Die Demokratie vor sich selbst retten
Die Bilder von misshandelten und gefolterten irakischen Gefangenen, die Fingerabdrücke, die ab Herbst bei der Einreise in die USA genommen werden, aber auch die zunehmende Überwachung in der EU zeigen vor allem, dass die parlamentarische Demokratie durch die militärische Verteidigung ihrer Errungenschaften sich selbst gefährdet und vor sich selbst zu retten ist.
Naiv ist es nicht nur mit der europäischen Friedensbewegung zu glauben, man könne faschistischer oder radikalislamistischer Barbarei durch Friedensgebete, Schweigemärsche oder Friedensdemonstrationen begegnen. Spätestens seit der viel zu spät erfolgten militärischen Beendigung des Mordens der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie sollte jedeR wissen, dass manchmal nur militärische Gewalt eine noch viel barbarischere Gewalt beenden kann. Genauso naiv ist jedoch zu glauben, die Logik militärischer Gewalt würde nicht auch auf jene zurückwirken, die diese zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie anwenden. Die bürgerliche Demokratie trägt — wie die Aufklärung, aus der sie hervorgegangen ist — immer auch schon den Kern ihrer Abschaffung in sich. Sie ist das unerfüllte und das in der bürgerlichen Demokratie unerfüllbare Heilsversprechen des Liberalismus, das sich erst in der befreiten Gesellschaft, im Kommunismus erfüllen kann. Deshalb ist sie immer wieder gegen sich selbst zu beschützen, vor sich selbst und ihrer eigenen inneren Logik zu retten.
Die Ereignisse seit dem 11. September sind insofern nur ein Beispiel für jene Entwicklung, die den demokratischen Rechtsstaat durch seine Verteidigung selbst gefährdet. Dies heißt nicht, dass es nicht notwendig wäre jenes Maß an Freiheit, das durch die bürgerliche Demokratie in den USA und Europa garantiert wird, nicht auch militärisch gegen die GegnerInnen dieser Freiheit zu verteidigen, sie muss allerdings auch gegen sich selbst verteidigt werden.
In den USA selbst ist es seit dem 11. September 2001 zu einem eklatanten Abbau bürgerlicher Freiheiten und mit dem Homeland Security Act zu einem bedeutenden Ausbau des Überwachungsstaates gekommen. Allein, dies ist kein spezifisch US-amerikanisches Phänomen. Ähnlich reagierten die Innenminister der EU auf den Terrorangriff am 11. März 2004 in Madrid. Während die neue spanische Regierung genau so reagierte, wie es al-Qaida von ihr erwartete und den Rückzug ihrer Truppen aus dem Irak anordnete, wird zugleich die Repression und Überwachung innerhalb der EU verstärkt. Der Abbau von BürgerInnenrechten und der Ausbau des Überwachungsstaates in Zeiten des Terrors ist also keineswegs ein US-amerikanisches Phänomen, sondern liegt in der ureigensten Logik der bürgerlichen Demokratie, deren Freiheit eben immer nur ein präkerer Zwischenstatus aus staatlicher Herrschaft und den im Rahmen des Kapitalismus uneinlösbaren Versprechungen der Aufklärung darstellt.
Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung. Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annuliert. [1]
Die repressiven Zustände in den rechtsfreien Gefangenenlagern auf Guantanamo, die (auch rassistisch motivierten) Folterungen im Irak oder die Zustände in den Gefängnissen Afghanistans werden durch die Tatsache, dass sie der Verteidigung der Demokratie gegen die gihadistische Barbarei dienen, nicht weniger skandalös. Als „Argument“ für antiamerikanisches Ressentiment und europäische Selbstgerechtigkeit sind sie jedoch nicht weniger zynisch und verschleiernd. Vielmehr dient der Hinweis auf die Verfehlungen US-amerikanischer Politik im „alten Europa“ meist nur der Ablenkung vom Abbau von Bürgerrechten in Europa selbst.
Eine Kritik, die es nicht schafft die Demokratie vor ihren FeindInnen und vor sich selbst zu verteidigen und zugleich über ihre Begrenztheit zu wissen, kann weder gegen die neue Barbarei kämpfen, komme sie nun in Form religiöser Fanatismen oder politischer Religionen daher, noch sich einen Begriff einer umfassenden Befreiung machen, die zwar erst auf der Basis einer liberalen Demokratie erkämpfbar ist, aber zugleich die Überwindung derselben darstellt.
[1] Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Band 3, S. 14f.
