Streifzüge, Heft 81
Mai
2021

Die am guten Leben orientierte Sozialität und die nachkapitalistische Vergesellschaftung

Der Kampf von „unten“ gegen „die da oben“ sorgt häufig bestenfalls dafür, negative „Spitzen“ oder Extreme zu verhindern. Das Schlimmste lässt sich im Erfolgsfall unterbinden, das Schlimme bleibt. Hinz geht und Kunz kommt. Oder umgekehrt. Wer dieses Spiel nicht unendlich fortsetzen will, tut gut daran, die horizontale gesellschaftliche Dimension in den Blick zu nehmen.

Wer in der kapitalistischen Marktwirtschaft am Absatz interessiert ist, den kümmert nur sehr bedingt, wie die Produkte sich auf die Entwicklung eines guten Lebens auswirken. An dieser Ausblendung nehmen mittlerweile viele Anstoß. Sie stören sich z. B. daran, dass sie eine Landwirtschaft betreiben sollen, die bekömmlichen natürlichen Lebensbedingungen, der Gesundheit und dem Klima schadet. Manche im Gesundheitswesen Tätige halten es mit ihrem professionelles Verständnis für unverträglich, wie das Gesundheitswesen organisiert ist. Sie stört, dass die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheiten nicht gesellschaftlich angegangen werden. Es handelt sich u. a. um Arbeitsbelastungen, Widersprüche der Handlungsanforderungen, Überlastung der Individuen und gesundheitsabträgliche Stoffe. Die Arbeitenden, die ihren arbeitsinhaltlichen Bedürfnissen nachgehen und ihrem professionellen Ethos folgen, können dadurch in einen Gegensatz zu den Formen und Strukturen der kapitalistischen Marktwirtschaft geraten. Qualifikationen und Reflexionsvermögen haben sich herausgebildet, die es den Arbeitenden ermöglichen zu sagen: Ausgehend von dem, was wir gelernt haben und was wir können, sind wir imstande, mit unseren Arbeiten und Tätigkeiten uns sinnvoller auf die Adressaten der Arbeit zu beziehen, als dies unter den Imperativen einer modernen kapitalistischen Gesellschaft möglich ist. Die französischen SUD-Gewerkschaften haben das politisch artikuliert (vgl. Imhof 2002).

Einer Minderheit wird deutlich: „Die Arbeit ‚gut’ machen zu wollen und in ihr einen intersubjektiv teilbaren Sinn zu sehen (statt einzig ein Mittel zur Einkommenserzielung)“ (Thielemann 2010, 347) heißt, sich nicht allein am strategischen Handeln zu orientieren. „Sie wollen für die Abnehmer der Leistungen […] eine nach den Maßstäben der jeweiligen Profession ‚gute’ Leistung […] erbringen, was nicht einfach heißt, sich opportunistisch an manifeste Kundenwünsche anzupassen und noch weniger, im Kunden bloß die Kaufkraft zu erblicken“ (Ebd., 348). Egozentrischen arbeitsinhaltlichen Bedürfnissen hingegen entspricht die Maxime „Ich möchte in der Arbeit mein Ding machen“. Der Arbeitende strebt in diesem Fall auf eine solche Weise nach der ihn befriedigende Betätigung, dass die sozialen Kontexte ihm dabei aus dem Blick geraten. Inwieweit z. B. die „schöne Technik“ für andere Mitglieder des Betriebs von Nachteil ist, interessiert den allein auf sie fokussierten Ingenieur nicht.

Konsumenten interessieren sich in der Marktwirtschaft vorrangig für preiswerte Produkte und nicht dafür, wie es den Arbeitenden in der Arbeit bzw. im Arbeiten ergeht. Diese Ausblendung wird in Bezug auf ihre schlimmsten Extreme infrage gestellt durch ein sich ausbreitendes Bewusstsein über Niedriglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen z. B. in Textilfabriken in Asien. (Vgl. a. die Auseinandersetzungen um das Lieferkettengesetz.) Einer sich langsam vergrößernden Minderheit von Konsumenten wird deutlich, dass bei Dumpingpreisen z. B. landwirtschaftliche Produkte nicht von guter Qualität sein können. Auf der Seite der Verbraucher finden wir Ansätze dazu, die Gleichgültigkeit zwischen Produzenten und Konsumenten infrage zu stellen. Laut Schätzung von Verbraucherzentralen gehören 10-20% der Bevölkerung zu wertorientierten Konsumenten. Sie interessieren sich nicht nur für das unmittelbare Konsumgut, sondern auch für die sozialen und ökologischen Kontexte des Arbeitens und Konsumierens. Zudem kann ein Bewusstsein davon entstehen, dass der Konsum dem Individuum nicht geben kann, was ihm eine sinnarme, von Konkurrenz und Leistungsstress geprägte Arbeit nimmt. Die gewerkschaftlichen Kampagnen für „gute Arbeit“ bringen auf bislang recht beschränkte Weise Bedürfnisse nach einem positiven Beitrag des Arbeitens zur Lebensqualität des Arbeitenden und nach der eigenen Beteiligung an Entscheidungen zum Ausdruck.

Die Produkte der Lebensmittelindustrie und der Landwirtschaft sind Thema einer breiten kritischen Öffentlichkeit. „Wir wollen es eigentlich nur ganz normal: Fleisch ohne Antibiotika und Stresshormone, Gemüse ohne Pestizide, Getränke ohne einen Haufen von Zucker“ heißt es in der Sendung „Die Abendshow“ (Radio Berlin Brandenburg 25.10.2018). Hinzu kommt die Infragestellung der Produktion von Gütern mit eingebautem künstlichem Verschleiß. Am Autoverkehr wird deutlich, dass die Maxime der Marktwirtschaft – wenn jeder sich an seinem Vorteil orientiert, ist allen am meisten gedient (Adam Smith) – nicht funktioniert. Der Verkehrsinfarkt und die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die „autogerechte Stadt“ bilden ein Beispiel. Angesichts dessen wächst die Aufmerksamkeit für die nachteiligen Wirkungen der Verallgemeinerung von manchem isoliert als harmlos erscheinendem individuellen Verhalten („Zusammensetzungsfehlschluss“). Vom Engagement für mehr und besseren Öffentlichen Personen„nah“verkehr lässt sich übergehen zum Votum für gesamtgesellschaftliche Entscheidungen – z. B. über das Verhältnis zwischen privater Autonutzung und öffentlichem Verkehrswesen. Dessen schlechte Qualität im ländlichen Raum ist eine Ursache dafür, dass viele auf das Auto angewiesen bleiben. Das Beispiel der Schweiz zeigt, wie viel sich zum Positiven verändern lässt, wenn es keine einheimische Autoindustrie gibt.

Debatten um das Geschlechterverhältnis, die „kinderlose Gesellschaft“ und das „Abschieben der Senioren“ setzen die Care-Tätigkeiten auf die Tagesordnung. Zum Thema wird die in der Logik der Profitwirtschaft unvermeidliche „Minderwertigkeit“ (wg. Unprofitabilität) des Sich-Kümmerns um Kinder oder Senioren. Auch aus Nachhaltigkeits-Motiven wird deutlich, dass die Gestaltung des Arbeitens, der Produkte und des Konsums nicht letztlich den Eigendynamiken der Marktwirtschaft unterworfen bleiben darf. Eine neue Dimension, die Wirtschaftsaktivitäten zu messen, gelangt in den Blick. Nicht nur an ökologischen, sondern auch an anderen für die Menschen wichtigen Qualitäten wird zunehmend deutlich: Sie lassen sich im für die Marktwirtschaft zentralen Preismedium nicht hinreichend darstellen. Es ermöglicht nur unterkomplexe Informationskonzentrate.

Neue Sozialität

Ansätze einer neuen Sozialität entstehen, die sich kritisch zur kapitalistischen Marktwirtschaft stellt. An vielen Stellen bahnen sich neue Verbindungen zwischen Arbeitenden, Konsumierenden und von Arbeit und Konsum indirekt Betroffenen an. Dies findet bspw. im Bündnis zwischen umweltbewussten Bauern und ernährungsbewussten Konsumenten statt oder im Engagement gegen den Abbau von Krankenhäusern, deren Privatisierung und die Fallpauschalenregelung (vgl. https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de). Mannigfaltige konkrete Rückmeldungen entstehen zu den Auswirkungen des Arbeitens auf die Lebensqualität, zu Effekten der Produkte auf die Lebensweise, zu ökologischen Interdependenzen usw. Bereits heute entwickelt sich in sozialen Bewegungen und Teilen der Öffentlichkeit ein umfangreiches und tiefes Bewusstsein für die direkten und indirekten Wechselwirkungen.

Immer mehr Menschen wird deutlich, dass die Qualität ihrer Lebensweise nicht nur von ihren unmittelbaren, sondern auch von vermittelten Sozialbeziehungen abhängt. Auch Kinderlosen ist daran gelegen, dass Kinder und Jugendliche auf eine gute Weise heranwachsen und erzogen werden. Eltern, Erzieher und Lehrer werden zum Repräsentanten oder Treuhänder dieses Anliegens. Ein anderes Beispiel sind Pflegekräfte, Ärzte und Physiotherapeuten als Repräsentanten von Wissen und Kompetenzen, die das Thema Gesundheit betreffen. In der in Divergenz zur kapitalistischen Marktwirtschaft sich herausbildenden neuen Sozialität zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Bereichen ist „Repräsentation“ zu verstehen „in dem Sinne, wie jede Funktion repräsentativ ist, wie z.B. der Schuster, insofern er ein soziales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist“ (MEW 1, 325). „Wer in mir repräsentiert ist, hat Sitz und Stimme in mir. […] Wer nicht in mir repräsentiert ist, hat weder Sitz noch Stimme in mir. Es mag zwar sein, dass ich ihn wahrnehme, wenn er vor mir steht. Aber im übrigen existiert er für mich nicht“ (Suhr 1975, 292).

Werden die konkreten Verknüpfungen bestimmter, für die Menschen zentraler Qualitäten der Produktions- und Reproduktionsprozesse zum öffentlichen Thema, so erfordert das institutionell eine Wissensinfrastruktur der Produktlinienanalysen, Technikfolgenabschätzungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen. Sie vergegenwärtigen die mit den Arbeiten und Arbeitsprodukten verbundenen Effekte, Voraussetzungen und Rückkoppelungen. Die Aktivitäten von Betrieben und Organisationen werden an qualitativen Indikatoren gemessen. Für letztere stehen z. B. das MIPS (Material-Intensität pro Serviceeinheit), der DGB-Index „gute Arbeit“ oder der Human-Development-Index. Diskutiert werden „Konzepte eines ‚nicht-finanziellen’ bzw. sozialökologischen Rechnungswesens“ bzw. „mehrdimensionale Erfolgskonzepte“ (Pfriem 2011, 188). Gemeinwohlbilanzen bilden dafür ein Beispiel. Es handelt sich um eine grundlegende Transformation. Nicht länger bleiben Belange wie die Lebensqualität im Arbeiten und die ökologisch intakte Umwelt „einer auf Wettbewerbsfähigkeit verkürzten Überlebenssicherung“ (ebd., 185) der Betriebe untergeordnet. Bilanziert wird nicht allein die Effizienz des Betriebs oder der Organisation, sondern ihr Beitrag zum guten Leben. Es existieren bereits Organisationen, die wirtschaftliche Aktivitäten beobachten – z. B. die „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ und foodwatch. Eine Institution für die Regulierung der öffentlichen Unternehmen wird nicht wie die Behörden in den früheren Ostblockstaaten Produktionsziele festlegen und Produktionsmaterial verteilen, „sondern bestimmte demokratisch festgelegte Normen für die Nutzung öffentlicher Anlagen durchsetzen. […] Der Regulator der öffentlichen Unternehmen würde im Namen der Gemeinschaft die Eigentumsrechte an den Unternehmen ausüben, während die Unternehmensangestellten auf Nutzerrechte beschränkt wären” (Elson 1990, 89f.).

Die horizontale Dimension

Die Frage, wie moderne Gesellschaften (im Unterschied zu Gemeinschaften) ohne Märkte auskommen können, bleibt umstritten (vgl. Creydt 2019, Kapitel 4). Was ist erforderlich dafür, dass „die vermittelnde Bewegung der austauschenden Menschen“ nicht länger besteht im „abstrakten Verhältnis des Privateigentums zum Privateigentum, und dies abstrakte Verhältnis ist der Wert“ (MEW-Erg.bd.1, 446f.)? Wird diese „vermittelnde Tätigkeit selbst entäußert“ (z. B. an die Entwicklung von Preisen und Profitraten), missraten „die Beziehung der Sachen“ und „die menschliche Operation mit denselben […] zur Operation eines Wesens außer dem Menschen und über dem Menschen“ (Ebd.). Die Menschen gestalten in der Marktwirtschaft nicht bewusst gemeinsam ihre Lebensweise, wenn sie Produkte herstellen oder erwerben. Als entscheidend erweisen sich die Imperative und Eigendynamiken der Märkte und der Kapitalverwertung.

Viele blenden notorisch aus, dass Arbeit und Kapital der Verselbständigung des abstrakten Reichtums gegen alle Akteure unterworfen bleiben. Die Diagnose, der zufolge Eliten mehr Macht haben als die „kleinen Leute“, sagt etwas aus über einen Vergleich, der zwischen zwei Gruppen angestellt wird. Ein solcher Vergleich sagt nichts aus über das, was „Macht“ in der Gesellschaft ist. Die Macht von Unternehmern und Managern verdankt sich nur sekundär Machtvorteilen, die sie gegenüber anderen Gruppen haben. Sie resultiert primär aus Prozessen, die auf einer anderen „Ebene“ zu verorten sind. Bereits im Modell der Marktwirtschaft, die noch keinen Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital enthält, ist die Verselbständigung des abstrakten Reichtums angelegt, die dann auch zu diesem Gegensatz führt (vgl. dazu Creydt 2000, Teil 2).

Die Verselbständigung des (insofern auch „abstrakt“ genannten) Reichtums (Geld, Kapital) nicht nur von, sondern gegen die Individuen lässt sich nicht in einer unten/oben-Schlachtordnung überwinden. Die Bedingung dafür, dass es zu dieser Verselbständigung kommt, liegt in den für die Marktwirtschaft charakteristischen Abkapselungen, Gegensätzen und Ausblendungen. Sie betreffen die Isolation der Marktakteure voneinander und ihre Gleichgültigkeit zueinander,die Interessengegensätze zwischen Produzenten und Konsumenten sowie zwischen beiden und den mittelbar von den problematischen Folgen von Produktion und Konsumtion Betroffenen,die Dominanz der Nachfrage der vereinzelten Einzelnen nach individuell Erwerbbarem zulasten der kollektiven Nachfrage nach Kollektiv- oder Gemeingütern. „Wahlmöglichkeit im Kleinen garantiert keine Wahlmöglichkeit im Großen” (Elson 1990, 75). Auf Märkten lautet die Frage an jeden Einzelnen: „Welches Auto willst Du kaufen?“ und nicht „Wollen alle, dass dem Pkw-Verkehr gesellschaftlich ein hoher Stellenwert zukommt und dass die Städte zu autogerechten Städten werden?“enge Grenzen des jeweiligen individuellen sozialen Raums infolge von Privateigentum inklusive gegenseitigem Ausschluss,die Konkurrenz,die Ausblendung von in Preisen nicht darstellbaren Quantitäten und Qualitäten.

Ebenso wie der Tauschwert über den Gebrauchswert gewinnt auch das Kapital die Oberhand über die Lohnarbeit. Diese Macht ist nicht direkt als Macht anzugreifen, sondern gründet auf der marktwirtschaftlichen Vergesellschaftung hinter dem Rücken der Menschen. Eine Stärke der Marx’schen Kapitalismusanalyse besteht darin, herrschafts- und machttheoretische Naivitäten zu vermeiden. Der Hauptaugenmerk liegt nicht darauf, das ‚oben’ von ‚unten’ zu bekämpfen, sondern die Voraussetzungen von ‚oben’ und ‚unten’ in den Blick geraten zu lassen: Bedingungen, die gerade nicht in dieser vertikalen Dimension zu suchen sind, sondern in der horizontalen Dimension der Vergesellschaftung, wie sie bereits mit der Marktwirtschaft zum Problem werden. Deren Abstraktionen führen zu Verselbständigungen (aus Geld wird Kapital) und diese wiederum auch zu ‚unten’ und ‚oben’. Der Stellungskrieg von „unten“ gegen „oben“ ist pragmatisch nötig, bleibt aber Nothilfe und führt nicht zu einer neuen gesellschaftlichen Synthesis. In ihr geht es darum, Arbeit, Technik, Konsum, Care-Tätigkeiten u. a. sinnvoll aufeinander zu beziehen. Dafür müssen die direkten und vor allem indirekten Wirkungen und Voraussetzungen deutlich werden und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Wir wollen nicht mehr „menschliche Sozialität aus dem Felde ökonomischer Primärplanung ausblenden und dann dem Sekundärplaner Staat als Folgenbearbeiter zuweisen.“ Wir wollen nicht länger „die Wirtschaft als das Erscheinungsfeld privater Interessen definieren und menschliche Sozialität als einen aufgezwungenen Rahmen, der von außen um das Feld antisozialer Verhaltensweisen herumgelegt wird, begreifen. Die Sozialität, die wir brauchen, um die gemeinsamen Probleme gemeinsam zu lösen, muss von innen aus dem individuellen Menschen kommen und muss durch die Strukturen des Arbeitens und des Produzierens Stützung erfahren“ (Heyder 1994, 102).

Gutes Leben

Wer die anstrebenswerte Sozialität definiert als das tätige Interesse an der Entwicklung anderer Menschen (Heyder 2004, 58), der ist damit über die Orientierung an Gerechtigkeit als „Gleichgewicht der Egoismen“ (Heyder 1994, 126) hinaus. Diese Sozialität unterscheidet sich von Altruismus und christlicher Nächstenliebe. Letztere bezieht sich als „abgeleitete Liebe“ auf die anderen Personen umwillen des eigenen Seelenheils bzw. des eigenen guten Verhältnisses zu Gott (vgl. Feuerbach 1978, 215, 251f., 387, 393, 398). „Das Wachstum des Wertes liegt immer auf Seiten des Liebenden, nicht auf Seiten dessen, dem geholfen wird“ (Scheler 1978, 44-46). Die am guten Leben orientierte Sozialität unterscheidet sich vom Helfersyndrom. Sie entsteht aus einer bestimmten Verarbeitung von Erfahrungen. Sie setzt die Annehmlichkeiten bzw. Stärken der Marktwirtschaft ins Verhältnis sowohl zu den von ihr verursachten materiellen Fehlentwicklungen als auch zu ihren menschlichen „Kosten“. Letztere resultieren aus dem gegenseitigen Ausschluss infolge von Privateigentum, aus dem Zwang zum Einzelkämpfertum, aus ständiger Sorge infolge der Unabsehbarkeiten der Märkte und aus der Konkurrenz (inklusive ihrer subjektiven Folgen: Unzulänglichkeits- und Minderwertigkeitsgefühle, Geltungsbedürfnis, Neid, Distinktion). Der Output und die Wahlmöglichkeiten der Marktwirtschaft sind ihren Preis an Auspowerung, charakterlicher Fehlentwicklung und Neurotizismus nicht wert. (Eine dieses Urteil näher begründende Analyse des Zusammenhangs zwischen Ökonomie, Lebensweise und Psyche in der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Wirtschaft sowie die Darstellung, wie die verschiedenen Dimensionen des guten Lebens spannungsreich zusammenwirken, findet sich in Creydt 2017.)

Die Entwicklung der beschriebenen neuen Sozialität und ihrer Institutionen bildet ein zentrales Problem für die Transformation hin zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft. „Gegner des Systems sind hoffnungslos unterlegen – und zwar nicht deshalb, weil sie im Kampf unterliegen würden, sondern deshalb, weil sie keine entsprechenden Organisationsleistungen aufbringen können“, um eine neue gesellschaftliche Synthese zu gestalten und zu regulieren. „Bestenfalls können sie Nachfolger werden – im System!“ (Luhmann 1972, 107). So war es bisher. Diejenigen, die die Vorstellung einer eindimensionalen Gesellschaft kultivieren, wissen es nicht besser. Sie kennen weder Widersprüche in der Gesellschaft, aus denen Kräfte entstehen können, welche das ändern, noch ein nachkapitalistisches und nachbürgerliches Leitbild von Sozialität, gesellschaftlicher Praxis und gutem Leben. Wir schon.

Literatur:

  • Creydt, Meinhard 2000: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankfurt M.
  • Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
  • Creydt, Meinhard 2019: Was kommt nach dem Kapitalismus? Berlin (Broschüre, 54 S., hg. von Helle Panke/Rosa Luxemburg Stiftung Berlin)
  • Elson, Diane 1990: Markt-Sozialismus oder Sozialisierung des Markts. In: Prokla, Jg. 20, Nr. 78
  • Feuerbach, Ludwig 1978: Das Wesen des Christentums. Stuttgart
  • Heyder, Ulrich 1994: Reformperspektiven für die Industriegesellschaft. Chur
  • Heyder, Ulrich 2004: Agenda 2010. In: perspektiven des demokratischen sozialismus. 21. Jg., H. 2
  • Imhof, Werner 2002: „Un syndicalisme différent“. In: express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, H. 4 http://www.labournet.de/express/index.html
  • Luhmann, Niklas 1972: Systemtheoretische Ansätze zur Analyse von Macht. In: R. Kurzrock (Hg.): Systemtheorie. Berlin
  • Pfriem, Reinhard 2011: Eine neue Theorie der Unternehmung für eine neue Gesellschaft. Marburg
  • Scheler, Max 1978: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. Frankfurt M.
  • Suhr, Dieter 1975: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung. Berlin
  • Thielemann, Ulrich 2010: Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Marburg
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