MOZ, Nummer 51
April
1990

„Die Leute fürchten den Staat weniger als früher“

Arno Pilgram ist Soziologe und arbeitet am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien.

MONATSZEITUNG: Daß es eine Staatspolizei gibt, die überwacht und bespitzelt, war doch nie ein Geheimnis. Warum jetzt der Aufstand?

Pilgram: Sicherlich gibt es eine Veränderung gegenüber den 60er oder 70er Jahren, als viel stärker über Reformierung des Sozialstaates geredet wurde, Mit der Diskussion um den Sozialstaat selbst hat es eine Wende gegeben. Es gibt mehr Skepsis gegenüber dem Staat und seinen Institutionen.

Wird aus der Parole „Weniger Staat“ eine Staatskritik?

In Zusammenhang mit diesen zum Teil konservativen Bestrebungen sind auch liberal-bürgerrechtliche Ideen stärker geworden. Das ist auch ein Zeichen für Legitimationsnöte des politisch-administrativen Systems, die früher abgefangen werden konnten, weil sehr viel verteilt wurde. Es haben ja sehr viele Leute von diesem Sozialstaat profitiert, während in einer Zeit, in der es weniger zu verteilen gibt, diese Legitimation nicht mehr hält. Die Leute fürchten den Staat jetzt weniger.

Warum?

Das ist eine gesellschaftsstrukturelle Entwicklung, die gebildetere und ideologisch unabhängigere Schichten gefördert hat. Von denen gibt es im Vergleich zu früher mehr. Damit sind auch die engen institutionellen Bindungen schwächer geworden. Und: für Reformen ist immer wichtig, daß auch artikulationsfähige Gruppen mitbetroffen sind.

Besteht nicht die Gefahr, daß die Staatspolizei jetzt modernisiert wird, in dem Sinne, daß Pannen wie die Überwachung jener artikulationsfähigen Schichten nicht mehr passieren können?

Es zeigt sich, daß niemand vor Bespitzelung gefeit ist. Bei der Präventionsphilosophie, die eine Staatspolizei hat, ist aber nicht so klar zu trennen zwischen den ‚ehrbaren Bürgern‘ und anderen. Denn Prävention heißt, die Überwachung zu streuen. Trotzdem: Die Gefahr besteht, daß die Reformphase nicht zur Abschaffung, sondern zur Modernisierung führt.

Entstanden ist der Überwachungsapparat des Staates parallel zum bürgerlich-aufgeklärten Staat seit der Französischen Revolution, der den Bürgern gewisse Rechte einräumen mußte ...

... ich würde die Geschichte der Staatspolizei weniger als Kehrseite der Revolution, sondern eher als Begleiterscheinung der Restauration sehen. Oder als Element der unvollständigen Revolution.

Geht man aber davon aus, daß eine politische Polizei ein Instrument der Herrschaft, des Klassenstaates ist, ist es dann überhaupt realistisch, ihre Abschaffung durchzusetzen?

Wenn die Staatspolizei ein Instrument des Klassenstaates ist, dann bei allem Respekt — ein relativ nachrangiges. Die eigentlich wichtigen Instrumente zur Festigung der gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen sind eigentumsrechtlicher Art, wirtschaftspolitischer und auch sozialpolitischer Natur. Mit der Staatspolizei steht und fällt der Klassenstaat nicht.

Ein moderner Klassenstaat kann also bei Wahrung seiner Interessen auf die Staatspolizei verzichten?

Durchaus.

Danke für das Gespräch.
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