht um die Errichtung einer staatsbürgerlich definierten Nation, sondern primär um den Aufbau von Institutionen, also von Staatlichkeit im engeren Sinne.

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