Internationale Situationniste, Numéro 11
 
1977

Die elsässische Ideologie

Die zu Tausenden aufgehäuften Zeilen, die die Garnault-Anhänger in den etwa 30 nach ihrem Ausschluss veröffentlichten Rundschreiben und Flugblättern aufgeschrieben und mit schlagenden Behauptungen gespickt haben, die sie heimlich aus den früheren situationistischen Veröffentlichungen herausgenommen haben und die im jetzigen Zusammenhang vollkommen unpassend waren, haben immer ein einziges Ziel verfolgt — und zwar diese kleine, einfache, triviale, direkte und brutale Tatsache mit einem Rauchschleier zu verdecken, dass Frey, Garnault und Hall wegen Lügen ausgeschlossen wurden. Eine gemeinsame Lüge mit dem Ziel, Khayatis Ausschluss zu erzwingen, indem sie bis zur letzten Minute versuchten, diesen „Erfolg“ zu erkämpfen, wobei sie bis zum Ende ihr Möglichstes getan haben, um eine S.I.-Versammlung zu überzeugen, die sie schon seit Stunden immer deutlicher als Verdächtige behandelte.

Außer einem Protokoll des Ausschlusses, das sofort an alle bei dieser Versammlung abwesenden S.I.-Mitglieder und an nur vier Außenstehende, zu dieser Zeit an einer praktischen Aktion mit uns teilnehmende Personen geschickt wurde (von denen nur Vayr-Piova lieber nichts verstand) — außer diesem Protokoll haben wir nur einen einzigen Text — Achtung! Drei Provokateure — veröffentlicht, der ausreichend und endgültig war. In ihren vielen Dokumenten haben die Garnault-Anhänger nicht einmal daran gedacht, dass es nützlich sei (denn darauf kam es ihnen selbstverständlich nicht mehr an), ein für allemal diese wirklich ausreichende Hauptanschuldigung zurückzuweisen. Sie haben nicht gespürt, wie dieses Schweigen für jede nicht voreingenommene Person entschied. Sie haben laviert, andere Unwahrheiten behauptet, über andere Dinge geredet und den Kernpunkt nur mit schamhafter Verlegenheit angedeutet: „Khayati lügt: er berichtet ungenau über Einzelheiten und wenn er auch diese Einzelheiten ‚genau‘ wiedergegeben hätte, so hätte er trotzdem über die gesamte Situation die Unwahrheit gesagt …“ (vgl. das Flugblatt der Garnault-Anhänger vom 19. Januar). Bewundernswert ist das halbe Zugeständnis des „und wenn er auch“. Genau das war eigentlich passiert und die „Einzelheit“ ist tatsächlich so dick wie das, was ihnen fehlt.

Durch das schnelle Durchschauen der Lüge wurde ihre Tendenz zur ideologischen Umkehrung der Wirklichkeit, die sie zur verschwörerischen Lüge geführt hatte, bis zum Äußersten getrieben: es machte sie zu einer Notwendigkeit. Von nun an kann keine Ungeheuerlichkeit ihre Suche nach dem verkehrten Sinn mehr bremsen. Sie haben das S.I.-Flugblatt ein „Bullenwerk“ genannt, indem ihr recht klassisches Polizeiverfahren der Stellung falscher Zeugen denunziert wurde, um nach gutem, alten Brauch des „Tascherau-Dokuments“ einen lästigen Gegner zu entehren und beseitigen zu lassen. Sie haben bei Hegel Schutz gesucht, um das „sogenannte psychologische Denken“ zu verurteilen, das durch kleine Erklärungen aus der privaten Sphäre die „großen historischen Figuren“ herabsetzen möchte. Damit setzen sie mit schlagender Naivität voraus, dass sie diese historischen Männer sind. Sie meinen also, dass sie „etwas Großes, weder Imaginäres noch Vermeintliches, sondern Richtiges und Notwendiges gewollt und vollendet“ haben. Diese Helden vergessen nur, dass alles, was sie je selbst gewollt oder aber vollendet haben, der Erfolg einer genauso kleinen wie sinnlosen Fälschung war; dass wir gerade deswegen Genaueres über ihr psychologisches Elend vorgebracht haben, weil wir die merkwürdige Kleinlichkeit ihrer Tat erklären mussten. Sie haben die Mehrheit, die sie von sich wies — sie bestand eigentlich aus allen, die nicht zu ihrer so entdeckten Fraktion gehörten — einer Diktatur Debords und dessen fanatischer Anhänger zugeschrieben. Sie haben diese persönliche Macht innerhalb der S.I. erfunden, um auf sie die Dialektik von Herr und Sklave anzuwenden. Sie glauben, sie seien Sklaven gewesen, die Guy Debords Zielen gedient hätten und dadurch bestimmt, zu Herren zu werden. Für eine solche „Aufhebung der S.I.“ haben sie jedoch, wie immer, das Wesentliche ignoriert. Vielleicht waren sie ja Sklaven — aus persönlichem Geschmack: das wussten wir nicht. In diesem Fall waren sie aber sicher Sklaven, die nicht arbeiteten. Keiner konnte also ihr Werk zum eigenen Nutzen entfremden, da es gar nicht vorhanden war, und sie konnten keine Macht aus der praktischen Funktion gewinnen, der sie hätten unterworfen sein müssen, da sie keine besaßen. Gerade aus deren Nicht-Beteiligung an der gemeinsamen Tätigkeit der S.I. und der Hartnäckigkeit bei einem provinzlerischen, aus behaglichen Spekulationen bestehenden „Studenten“leben — übrigens trotz ihrer Verpflichtungen — zu beharren, entstand ihre Unterlegenheit und ihr kontemplatives Wissen über die S.I. Normalerweise verwandelte sich diese bewundernde Betrachtung in Groll. Ihrer geheim gebildeten Fraktion lag das Thema der in der S.I. herzustellenden Gleichheit zugrunde und diese Ideologen der reinen Gleichheit waren verblendet genug, um nicht einzusehen, dass ihre Bildung als geheime Fraktion — noch bevor sie sich mit organisierter Verleumdung befassten — sie über die gesamte S.I. stellte und die erste objektive Ungleichheit darstellte, die in den Beziehungen zwischen Situationisten hergestellt und institutionalisiert wurde.

Frey, l’idéologue de l’égalité, exclu le 15 janvier pour mensonge ; depuis auteur de « L’Unique et sa Propriété ».
« L’égalité est l’identité abstraite de l’entendement sur laquelle la pensée réfléchissante, et avec elle la médiocrité de l’esprit, se bute lorsqu’elle rencontre la relation de l’unité à une différence. Ici l’égalité ne pourrait être que l’égalité des personnes abstraites comme telles et justement tout ce qui concerne la possession, ce territoire de l’inégalité, tombe en dehors de la personne abstraite. »
Hegel.
Principes de la Philosophie du Droit.

« Maintenant, dans le fait d’avoir seulement voulu, ou encore de ne pas avoir pu, la chose même a la signification du but vide et de l’unité pensée du vouloir et de l’accomplir. La consolation de la faillite du but, consistant à avoir cependant voulu, ou à s’être purement agité, autant que la satisfaction d’avoir donné aux autres quelque chose à faire, élèvent à l’essence la pure opération ou l’œuvre tout à fait mauvaise, car il faut bien nommer mauvaise une œuvre qui n’est aucune œuvre. »
Hegel.
Phénoménologie de l’Esprit.

Sobald die S.I. die Garnault-Anhänger durchschaut und als solche behandelt hatte, wurde die Ideologie der reinen Gleichheit von diesen laut proklamiert und dazu benutzt, einige Studenten zusammenzubringen, die sie selbst nicht zu Unrecht noch am Tag zuvor verachtet hatten. In einigen Wochen wurde in Strassburg mit einer Wut und einem Extremismus gleichgemacht, denen gegenüber die Forderungen der historischen Gleichmacher, der Milleniumträumer und Babeuf-Anhänger bloße Kinderspiele zu sein schienen. Es wurde öffentlich bekanntgegeben, dass es der Fehler der S.I.. gewesen war, nur eine Avantgarde zu sein und dass es eine Avantgarde nur wegen des Rückstands einiger anderer geben kann; folglich, dass der Rückstand von Garnault abgeschafft worden sei und dass jetzt „eine revolutionäre Organisation“ nötig sei, „die imstande ist, in großem Maßstab auf Weltebene zu handeln“ (vgl. Der Einzige und sein Eigentum). Dass man folglich diese Organisation geworden sei. Mit einem Federstrich stand das Weltproletariat da, gerade wie ein einziger Mensch aus den verschiedenen Stufen seines Rückstands entstiegen und Garnault oder sonstwem in Bewusstsein und Fähigkeiten genau gleich. Darin bestand die in ihrer Position so wünschenswerte Aufhebung der S.I. Natürlich hatte das alles im reinen Denken stattgefunden.

Das Produkt dieser „Begeisterung, die wie ein Pistolenschuss unmittelbar mit dem absoluten Wissen beginnt“ (Hegel) trat am 13. April 1967 vor dem verblendeten Staunen der Welt hervor, die so etwas so bald nicht wieder erlebt. Damals hat „die revolutionäre Organisation, die imstande ist, in großem Maßstab auf Weltebene zu handeln“ den Himmel (der strassburger Sektion) der MNEF gestürmt. Obwohl sie bei diesem Wahlepos eine Niederlage erlitten hat, hinterlässt sie die ruhmreiche Erinnerung an ihre totale Praxis à la Garnault (keinen wird es also wundern, wenn unsere Ideologen dann bei der S.I. die übertriebene Forderung nach Kohärenz verurteilen zwischen dem, was man sagt, und dem, was man tut).

Das höchste Erzeugnis der elsässischen Ideologie ist in der Broschüre Der Einzige und sein Eigentum abgedruckt. Hier ist Debord als Neid- und Hassobjekt an die Stelle von Khayati getreten. Die totale Inkohärenz auf der Ebene des Textes selbst lässt sich durch folgende Schlussfolgerung zusammenfassen: die Theorie der S.I. hatte viele gute Eigenschaften. Nur einen großen Fehler hatte sie leider an sich — sie war „debordistisch“. Sie war also nichts wert, nicht einmal als Theorie. Denn nur die Praxis … (siehe oben).

Um diesen Jux zu unterstützen — nach dem Debord allein immer alles geleitet und gemacht haben soll — müssen die dümmsten Verfahren mit mehr als zehn offensichtlichen Lügen herhalten: so z.B. die Meinung, es hätte nie Oppositionen innerhalb der S.I. gegeben, während unsere Garnault-Anhänger ganz im Gegenteil die erste dieser Oppositionen gewesen sind, die feige geheim geblieben ist. Bei einem namentlich Debord zugeschriebenen Zitat (bei dem man so tut, als ob man glauben würde, dass der Begriff „Kommunikation“ nicht im S.I.-, sondern im einseitigen ORTF-Sinn z.B. benutzt wird) stammen zwei ohne den Namen des Autors angeführte Zitate eigentlich von Vaneigem — alle Situationisten und alle aufmerksamen Leser unserer Veröffentlichungen wissen wohl, dass einige Auffassungen Vaneigems über die Eigenschaften der situationistischen Organisation wichtige persönliche Nuancen aufweisen. Als Anführer wird Debord mit Kardinal von Retz identifiziert und dieser wiederum mit einem ziemlich befremdenden Klassenbewusstsein versehen (indem er „das ästhetische Spiel eines hoffnungslosen Kampfes vor dem aufsteigenden bürokratisch-bürgerlichen Apparat spielte“). Unsere Ideologen hätten vielmehr Retz lesen sollen, bei dem sie erfahren hätten, dass „alles, was bei der Verleumdung nicht schädigt, dem dienlich ist, der angegriffen wird.“

Auf dem Höhepunkt ihrer Analyse entdecken sie im „marxistischen“ Stil der Humanité Dimanche, dass die Grundlage der ökonomischen Macht, durch die sich Debords zwangsläufige Macht über die gesamte S.I. erklären ließe, darin besteht, dass die Zeitschrift S.I. legal erscheint und ihr Direktor, Debord, für unsere Schulden beim Drucker persönlich verantwortlich ist, der waghalsig genug ist, uns Vertrauen zu schenken. Was außerdem gleichzeitig erklärt, warum die Helden der Gleichmachung nicht einmal eine einzige Minute versucht haben, sich dieser Macht entgegenzusetzen und ihr immer freundlich begegnet sind.

Dass z.B. alle unsere Veröffentlichungen außerhalb Frankreichs immer und überall auf einer vollständig autonomen finanziellen Basis von den Genossen des betreffenden Landes mit anderen „Direktoren“ bzw. Arbeitern in den Druckereien realisiert wurden — das wurde bei ihrer eng elsässischen Perspektive nicht einmal berücksichtigt.

Die heutige Wirklichkeit der S.I. als einer „internationalen Theoretikergruppe“ schien den Garnault-Anhängern schon recht schön, als sie meinten, sie gehörten zu ihr und würden bald beweisen können, dass auch sie selbst wenigstens Theoretiker seien. Schon am Tage nach ihrem Ausschluss warfen sie der S.I. vor, nur das zu sein und sich nicht wie sie für eine „revolutionäre Organisation“ auszugeben, „die imstande ist, in großem Maßstab auf Weltebene zu handeln“. Es wäre wohl unnütz, von ihnen zu erwarten, dass sie sich im geringsten des wirklichen praktischen Prozesses bewusst sind, durch den diese Art Organisation der Arbeiter in der modernen Gesellschaft geschaffen wird. Um aber auf der gefühlsmäßigen und egozentrischen Ebene zu bleiben, die sie gefangenhält, kann man sich fragen, welchen Unterschied es für sie machen würde, ob die neue revolutionäre Strömung sich auf der Entwicklungsstufe der ersten Verbindung auf einer neuen theoretischen Basis befindet, ob sie schon von kämpfenden revolutionären Arbeitern erlebt wird oder sogar zur Entwicklungsstufe der Macht der Räte gelangt ist. Denn sie wird die Garnault-Anhänger und ihre wirkliche Praxis zu jeder Stunde verurteilen. Die revolutionären Arbeiter spaßen nicht in der Frage der Verleumdungen — im Gegenteil zu den Bürokraten und Politikern, die durch die Manipulation der Lügen herrschen. Und die proletarische Macht der Räte, die durch und durch die Praxiswerdung der Wahrheit ist, wird selbstverständlich alle Lügen, die gemeinsam durch geheime, eigene Ziele verfolgende Gruppen behauptet werden, als eine der seltenen Verschleppungsformen behandeln müssen, die sie noch zu bekämpfen hat.

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