Wurzelwerk, Wurzelwerk 29
April
1984

Die Grenzen des quantitativen Wachstums

Chance für eine umweltfreundliche Wirtschaftsform? — 2. Teil

Die „unbestrittene Bibel der Ökonomen“ (M. Blaug) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nicht das Werk von A. Smith, nicht das Buch von Ricardo — mit dem sie allerdings den Titel gemeinsam hatte — und sicher auch nicht das „Kapital“ von Marx. Vielmehr waren es die „Principles of Political Economy“, die J. St. Mill 1848 in erster Auflage erscheinen ließ.

Neben der alternativen „Eigentätigkeitsgesellschaft“ gibt es eine andere, ältere Vorstellung von post-industrieller Wirtschafts- und Lebensform. Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts (Fourastie), die Vision der technisch hochentwickelten und materiell gesättigten Dienstleistungsgesellschaft (Bell) setzen beide auf ein relatives Schrumpfen des industriellen Sektors zugunsten des sogenannten tertiären, des Dienstleistungssektors in entwickelten Volkswirtschaften. Welche Bedeutung hat diese Aussage der sogenannten Dreisektoren-Hypothese für unsere Fragestellung?

Es ist plausibel, mit relativ steigendem Dienstleistungssektor eine verminderte Umweltbelastung zu erwarten. Und tatsächlich entspricht das bisherige Wachstumsmuster entwickelter Volkswirtschaften weitgehend der Dreisektoren-These. Grund zum Umweltoptimismus? Reichen sich der bescheidene Eigenproduzent, der Playboy der nichtmonetären Eigenleistungsgesellschaft, und der fröhliche Verbraucher, der Playboy der marktvermittelten Dienstleistungsgesellschaft, die Hand, um eine umweltfreundlichere Wirtschaftsform zu befördern? Skepsis ist angebracht.

Private Haushalte sind heute manchmal so geldintensiv wie ein kleines Unternehmen, maschinenintensiver als frühere Handwerksbetriebe. Der Engländer Gershuny [1] hat 1978 behauptet und für England gut belegt, daß in den Industrieländern immer mehr Verbrauchsgüter und eben auch Dienstleistungen von den Haushalten selbst mit Hilfe von Haushalts-Investitionsgütern hergestellt werden, also langlebige Gebrauchsgüter, die selbst im herkömmlichen Produktionssektor erzeugt werden. Über Kapitalisierung der Haushalte und über die Professionalisierung der Verbraucher bildet sich eine „Eigen-Dienstleistungswirtschaft“, die einen wegen der im Haushalt eingesetzten „Investitionsgüter“ weiter wachsenden sekundären Sektor stützt.

Die Industrialisierung erfaßt somit auch den Bereich der Haushaltsproduktion (Joerges spricht von Konsumarbeit [2]). Wenn Umweltbelastung nichts anderes ist als die „Ausscheidung sachtechnischer Systeme“, so muß der Haushaltsbereich größere umweltpolitische Bedeutung gewinnen als er heute als Umweltbelaster schon hat. Wächst nun die Menge der in Haushalten erzeugten Güter und Dienste schneller als die industriell produzierten Güter, so wächst vermutlich auch der Anteil der Haushalte an der Umweltbelastung. Wichtiger aber ist die Frage, ob pro produzierter Gutseinheit die Umweltbelastung durch Haushaltsproduktion höher ist als die in der Industrieproduktion.

Die relative Umweltbelastung dürfte abhängen vom Kapitalisierungsgrad der Produktion, vom technischen Produktionsniveau, vom Management-Niveau und vom politisch-regulatorischen Druck im Haushalts- bzw. im Industriebereich. [3]

Ein vermutlich höherer Kapitalisierungsgrad im Haushaltsbereich (Waschmaschine statt Wäscherei, Individualverkehr) spräche für eine Verschärfung der Umweltproblematik. Nicht anders sieht es vermutlich bei den nächsten beiden Faktoren aus. Trotz aller Bemühung der Industrie um technische Innovation im Haushaltsbereich dürfte sich die Haushaltsproduktion auf niedrigerem technischem Niveau vollziehen. Und ähnlich kann man vermuten, daß im Haushaltsbereich weniger kompetent gewirtschaftet wird, wobei Haushalte wohl nicht weniger als die Industrie zur Externalisierung von Umweltkosten neigen dürften. Schließlich der politisch-regulatorische Druck: Zwar entspricht es den Interessen im industriellen Produktionsprozeß, die Umweltbelastung durch Konsum herzustellen und damit Druck von sich selbst abzulenken. Auch hier aber ist zu vermuten, daß sich trotz zu erwartender Eingriffe in bisher staatlich wenig regulierte Konsumtätigkeit derartige Maßnahmen im relativ schwerer faßbaren Bereich der privaten Haushalte und Kleinverbraucher schwer (auch politisch schwerer) durchsetzen lassen.

Nicht als Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung, aber als These kann man daher formulieren: Freizeitaktivitäten sind kaum weniger rohstoff- und energieintensiv und nicht weniger umweltbelastend als Arbeitszeit, Haushaltsproduktion und Konsumarbeit mindestens ebenso materialaufwendig, energieaufwendig und kostspielig wie die Produktion entsprechender Konsumgüter. Die Hoffnung auf die Umweltfreundlichkeit ökonomischen Strukturwandels, sei es in Richtung alternativer Eigentätigkeit oder kapitalintensiver Haushaltsproduktion zur Eigendienstleistung, diese Hoffnung ist trügerisch. Umweltfreundliche Veränderungen und Verbesserungen sind daher in erster Linie auf der Produzentenseite, also im ökonomischen Kernprozeß der Produktion.

Umweltfreundlichere Wirtschaftsform muß im ökonomischen Kernprozeß der industriellen Produktion durchgesetzt werden!

Damit kehren wir zurück zum Thema Umwelt und Produktionswachstum. Die Vorstellung „Nullwachstum ist umweltfreundlich“ haben wir nicht akzeptiert, wie steht es mit der Behauptung „Umweltpolitik ist wachstumsfeindlich“? Das Argument lautet: Das Wachstum der Produktionsmöglichkeiten wird bestimmt durch den Umfang der Mittel, die nicht konsumiert (d.h. „gespart“) und investiert werden und durch die Produktivität dieser Investitionen. Die These, daß Umweltpolitik das Wachstum behindert, stützt sich auf die Annahme, daß durch Umweltschutzinvestitionen zwar der Kapitalstock wächst, der (durch das BSP gemessene) Output aber gleichbleibt. Allenfalls der Kapitalkoeffizient ist dann gewachsen, durch die Umweltpolitik sind Möglichkeiten der Steigerung des BSP vereitelt worden. Dies ist ein vordergründiges Argument. Akzeptiert man einmal die Vorstellung, daß durch Umweltpolitik Kapital in sogenannte unproduktive Verwendung geflossen ist, daß also in diesem Sinne Kapitalvergeudung vorliegt, so läßt sich sogleich dagegen fragen, ob nicht im anderen Falle (ohne Umweltpolitik) eine Vergeudung von natürlichen Ressourcen, von Umweltgütern also, eingetreten wäre. Es ist dann abzuwägen, was auf Sicht weniger schmerzt, was ist oder was wird knapper, Kapital oder Umweltressourcen. Anders ausgedrückt: Die Behauptung, die Umweltpolitik störe das Wachstum, läßt sich nur dann aufrechterhalten, wenn man die kühne Annahme macht, daß sich die bisherige umweltbelastende Struktur des Wachstums weiter durchhalten ließe.

Gewiß, dieses Wachstum wäre in BSP-Einheiten zu messen, zu quantifizieren, es wäre quantitatives Wachstum. Und was ist das oft zitierte qualitative Wachstum? Es ist zunächst nichts anderes als eine Defensivformel zur Rechtfertigung einer Umstrukturierung (Reallokation) des Kapitalstocks und der Produktion einer Volkswirtschaft, welche auf den ersten Blick, der sich eben auf die gesamtwirtschaftliche Buchführung, die volkswirtschaftliche Gesamtrichtung richtet, zu Wachstumseinbußen führt.

Man kann mithin den positiven Effekt dieser Reallokation, dieses sogenannten qualitativen Wachstums, im Zahlenwerk der volkswirtschaftlichen Rechnungsführung nicht erfassen. Der Wohlfahrtseffekt einer solchen Verschiebung spiegelt sich jedoch wider in der breiten Zustimmung, welche die politische Entscheidung für eine solche Umstrukturierung gefunden hat.

Selbst wenn man sich auf den quantitativen Wachstumsaspekt beschränkt, so gibt es zwei Argumente, welche der These vom wachstumshemmenden Effekt der Umweltpolitik entgegenstehen. Da ist zuerst der Hinweis auf die neu entstehende Entsorgungsindustrie, deren Wachstum das Wachstumstempo der umweltbelastenden Wirtschaftszweige übertreffen wird. Dabei taucht ein großer Anteil dieser Produktion auch in der Endnachfrage auf, wenn man sich etwa die Chancen auf den Exportmärkten vor Augen hält. Das zweite Argument betrifft die beschleunigende Wirkung der Umweltpolitik auf den technischen Fortschritt.
Dieser Fortschritt liegt wahrscheinlich nicht so sehr bei der Entsorgungsindustrie selbst; hier dürfte es sich eher um vergleichsweise traditionelle Verfahren handeln. Je länger aber Umweltpolitik betrieben wird, um so stärker wird sich im Produktionsprozeß das Gewicht vom Aufräumen, Klären, Filtern hin zur Vermeidung umweltbelastender Effekte verlagern. Es ist diese Integration umweltfreundlicher Verfahren in den Kapitalstock, welche Substitution, Einsatzeffizienz und Recycling von Rohstoffen begünstigen und den Typ von umweltschutzbedingten Zusatzinvestitionen zunehmend ablösen. Für den Ökonomen liegt dabei auf der Hand, daß es einen engen Zusammenhang zwischen der Instrumentierung der Umweltpolitik und dem hier angesprochenen Innovationstempo gibt. Angesichts der bisherigen Vorliebe, mit Auflagen und Standards statt mit Abgabenlösungen zu arbeiten erscheint dieser Hinweis aber nicht überflüssig. Eine innovationsfördernde, stetige und mehr und mehr auf die Vermeidung von Umweltschäden abzielende Umweltpolitik steht daher nicht im Gegensatz zum Wachstumsziel. Das gilt selbst dann, wenn man Wachstum in seiner meßbaren quantitativen Ausprägung auffaßt.

Wachstumsverlangsamung, Negatives Wachstum, Nullwachstum sind eine Tatsache der jüngsten Zeit. Sind das günstige Bedingungen für die Durchsetzung einer umweltfreundlicheren Wirtschaftsform?

Die offenkundigen Stagnationstendenzen in westlichen Wirtschaften zeigen, daß herkömmliche Wachstumsmuster nicht länger erfolgversprechend sind. Sättigungserscheinungen in Bereichen des privaten Konsums, Notwendigkeit von Energieeinsparungen und das Bedürfnis nach Sicherung und Verbesserung der natürlichen Lebensbedingungen deuten auf eine Verlagerung von Nachfragefeldern und Wachstumspotentialen. Weil es dabei auch um eine stärkere Artikulation von Bedürfnissen geht, die — wie eine gesunde Umwelt — nur zum Teil am Markt gekauft werden können, wird es neben dem Markt auch eine verstärkte staatliche Organisation der Nachfrage nach derartigen öffentlichen Gütern geben.

Nullwachstum kann angesichts hoher und steigender Arbeitslosigkeit kein Programm sein. Zumal dann nicht, wenn gesellschatftlicher Bedarf vorhanden ist:

  • Erhaltung und Verbesserung der Umweltqualität
  • Entwicklung langlebiger Gebrauchsgüter und des Recycling
  • Stadtsanierung (weg vom Substandard) und Verbesserung städtischer Lebensbedingungen
  • Entwicklung alternativer Energie- und Rohstoffquellen

Abschließend sei hervorgehoben: Es geht nicht um die Rückgewinnung wirtschaftswunderlicher Wachstumsraten. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, daß die Nachkriegsperiode nicht typisch war. Langfristig lagen die Raten weit darunter (z.B. Großbritannien 1765-1967 hatte 2,2% ; Deutschland bzw. BRD von 1850-1967 hatte 2,7%; Frankreich 1831-1966 hatte 2% durchschnittliches reales Wachstum pro Jahr). Wenn es aber zutrifft, daß die gegenwärtige Stagnation Ausdruck veränderter Bedürfnisse ist, die eben nicht immer marktmäßig organisiert werden können, dann gilt es — neben dem Wachstum der „ganz privaten Wirtschaft“ —, auch Strukturwandlungen der Nachfrage zugunsten des öffentlichen Bereiches zu ermöglichen. Dies zusammen mit einer Einwirkung auf die Angebotsstruktur der Unternehmen (Technologiepolitik) ist ein besseres Programm als Nullwachstum.

An wohlstandssteigernden Wachstumschancen fehlt es nicht. Daß umweltfreundlicheres Wachstum sich nicht immer in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung niederschlagen wird, ist eher ein Problem der unzureichenden Messung als der Qualität dieses Wachstums.

Aus: »Wege aus der Umwelt- und Wirtschaftskrise«, ÖGNU 10/82

[1Gershuny, J., After industrial society. The emerging self-service economy, London 1978

[2Joerges, B., Berufsarbeit, Konsumarbeit, Freizeit, in: Mitteilungsdienst der Verbraucher-Zentrale Nordrhein-Westfalen, Januar 1982, S. 29-45

[3Joerges, B., a.a.O., S. 43

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