Café Critique, Jahr 2001
März
2001

Deutscher Geist — en gros und en detail

Über den Judenhaß im deutschen Idealismus – anläßlich des neuen Buchs von Micha Brumlik

Der ’Weg des Irrationalismus’ führe ’von Schelling zu Hitler’ (über Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger) – der der Vernunft aber von Hegel zu Lenin: So hat einst Georg Lukács in seiner Zerstörung der Vernunft die Routen des deutschen Geistes wie auf einer Panoramakarte eingezeichnet. Unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus stellt sich die Entwicklung von vornherein etwas anders dar: In Léon Poliakovs epochemachender Studie zur Geschichte des Antisemitismus (1955-1977) führt eine beinahe alle Geister umfassende Heerstraße von der Philosophie der Aufklärung zu Hitler. Schon bei Kant sieht Poliakov ’die metaphysische Form des Schreis ’Tod den Juden!’’.

’Euthanasie des Judentums’: Kant

Micha Brumliks neues Buch ist die erste differenziertere Darstellung des Problems, soweit es den deutschen Idealismus einschließlich Marx betrifft. Insbesondere das Kapitel über Kant bringt entscheidende Einsichten. Brumlik betont die erstaunliche Nähe dieses kritischen Philosophierens zum Judentum. Und so deutet er Kants Satz, die ’Euthanasie des Judentums’ sei ’die reine moralische Religion’, den Poliakov gerade als metaphysische Form des Schreis ’Tod den Juden’ verstanden hat, ganz anders - trotz des ’Schreckens“, der angesichts der Erfahrung nationalsozialistischer Massenvernichtung von solchen Formulierungen ausgeht und auch ’nicht beruhigt werden kann’: Kant habe damit dem Judentum nicht den Untergang gewünscht, sondern gerade von ihm den Übergang zu jener ’rein moralischen Religion’ erhofft, die er als Perspektive für die Menschheit sehen wollte – den Juden also diesen Übergang eher zugetraut als den Christen.

’Daß er ausgerechnet im Judentum die Möglichkeit der von ihm erstrebten moralischen Religion erkannte, mag’, so Brumlik, ’einer realistischen Einschätzung der Nichtreformierbarkeit des Christentums, aber auch einer besondere Hochachtung seiner jüdischen Freunde und ihres Kampfes um Erneuerung entsprungen sein.’

Es war dies aber auch eine Nähe, die Kant - im Unterschied etwa zu Lessing - unangenehm gewesen sein dürfte, und manche denunziatorische Bemerkung (über Salomon Maimon und andere Juden wie über das Judentum insgesamt) erscheint in diesem Zusammenhang wie ein punktueller Versuch, sich gegenüber nichtjüdischen Freunden und Kollegen, aber auch in der Öffentlichkeit vom Judentum zu distanzieren. In den späten Schriften ist darüber hinaus eine Tendenz zur Substantialisierung des in den vorangegangenen ’Kritiken’ Formalisierten zu beobachten: ’Sämtliche Konkretisierungen der Moral tragen bei Kant repressive Züge’ (Adorno). Und sie betrafen vor allem das Judentum.

Im Unterschied aber zu Fichte, der dann wie besessen alles auf einen Punkt bringen möchte und eine Verschwörungstheorie entwirft, denkt Kant die verschiedenen ‚konkretisierenden‘ Bestimmungen des Jüdischen nicht zusammen, schließt von der einen nicht auf die andere. Der den Juden unterstellte Wuchergeist etwa sei Folge des Exils, die Anfeindung der anderen Völker gehöre jedoch der Zeit davor an, alles bleibt gewissermaßen getrennt wie das ’Ding an sich’ und das Erkenntnisvermögen des Subjekts - und darum resultiert daraus auch keine Handlungsanweisung gegen Juden.

’Antisemitismus der Vernunft’: Fichte und Hegel

Dieser Unterschied ist bei Brumlik aber kaum herausgearbeitet. Fichtes Bedeutung für die Entwicklung des Antisemitismus erscheint insgesamt etwas verharmlosend dargestellt. Hier dienen biographische Hinweise auf den ’korrekten’ Umgang des Philosophen mit einzelnen Juden und seine punktuelle Kritik an anderen Antisemiten nicht nur zur Begründung einer spezifisch ausgeprägten antisemitischen Ideologie, die Brumlik treffend als ’Antisemitismus der Vernunft’ bezeichnet, sie legen auch eine falsche Entlastung nahe. So werden Fichte kritische Äußerungen zu den deutschen Burschenschaften gutgeschrieben, die doch denselben Ursprung haben wie sein Antisemitismus der Vernunft, nämlich das frühe Konzept des ’Volksstaats’ (Ulrich Enderwitz): die ’gleichberechtigte’ Identifikation aller Schichten und Klassen mit dem Souverän.

In seinem Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution nennt Fichte nach dem für ihn ’gefährlichsten’ ’Staat im Staate’, den Juden, zwei weitere Gruppen, die in ähnlicher Weise, wenn auch weniger gefährlich, der Homogenität des Volksstaats entgegenstünden: das Militär, das traditionell vom Adel dominiert wird, und den Adel selbst. ’Alles dieses sind ja Staaten im Staate, die nicht nur ein abgesondertes, sondern ein allen übrigen Bürgern entgegengesetztes Interesse haben’. Darum ist es nur logisch, daß dieser deutsche Jakobiner auch die Burschenschaften mißbilligt, soweit sie zu elitär sind, zu sehr nach ’unten’ hin sich abgrenzen. Fichte aber fordert, daß die Bürger nur ein Interesse, nur eine ’Identität’ haben: den Staat selbst.

Von einer solchen Konzeption wandte sich Hegel entschieden ab. Er distanzierte sich von den ’falschen Brüdern und Freunden des sogenannten Volkes’, denn für ihn ist dieses sogenannte Volk nicht ein ’unmittelbar’ Gegebenes – könne und dürfe darum auch nicht unmittelbar den Staat bestimmen. Überzeugender als im Falle Fichtes führt Brumlik hier vor, wie sich an der Einstellung zu den Juden die Entwicklung einer philosophischen Position ablesen läßt:

In der Frankfurter Zeit scheint Hegel (nach den frühen von Kant geprägten Berner Jahren) zunächst zur Tradition des christlichen Antisemitismus zurückzukehren, wobei sich die judenfeindliche Haltung gefährlich mit rousseauistischem Protest gegen die Zivilisation auflädt. Die spätere, in der Phänomenologie des Geistes erstmals entfaltete teleologische Geschichtsphilosophie, die den Widerspruch in sich aufgenommen hat, erlaubt es Hegel jedoch, das Judentum als eine Stufe des Weltgeistes der Totalität zu integrieren. Es wird auf diese historisierende Weise anerkannt - und zugleich instrumentalisiert, eben so wie der Staat den Juden Bürgerrechte nur dann gibt, wenn er seinen Nutzen davon hat. Für diese Emanzipation der Juden zu Staatsbürgern trat Hegel schließlich mit Engagement ein.

Wenn Schlomo Avineri Hegel zu Recht vorwirft, er habe die ganze völkische Bewegung als etwas bereits Überwundenes hingestellt und darin keine drohende Gefahr für die Zukunft erkannt, dann berührt er allerdings das Grundproblem des ausgereiften Hegelschen Systems, das Brumlik nicht wahrhaben möchte: die falsche teleologische Versöhnung der Gegensätze im und durch den Staat. Es kann also nicht verwundern, daß Brumlik weder die Hegel- noch die Staatskritik des jungen Marx besonders zu schätzen weiß. Schließlich hängt auch seine Unschärfe in der Darstellung von Fichtes Antisemitismus damit zusammen, daß er die Frage der Konstituierung der deutschen Nation aus jenem theologischen Zusammenhang ausklammert, in den er den deutschen Geist gebannt sieht.

’Schmutzig jüdische Erscheinungsweise’: Marx

Kritisiert Marx im langen ersten Teil seines berüchtigten Artikels Zur Judenfrage den Staat als falsche Allgemeinheit, worin das Gattungsleben der Menschen von ihrer besonderen Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft geschieden ist, so kritisiert er im kurzen zweiten Teil die bürgerliche Gesellschaft selbst als Gegensatz zum Gattungsleben - hat aber dafür keine anderen Begriffe als religiöse, als christliche, als antisemitische; verwendet also die Begriffe von Feuerbach und Bruno Bauer einfach weiter: ’Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjektive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz des Menschen aufgehoben ist. Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.’

Die Frage lautet, was unter dem ’empirischen Wesen’ des Judentums - unter dem Schacher und seinen Voraussetzungen - zu verstehen ist, von dem Marx hier spricht. Daß darunter keine Eigenschaft einer Rasse zu begreifen wäre, daß also der Schacher keine jüdische Idee sei, die – wie Fichte sagt - den Juden nur mit ihren Köpfen abgeschlagen werden könnte, darüber lassen Marx’ weitere Studien keinen Zweifel. Abgesehen davon waren bekanntlich die Vorfahren seines Vaters und seiner Mutter seit vielen Generationen Rabbiner, und Marx nahm also offenbar für sich selbst diese Emanzipation vom Judentum in Anspruch, ohne je auf die Idee zu kommen, daß Judentum und Assimilation etwas mit seiner Physis zu tun hätten. Insofern ist die üblich gewordene Gleichsetzung seiner Schrift mit der von rassistischen Antisemiten, der Brumlik kaum widerspricht, ziemlich infam.

Das beginnt bereits bei der Gleichsetzung des jungen Marx mit Bruno Bauer, der später vollständig zum militanten Antisemiten (übrigens auch zum Vorbild von Carl Schmitt) geworden ist: Während Bauer die Emanzipation der Juden als wesentlich problematischer einschätzt als die der Christen und auf diese Weise die Apologie des christlichen Staats heimlich fortsetzt, macht Marx in Bezug auf den Staat und die politische Emanzipation keinerlei Unterschied zwischen Jude und Christ, tritt neben seiner grundsätzlichen Staatskritik zugleich für absolute staatliche Religionsfreiheit ein und rühmt die Fortschrittlichkeit der westlichen Verfassungen gegenüber der christlichen deutschen. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die sich auch im Brief an Arnold Ruge niederschlägt: ’Soeben kömmt der Vorsteher der hiesigen Israeliten zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag und ich will’s tun. So widerlich mir der israelitische Glauben ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt. Es gilt so viele Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, so viel an uns, einzuschmuggeln.’

In den Feuerbach-Thesen verwendet Marx, wie Brumlik hervorhebt, erneut den antisemitischen Begriff vom Judentum: Feuerbach betrachte ’im ’Wesen des Christentums’ nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird.’ Daß es auch eine andere, nicht ’schmutzige’ Erscheinungsform von Praxis gebe, spricht Marx im folgenden Satz aus: Feuerbach begreife ’daher nicht die Bedeutung der ’revolutionären’, der ’praktisch-kritischen’ Tätigkeit.’ Inwiefern gerade sie einen ’jüdischen’ Ursprung haben könnte - darüber verliert Marx allerdings kein Wort. Womöglich mehr als Kant war er bemüht, sich von jedem Zusammenhang mit dem Judentum zu ’reinigen’. Brumlik aber übergeht, daß die Juden bereits in Feuerbachs Denken den schändlichen ’Egoismus’ jener falschen Praxis personifizieren. Und indem er solchermaßen das Wort von der ’schmutzig jüdischen Erscheinungsweise’ aus dem Zusammenhang der Thesen reißt, entgeht ihm gleichermaßen, daß die Kritik an Feuerbach auch dessen Festlegung des ’Egoismus’ auf das Jüdische, die Marx nur übernommen hatte, ins Wanken geraten läßt.

Verwechslungskomödie in der Theorie

Allerdings macht Brumlik auch darauf aufmerksam, daß die Fetischismus-Kritik, die Marx im Kapital entfaltete und an die Stelle des falschen Begriffs von ’Schacher’ und ’Egoismus’ setzte, nicht zuletzt in jenem Bilderverbot der hebräischen Bibel ihr Motiv hat, das offenbar schon Kant zur Kritik der Vernunft anstiften konnte. Tatsächlich ist Marx nur deshalb imstande, die religiösen Personifikationen, die Religion des Alltagslebens und die reale Metaphysik des Kapitals zu durchdringen, weil er diesem Gebot gemäß dachte – wie wenig bewußt oder wie unangenehm ihm dessen Herkunft auch gewesen sein mag. Du sollst dir kein Bild machen vom Kapitalverhältnis, so lautet das Gebot der Kritik politischer Ökonomie und der Grundgedanke negativer Dialektik, wie sie Marx in dieser Kritik entwickelt - Voraussetzung dafür, die Verdinglichungen der politischen Ökonomie und die Fetischisierungen des Alltagsdenkens zu kritisieren und aufzulösen.

Soweit Marx das Kapitalverhältnis weiterhin reflexionslos mit den Bildern vom Judentum einfach illustriert (’der Kapitalist weiß, daß alle Waren ... innerlich beschnittne Juden sind’, heißt es noch im Kapital), verstößt er natürlich gegen das Gebot; soweit er aber religiöse, insbesondere christliche, aber auch ’heidnisch magische’ Formen anführt, um das Bewußtsein als falsches kenntlich zu machen, tut er nichts anderes, als das Gebot selbst einzuklagen. Das Kapital ist voll von Beispielen dafür. Dieses falsche Bewußtsein jedoch als notwendig falsches zu kritisieren, sprengt die Grenzen jeder Religion; es bedeutet, über das Gebot hinaus die Entwicklung des deutschen Idealismus neu aufzurollen: Seine Notwendigkeit kann sich nur ergeben, wenn Hegels alles integrierende und aufeinander beziehende Totalität - und nicht Fichtes alles ausgrenzende und ausmerzende Identität - geltend gemacht wird.

Um diesen Idealismus und jenes Gebot aber zur Kritik zu vereinen, mußte der Hegelschen Dialektik erst einmal die positive, teleologische Spitze abgebrochen werden. Und wirklich ist ja das Bildnis, das sich Hegel vom Geist der Totalität macht, der Staat. Der Durchbruch zur Kritik der politischen Ökonomie fand folgerichtig in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts statt.

Warum also Marx aus dem Zirkel der ’innerlich abgelehnten Tradition’ religiöser Vorstellungen nicht ausgebrochen sei, wie Brumlik behauptet, ist nicht recht einsichtig oder würde zumindest voraussetzen, daß sein Begriff vom Kapital mit der Vorstellung von Gott einfach zusammenfiele. Das tut er jedoch keineswegs – und in diesem Unterschied liegt das ganze Erbe des deutschen Idealismus, das seine Kritik aufgenommen und zur Reflexion ihrer Voraussetzungen gewendet hat. Etwas anderes ist allerdings das Problem, daß der Kritiker der politischen Ökonomie aus dem Zirkel der kritisierten ’realen Metaphysik’ des Kapitals nicht auszubrechen vermag, solange das Kapital selbst existiert, daß er also in der Kritik keine positiven Kategorien, keine anthropologische Substanz, keine Leitlinien einer zukünftigen Gesellschaft, eines säkularisierten Jenseits etc. entwickeln kann. Und soweit Marx das nicht akzeptieren konnte oder wollte, kehrte er zu religiösen Vorstellungen zurück und betete die Arbeiterklasse als Erlöser oder Messias an.

Marx’ Ausbruch aus dem religiösen Zirkel wird aber gerade gegenüber einer philosophischen Richtung deutlich, die Micha Brumlik fast als Alternative beschwört: ’Positiveres über die Juden (...) hatte die Philosophie des Deutschen Idealismus vorher und später nicht zu sagen“, heißt es über zwei Passagen des alten Schelling, worin die Juden als „kosmische Hülle des Zukünftigen“ und als „Vermittlungsvölker“ (direkt und indirekt) bezeichnet werden.

Schelling wiederholt jedoch bloß die Hegelsche Instrumentalisierung des Judentums, nur daß am Ende der Geschichte nicht der Staat, sondern das Reich Gottes steht: ’Die Juden waren aber nur Etwas als die Träger der Zukunft, und das Mittel ward zwecklos, wie die Hülle vom Kern hinweggeweht wird. Das Volk ist sofern ausgeschlossen aus der Geschichte. ... Sie sind vorbehalten dem Reiche Gottes, in das sie zuletzt eingehen sollen. Aber der Tag wird erscheinen, da sie in die göttliche Ökonomie werden aufgenommen werden.’ Da diese „Ökonomie“ aber im Unterschied zum Hegelschen Staat auf der Liquidierung von Vermittlung beruht, ist die Doppeldeutigkeit von gegenwärtigem Ausschluß und zukünftiger Aufnahme so wenig vertrauenerweckend wie der ganze preußisch-deutsche Philosemitismus. Marx hatte so unrecht nicht, als er 1843 schrieb: ’Schellings Philosophie ist die preußische Politik sub specie philosophiae.’

Micha Brumlik meint zwar schlußendlich, daß weder die deutschen Idealisten als die „geistigen Vorläufer des Massenmordes an den europäischen Juden“ zu betrachten seien, noch Marx als „Urheber des sowjetischen Antisemitismus’ gelten könne. Aber er behauptet zugleich ernsthaft, daß Marx’ Judenhaß die ’Haltungen Fichtes und des frühen Hegels bei weitem’ übertroffen habe und bringt Beispiele aus der privaten Korrespondenz – etwa die groteske Darstellung Lassalles als ’jüdischen Nigger’. In deren absichtsvoll stilisierter Übertreibung ist allerdings - wie fragwürdig auch immer - durchaus etwas vom komischen Charakter einer Selbstreflexion enthalten; schließlich schrieb hier einer, der sich selbst gerne mit ’armer Mohr’ anreden ließ. Dennoch erwähnt Brumlik auch, daß Marx in konkreten politischen Auseinandersetzungen sich stets für die Interessen der Juden einsetzte – und das nicht nur, wenn es um taktische Vorteile ging; und bringt sogar das signifikante Detail, daß der alte Marx auf Kur in Karlsbad mit Heinrich Graetz, dem wichtigsten Historiker des Judentums, Freundschaft schloß.

Die komplizierte Situation, daß Marx einerseits der ’israelitische’ Glaube ’widerlich’ war, daß er andererseits aber als Denker aus einem zentralen Gebot dieses Glaubens schöpfte, allerdings vermittelt über den deutschen Idealismus, ist in der Tat schwer aufzuschlüsseln und jedenfalls im Vergleich zu Otto Weininger weniger das Thema für eine Tragödie der Verblendung als für eine Verwechslungskomödie in der Theorie. Während jener Wiener Philosoph jüdischer Herkunft Selbstmord beging, nachdem er behauptet hatte, daß ’der Jude’ kein Ich (im Sinne Fichtes) besitze, kam Marx zu dem Ergebnis, daß es ohnehin nur ein einziges Fichtesches Ich gibt: das ’automatische Subjekt’ des Kapitals.

zuerst erschienen in konkret 3/2001


Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München: Luchterhand 2000. 351 Seiten