Streifzüge, Heft 62
Oktober
2014
Dead Men Working

Die Lust am da Sein

Wenn ich nach den täglich erzwungenen inspirations- und sinnlichkeitstötenden hirnverbrannten Aberwitzigkeiten bei meiner abendlichen widerständigen Routine der Wortschatzsuche unverhofft auf eine Goldader stoße, bin ich erst mal sprachlos. Umso wundersamer die Entdeckung, wenn ich auf jemanden treffe, der mir schon vor über hundert Jahren so sehr aus der Seele gesprochen hat wie kaum einer in der Gegenwart. Auf jemanden, der das in Worte gekleidet hat, was ich bisher kaum auszudrücken vermochte, aber umso stärker spürte. (Zum Genießen braucht es keine Worte, aber zum Unmut kundtun.)

„…und die Lust, so zu sein, wie sie sind, lacht aus ihren stolzen Augen.“ Hermann Bahr bemerkt in der „Dalmatinischen Reise“ 1909 zwei Tendenzen in der Menschheit: Die einen, die sich wohl in ihrer Haut fühlen, die sind, was sie sind, und sich gar nicht denken können, anders zu sein, die nichts brauchen, weil sie alles an sich selber haben, die sicheren unschuldigen Heiden quasi. Und die anderen, die ewig Bangen, die ewig an sich Zweifelnden, die sich schämen, so zu sein, wie sie sind, die sich wünschen, anders zu sein, als sie sind, die sich fürchten, so zu sein, wie sie sind; die, die jeden bewundern, der anders ist, die jeden beneiden, der anders ist, die gefallen möchten, die an sich selber kranken, schlecht träumenden, vor sich selber flüchtigen Sünder.

Auch mir ist diese Unterscheidung in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr ins seelische Auge gestochen: Die kernigen, reschen, pfiffigen, innerlich gefestigten Charaktere mit ihrer frechen Fröhlichkeit verschwinden immer mehr oder sie wurden müde und ausgelaugt, während die verunsicherten, distanzierten, standardisierten, normierten, die bemüht beeindrucken Wollenden Hochkonjunktur haben. Letztere mögen äußerlich ordentlich aufgepeppt und überzeugt erscheinen, innerlich aber sind sie hohl, schal, bar jeglicher Leuchtkraft. Selbstinszenierung und Selbstverniemandung gleichzeitig. Oft auch Selbstzerstörung.

Nicht mehr die einschüchternde christliche Religion beschert uns dieses (Un-)Sittenbild, sondern wohl der neue Glaube an Geld und Markt mit seinen unabdingbaren Folgen wie Konkurrenz und Neid. – Je nach Gruppenzugehörigkeit plappern sie die entsprechenden Phrasen, aber weit und breit keine Originalität! Ein Spruch: „99 Prozent von uns sind unsichtbar und unfassbar.“ Wenn ich nichts Essenzielles, nichts Eigentümliches wahrnehme, kann ich nichts erwidern. Der heute großteils digitale Austausch unter Menschen ist mir wesensfremd. Ist Facebook & Co. nicht vor allem eine Börse, an der jeder seinen täglichen Marktwert via Likes, Shares und Freunde-Quote kontrolliert?

Die Ärztin Christine Wallner hat lange Zeit in Afrika verbracht. Hierzulande fehle ihr „die Einfachheit des Direkten, in der Mimik, in der Herzlichkeit. Jemand, der Freude ausstrahlt ist ein Schatz.“

Ein schönes Fundstück gibt es auch von Andreï Makine im Buch „Himmel und Erde des Jacques Dorme“, eine historisch belegte Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich im Zweiten Weltkrieg zufällig in Sibirien treffen, weil er irrtümlich einen Umweg eingeschlagen hat: „Weißt du, diese Ebene, der Fluss, die Nacht, das alles ist so einfach, mehr brauchen wir eigentlich gar nicht. Niemand braucht mehr. Und trotzdem wird der Krieg bis hierher kommen…“ Mehr als eine Woche, viele Briefe und die Absicht zu heiraten, war ihnen nicht gegönnt. – Das Glück, die glücklichen Momente aber sind bei aller Rätselhaftigkeit so einfach, so klar und deutlich, so stark und unumstößlich wie ein Fels in der Brandung der alltäglichen Widersinnigkeiten.

Von Dalmatien vor hundert Jahren über Sibirien vor siebzig Jahren in das Polen der Gegenwart: Steffen Möller, 1969 in Deutschland geboren, hat zwölf Jahre lang in diesem Land gelebt und weiß viel über die unterschiedlichen Mentalitäten zu berichten. In seinem Buch „Expedition zu den Polen – Eine Reise mit dem Berlin-Warszawa-Express“ wird in jedem Kapitel unter anderem ein Kulturschock vorgestellt. Jener mit „Blicke, Blicke, Blicke“ betitelte passt hervorragend zu meiner (unveröffentlichten) kommentierten Zitate-Sammlung „Blickdicht – Oder: weit und breit keine Sinnlichkeit“.

Polen, die in Deutschland leben, können kaum glauben, „wie blickarm, wie emotional genügsam und sparsam an Mimik“ die Menschen hier ihr Leben fristen. „Auf deutschen oder amerikanischen Straßen gehen die Leute mit gesenktem Blick aneinander vorbei, in Polen guckt jeder jeden an. … Wenn ein Deutscher langsam seinen Blick erhebt, hat sich ein Pole schon eine Meinung über ihn, das Wetter und die Katze hinter dem Fenster gebildet. … Bei Besuchen in der Heimat fühlen sich Polen von fremden Blicken gegossen wie welke Blumen.“ – Freilich kann das auch weniger angenehme Auswirkungen haben: Nichts entgeht der (kontrollierenden) Beobachtung durch die anderen. Bemerkenswert aber ist, dass in Polen „das Phänomen der Amokläufer – emotional toter, aber kognitiv hochintelligenter junger Männer – nahezu unbekannt ist. Bevor ein Mensch vereinsamt und eines Tages explodiert, muss er zunächst einmal durch alle Netze der Blicke fallen. Das ist hier fast unmöglich. Irgendein Nachbar oder eine aufgekratzte Tante ist immer da, die nach dem Rechten guckt, nicht unbedingt aus Liebe, aber aus Neugier oder schlichtweg aus Misstrauen.“

Die von Möller treffend beschriebene „zehnfach erhöhte Wahrnehmungsdichte“ bei Slawen kann ich nur bestätigen. Oft kommt mir sogar vor, sie hätten auch im Hinterkopf Augen. Vielleicht ist es auch ein eingebautes Ganzkörperradar oder ein hochsensibler Seismograf. – Während ich hierzulande der Menschen Wortschwall häufig als Linienwall erlebe, als eloquente Abwehr, wirken Slawen hingegen sogar schweigend höchst anziehend. Aber auch ihre Sprachen sind viel sinnlicher, viel vieldeutiger im Gegensatz zum präzisen Deutsch. – Eine der schlimmsten Krankheiten heute ist das ständige überall und nirgends Sein. Der Kopf ist meist ganz woanders als der Körper. Und das Augenmerk selten beim Gegenüber. Hoffentlich gehen die wunderbaren traditionellen slawischen Eigenheiten nicht ganz verloren. Die außergewöhnlichste ist ihr Aufmerksamkeitspegel: Nicht nur ihre Lust am so Sein ist deutlich zu spüren, sondern auch ihr starkes da Sein, beim Gegenüber Sein. Aufmerksamkeit pur. Wahr-genommen werden vom Schönsten.

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