Heft 3/1999
September
1999

Die Folgen des NATO-Krieges gegen Jugoslawien

Eine Analyse der Interessenlagen

Bei der Entscheidung der NATO, einen Luftkrieg gegen Jugoslawien zu führen, spielten handfeste machtpolitische und geostrategische Überlegungen der USA eine entscheidende Rolle.

Seit dem erzwungenen Rückzug des Osmanischen Reiches liegt der Balkan im Spannungsfeld dreier bzw. zweier Großräume: Europa in seiner mitteleuropäischen und seiner atlantischen Ausprägung sowie Rußland. Die führenden geopolitischen Kräfte dieser Räume unterliegen Veränderungen, die Interessenlagen weisen erstaunliche Kontinuitäten auf. War es anläßlich des Berliner Kongresses im Jahre 1878, als es um die Neuaufteilung des europäischen Südostens ging, noch Österreich-Ungarn, das an der Spitze des (mittel)europäischen Zugriffs auf den Balkan stand, so wurde die Politik des europäischen Imperiums in der Folge von Berlin und — heute — von Brüssel aus geführt. Der westeuropäische Protagonist im Kräftespiel um den Balkan war schon immer atlantisch orientiert. 1878 rang er in Gestalt Großbritanniens um Einfluß in Osteuropa. Nach zwei europäischen Weltkriegen übernahm Washington die Führungsrolle des atlantischen Großraums, sein Interesse für den Balkan hat sich nur unwesentlich verändert. Bleibt Rußland als dritte post-osmanische Großmacht, Moskau versteht seit je Südosteuropa als geostrategisches Vorfeld seiner eigenen Sicherheit.

Im Zuge des Berliner Kongresses wurden jene östlichen Landstriche neu verteilt, die von den osmanischen Truppen geräumt werden mußten. Bosnien & Herzegowina kam an Österreich-Ungarn, Rußland erhielt Teile des früheren Fürstentums Moldau und England wurde mit Zypern bedient. Serbien und Rumänien erstanden als souveräne Staaten. Das Machtvakuum, das durch den Rückzug der „Hohen Pforte“ entstanden war, konnte neu gefüllt werden. Die Landkarte Europas veränderte sich.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1989 war die geopolitische Ordnung des Kontinents wieder einmal in Frage gestellt. Die Desintegration im Osten rief die aktuellen Großmächte auf den Plan: EU-Europa und US-Amerika. Gerade um die Politik in Jugoslawien tauchten neben dem öffentlich zur Schau gestellten Gleichschritt immer wieder Widersprüche zwischen dem deutsch geführten Westeuropa und den USA auf. Während es Bonn/Berlin (und mit ihm Brüssel) seit 1991 eher um ökonomische Interessen ging, für deren Durchsetzung eine Spaltung des südslawischen Vielvölkerstaates nach nationalen Kriterien praktisch schien, benützte Washington — etwas später — die Nationalismen auf dem Balkan, um einen weiteren geopolitischen Fuß nach Europa zu setzen. Rußland wiederum versuchte verzweifelt — und nicht ganz ohne Erfolg — letzte Reste von Einfluß in Südosteuropa zu erhalten.

Amerikanische und europäische Geopolitik

„Ich kann dem amerikanischen Volk mitteilen, daß wir einen Sieg für eine sicherere Welt, für unsere demokratischen Werte und für ein stärkeres Amerika errungen haben“, vermeldete US-Präsident Clinton nach 78 Tagen NATO-Bombardements auf Jugoslawien in jener selben Rede, in der er auch den Albanern zur Wiedererringung der Muttersprache gratulierte. Eines daran stimmt sicher: nach der Zerschlagung Jugoslawiens hat es die Welt mit einem „stärkeren Amerika“ zu tun. Darin lag letztlich für Washington der Sinn der ganzen Angelegenheit. Die Neuordnung Europas, und mit ihr die Neuordnung am Balkan, so die Botschaft aus Übersee, ist ohne die Berücksichtigung US-amerikanischer Interessen nicht durchführbar.

Das Herauslösen Sloweniens und Kroatiens aus dem alten jugoslawischen Staatenverband fand anfangs noch gegen den Willen der USA statt. Bei der militärischen Aufrüstung Kroatiens und ihrem „Meisterstück“, der ethnischen Säuberung der Krajina, waren US-Logistik und US-Helfer schon dabei. Die bosnische Sezession geriet dann zunehmend in die Hände des State Departments, der Teilungsplan für Bosnien-Herzegowina war eine rein amerikanische Erfindung, und die Protektoratsverwaltung des Landes koordinieren Weltbank und Währungsfonds in Washington. EU-Europa beteiligt sich daran über UN- und OSZE-Gremien, Wolfgang Petritsch gibt als „hoher Repräsentant“ den obersten zivilen Kolonialverwalter. Der Krieg gegen die verkleinerte jugoslawische Föderation trieb weitere Spaltungen in die Neuordnung des Balkans. Beim Kosovo ist dies offensichtlich. 35.000 Soldaten der westlichen Wertegemeinschaft stehen seit Juni 1999 in der Provinz, um — neben Bosnien — ein zweites Protektorat auf (ehemaligem) jugoslawischem Boden zu errichten. In fünf Besatzungszonen aufgeteilt, einigten sich EU-Europa und die USA auf ein gemeinsames Vorgehen im Kosovo. Die UNO-Resolution zur „Beseitigung der humanitären Notlage (im Kosovo)“ spricht von einer „internationalen Zivilpräsenz“, die Mitte Juli 1999 „zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ eingerichtet worden ist. Explizit verweist das Papier auch auf das Abkommen von Rambouillet und die Notwendigkeit, es zu berücksichtigen. Dort war — neben vielem anderen — die Durchsetzung der Marktwirtschaft als Ziel genannt. In Artikel 1, Absatz 4a hieß es: „Die Ökonomie des Kosovo soll in Übereinstimmung mit den Prinzipien des freien Marktes funktionieren.“ Der bosnische Weg dient als Vorbild für die Kolonisierung Kosovos.

Doch der Westen hält noch weitergehende Neuordnungspläne für den Balkan wie für ganz Osteuropa bereit. Der Terminus hierfür heißt — entlarvend genug — Osterweiterung. Politischer Druck und wirtschaftlicher Zugriff gehören zu den Eckpfeilern dieses seit 1989 betriebenen Projektes, das mit allen Mitteln betrieben wird. In Form von Beitrittsangeboten an elf osteuropäische Länder und Gesprächen mit sechs von ihnen — Slowenien, Ungarn, Tschechien, Polen, Estland und Griechisch-Zypern — hat sich die Osterweiterung teilweise im politisch-ökonomischen Sinne institutionalisiert. Die militärische Übernahme verlief parallel dazu. So stehen heute NATO-Soldaten in Albanien, Makedonien, Bosnien-Herzegowina, Ungarn, Polen und Tschechien als gewaltbereite Geleittruppe des US-amerikanischen und/oder EU-europäischen Einflußbereichs, sprich: Marktgebiets. Das Szenario war nach dem Sieg im Kalten Krieg vorprogrammiert. Die Erweiterung der Einflußsphäre, die im Zeitalter der Bipolarität auf dem europäischen Kontinent ein Tabu dargestellt hatte, wurde flugs zur westlichen Doktrin nach 1989. Daß das Projekt der Osterweiterung erst am 24. März 1999 zum direkten heißen NATO-Krieg geworden ist, liegt in der Schwäche des peripherisierten Ostens begründet, dessen politische Führungen den Aufbau eigener ökonomischer Kreisläufe oder militärischer Integrationen nicht betreiben wollten oder konnten. Und es ist wohl kein Zufall, daß sich ausgerechnet Jugoslawien der Niederlage im Kalten Krieg nicht gebeugt hat: als blockfreies Land hatte es an ihm gar nicht teilgenommen. Hinzu kommt, daß es im Gegensatz zu den Staaten des zerfallenen Warschauer Paktes 1991 noch immer eine relativ schlagkräftige Armee besaß. Die Osterweiterung der westlichen Einflußsphäre kann weder integrierte wirtschaftliche Räume außerhalb des Euro- oder Dollarraumes brauchen noch eine militärische Kraft, die notfalls gegen kolonisierende Maßnahmen aus dem Westen vorgehen könnte. Deshalb unterstützen die politischen Administratoren der großen Weltkonzerne regionale Autonomien und politische Sezessionen im ehemaligen RGW-Raum, deshalb wurde Jugoslawien systematisch zerstört, wobei die national vorhandenen Begehrlichkeiten geschickt für geopolitische Neuordnungspläne instrumentalisiert wurden. Kleine politische Einheiten, schwache, auf die west-dominierten Weltmärkte ausgerichtete ökonomische Grundlagen und eine von der NATO kontrollierte Armee sind die Zielvorgaben des Projektes Osterweiterung. Im Krieg gegen Jugoslawien ging es letztlich um die Glaubwürdigkeit dieser imperialen Politik. „Wenn es der NATO nicht gelingt, ihre Minimalforderungen gegenüber Serbien durchzusetzen, welche Schlußfolgerungen werden dann Typen wie Milosevic in anderen Ländern ziehen?“, warnte Richard Cohen, ein zum innersten Kreis der amerikanischen Think Tanks zählender Kommentator, in der Washington Post am 14. Mai 1999 vor einem zu frühen Kriegsende. „Typen wie Milosevic“ gibt es genug. Sie sind politischer Ausdruck einer in die ökonomische Verzweiflung getriebenen Peripherie, schlechte Alternativen zu Kolonialverwaltern in einer Zeit, die bessere nicht duldet. Der ehemalige rumänische Präsident und jetzige Oppositionsführer Ion Iliescu, Vladimir Meciar, Alexander Lukaschenko, der Präsident der nicht anerkannten Republik Transnistrien Igor Smirnov, Milo Djukanovic (bis vor kurzem), Alexander Lebed (eventuell ab demnächst) ... sie alle wurden und werden von den medialen Stichwortgebern der westlichen Wertegemeinschaft dämonisiert, weil sie nicht bereit sind, ihre Länder dem Diktat von Weltbank und Währungsfonds gänzlich auszuliefern. Sie versuchen sich am Aufbau nationaler wirtschaftlicher Kreisläufe oder ausgeglichener ökonomischer Beziehungen zwischen West und Ost. Familiäre Bereicherung und Klientelwirtschaft gehören zu ihrem Tagesgeschäft, ja sind oft sogar die Triebfedern ihres Handelns, was sie für Kritiker der westlichen Kolonisierungspolitik solidaritätsunfähig macht. Mit Demokratiedefiziten im Sinne einer Mißachtung des Volkswillens haben die westlichen Zuweisungen für östliche Bösewichte indes wenig bis gar nichts zu tun.

Stadtidylle — Menschenrechte sind durchgesetzt
(rechts unten)
Ansichtskarte aus der Serie Pozdrav iz Novog Sada / Greetings from Novi Sad © Action against war and destruction of the Ekumenical Humanitarian Organization and the civil weekly of Vojvodina Nezavisni

Warnung an Moskau

Der NATO-Krieg hat den Führern der peripheren osteuropäischen Staaten eines drastisch vor Augen geführt: Unbotmäßigkeit kann mit völliger Vernichtung bestraft werden. Wer nicht B-52-Bombern, F-16-Kampfjets und Cruise-Missiles-Angriffen ausgesetzt sein will, hat sich den Regeln der westlichen Wertegemeinschaft zu fügen. Die da sind: Investitionsfreiheit, ungehinderter Kapital- und Warentransfer, Marktöffnung und politische Willfährigkeit. Der Einfachheit halber nennt sich das im neoliberalen Diskurs „Demokratisierung“. Erst nach diesem Selbstverständnis der ökonomischen Zentralräume über das Schicksal der Peripherien tauchen Widersprüche innerhalb der imperialen Strategie auf. Über die Kosten der unterschiedlichen Arten von Transformation und über die Verteilung von Profiten nach erfolgreicher wirtschaftlicher Zurichtung scheiden sich die Geister dies- und jenseits des Atlantiks. Im NATO-Krieg gegen Jugoslawien war dieser amerikanisch-europäische Zwist immer wieder spürbar. Washington nahm Brüssel bereits mit der „activation order“ vom 12. Oktober 1998 in die militärische Geiselhaft. Über die unmittelbaren Kosten des Krieges wird noch viel gestritten werden, die politischen und ökonomischen Folgekosten Muß die EU bezahlen. Denn hier in Europa sind die Auswirkungen der balkanischen Destabilisierung virulent, werden ökologische Langzeitschäden, zerstörte Transportwege (über die Donau oder die Europastraßen am Balkan) sowie gesellschaftliche Entwurzelungen in der Folge von Flucht und Vertreibung tiefe und langanhaltende Spuren hinterlassen.

Den USA scheint damit zweierlei gelungen zu sein: ihre strategischen und ökonomischen Interessen — wie Marktöffnung, willfährige Regime, Investitionssicherheit etc. — durchsetzen und den einzigen ernsthaften Konkurrenten um internationale Hegemonie, die Europäische Union, mit Kosten belasten zu können. Insofern hatten jene warnenden Stimmen recht, die die NATO-Bombardierungen als einen Krieg bezeichneten, der sich nicht nur gegen Serbien, sondern auch gegen Europa als ganzes richtete. Insbesondere auch gegen Rußland. Washington hat bereits seit längerem seinen strategischen Fokus auf die rohstoffreichen Gebiete rund um das Kaspische Meer gerichtet, wo die Multis Chevron und Exxon bereits eifrig am Werken sind. Die Köpfe der amerikanischen Außenpolitik machen kein Hehl aus diesem Begehren. Davis Tucker, stellvertretender Direktor im US-State Department, schrieb in der Sommernummer 1998 der Strategiezeitschrift Parameters, daß es für die USA nur mehr eine Region in der Welt gäbe, wo die eigenen „Sicherheitsinteressen mit der Barbarei zusammenstoßen“ könnten: „Das Gebiet um den Persischen Golf, nördlich bis zum Kaspischen Meer und östlich bis nach Zentralasien. (...) Dies ist eine äußerst wertvolle Region, die circa 75% der Erdölreserven und 33% der Erdgasreserven dieser Welt beherbergt.“ Die russische (wie auch die iranische) Kontrolle über dieses Rohstoff-Eldorado und seine Transportwege Richtung Westen steht Washington potentiell im Weg. Die Demonstration der militärischen Entschlossenheit und der Einsatz neuester technologischer Errungenschaften im NATO-Krieg gegen Belgrad waren auch als Warnung an Moskau gedacht, den amerikanischen bzw. amerikanisch-türkischen Annäherungen an Kasachstan, Turkmenistan und Aserbaidschan nicht in die Quere zu kommen.

Die Generäle der ehemaligen Roten Armee haben dies nur zu gut verstanden. Und sie handelten entsprechend. Am 11. Juni 1999 erhöhten sie putschartig den politischen Handlungsspielraum Rußlands, der unter Jelzin seit Jahren systematisch eingeengt worden war. 500 russische Fallschirmjäger der SFOR-Truppe aus Bosnien fuhren von der Bevölkerung umjubelt durch das kriegszerstörte Serbien in den Kosovo und besetzten dort in der Nacht darauf, um 0 Uhr 15, den Flughafen von Pristina. Die politische Klasse Moskaus, die gerade wieder einmal für einen dreistelligen Dollarmillionenkredit der Zoneneinteilung Kosovos zugestimmt hatte, mußte diesem Schlag der Generalität post factum zustimmen. Bei der Umsetzung der dadurch entstandenen Möglichkeiten geriet Moskau freilich wieder in die Defensive, wiewohl die schlußendlich durchgesetzte russische Präsenz am Balkan den geostrategischen Gewinn der NATO beträchtlich schmälert. Das implizite Ziel der nordatlantischen Allianz, den latenten Konflikt mit Rußland, der jederzeit heiß werden kann, auf asiatisches Territorium bzw. rund um das Kaspische Meer verlegen zu können, wurde nicht erreicht.

Anfang August 1999 tickerten die Presseagenturen Berichte aus dem Innenleben der NATO-Befehlsstrukturen, die erklären sollten, warum der in Kosovo so erfolgreiche General Wesley Clark seinen Posten räumen mußte. Der Oberbefehlshaber über die NATO-Truppen im Jugoslawien-Luftkrieg, Clark, hatte noch am 11. Juni 1999, dem Tag des russischen Einmarsches in Serbien, Befehl gegeben, britische und französische Fallschirmjäger gegen den russischen Vorstoß nach Pristina einzusetzen. Der von der NATO über einen Beschluß des UN-Sicherheitsrates ins Amt gesetzte General Michael Jackson, der mittlerweile für den Einmarsch der Allianz nach Kosovo zuständig war, verweigerte die Ausführung mit dem Hinweis: „Für Sie, General Clark, riskiere ich nicht den 3. Weltkrieg.“ Washington war also durchaus bereit gewesen, die militärische Generalprobe gegen Moskau — den Krieg in Jugoslawien — direkt in eine große Konfrontation mit der russischen Atommacht münden zu lassen. Der kleine Unterschied zwischen einem NATO-General unter NATO-Befehl und einem NATO-General, der den Vereinten Nationen zugeordnet ist, rettete die Welt möglicherweise vor einem noch größeren Waffengang.

Heute stehen an zwei geostrategisch wichtigen Punkten Europas russische Soldaten: im Kosovo und in Transnistrien bzw. der Republik Moldawien. Beide Stationierungen gingen Übrigens nicht vom politischen (Un-)Willen Moskaus, sondern von den Generälen der früheren Roten Armee aus, die vollendete Tatsachen schufen. Der seit über 100 Jahren dauernde Dreikampf zwischen Wien/Berlin/Brüssel — London/Washington — Moskau um Einfluß auf dem Balkan ist freilich auch nach dem Einzug der KFOR-Truppen im Kosovo noch nicht beendet.

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