ZOOM 6/1997
Oktober
1997

Die NATO nach Madrid

Madrid, 9. Juli 1997: Die Weichen sind gestellt; die Signale zeigen grün. Der Lokführer wartet auf das Abfahrtszeichen. Gleich mehrere Schaffner drängen zum Aufbruch. Auf dem Bahnsteig Prominenz aus Politik und ganz Europa. Aus dem Lautsprecher quellen Ansagen: „Auf Gleis 16 steht erstmals zur Abfahrt bereit der Trans-Europa-Express“OTAN„über Barcelona, Paris und Brüssel; Kurswagen nach Prag, Budapest und Warschau befinden sich in der Mitte des Zuges; Kurswagen nach Bukarest, Ljubljana, Riga, Vilnius, Talin und Kiew befinden sich möglicherweise im hinteren Teil des Zuges. Fahrgäste mit Reiseziel Wien werden gebeten, sich rechtzeitig beim Zugpersonal zu erkundigen, ob ein Kurswagen für sie unterwegs eingestellt wird. Der Kurswagen Moskau befindet sich am Ende des Zuges, gleich vor der mitlaufenden zweiten Lokomotive. Die Zugbegleiter werden Sie informieren, falls dieser Kurswagen abgekoppelt werden muß. Bitte einsteigen, zurücktreten bitte, Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges!“

Bahntypische Tücke beim Aufbruch zu einer gesamteuropäischen Reise? Kaum. – Jedoch: Der Zuglaufplan aus dem Madrider Bahnhofslautsprecher erinnert beileibe nicht nur von Ferne an jenen amibitionierten und komplexen Plan, den sich die Nordatlantische Allianz, kurz NATO, im Frühsommer 1997 für die Reise ins dritte Jahrtausend zusammengestellt hat.

Wandel durch Annäherung?

Gipfel werfen gewöhnlich lange Schatten. So auch der Madrider NATO-Gipfel 1997. Die Erwartungen waren hochgesteckt und die Ereignisse überschlugen sich bereits im Vorfeld.

Am 21. März 1997 vereinbaren die Präsidenten der USA und Rußlands anläßlich eines Gipfels in Helsinki eine ganze Reihe gemeinsamer Erklärungen, darunter zu den Themen „Europäische Sicherheit“ und „Nukleare Abrüstung“. Am 27. Mai 1997 unterzeichnen die Staats- und Regierungschefs der NATO und Rußlands die „Grundlagenakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation“, am 29. Mai wird im portugiesischen Sintra der Entwurf einer Charta zwischen der Ukraine und der NATO paraphiert. Ebenfalls in Sintra wird der Nordatlantische Kooperationsrat am 30. Mai in den Euro-Atlantischen Kooperationsrat umgewandelt. Das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ wird erweitert und intensiviert. Tags darauf, am 31. Mai unterzeichnen Rußland und die Ukraine einen „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft“, einschließlich einer (weiteren) endgültigen Vereinbarung über die seit Jahren umstrittene Schwarzmeerflotte. Wenige Wochen später öffnen im amerikanischen Denver die Staaten der G-7-Gruppe ihre Tagungen für die regelmäßige Beteiligung Rußlands. Der NATO-Gipfel am 8.und 9. Juli in Madrid lädt nach heftigem NATO-internen Streit Polen, Ungarn und die Tschechische Republik zu Verhandlungen über einen NATO-Beitritt rechtzeitig zum 50. Geburtstag der Allianz im April 1999 ein. Slowenien, Rumänien und den baltischen Republiken wird signalisiert, daß die NATO für künftige Erweiterungen offen bleibt. Die Charta zwischen der NATO und der Ukraine wird unterzeichnet. Sie betont das Recht der Ukraine, für eine Bündnismitgliedschaft zu optieren. Am 17. Juli legt Rußland den OSZE-Staaten das Konzept einer „Charta über Europäische Sicherheit“ vor. Und schließlich kurz vor der Sommerpause: Die gemeinsame Beratungsgruppe der Mitgliedsstaaten des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) präsentiert am 23. Juli ihre Einigung auf „Bestimmte grundlegende Elemente einer Anpassung des Vertrages“. Eine rekordträchtige Dichte relevanter Entscheidungen.

Europäische Sicherheit im Wandel durch Annäherung? Europa auf bestem Wege zu einer stabilen und auf Kooperation basierenden Sicherheitsarchitektur für das 21. Jahrhundert? Der russische Widerstand gegen die Osterweiterung der NATO letztendlich doch überwunden oder zumindest besänftigt? Die „neue NATO“ im Werden? Zweifel auf breiter Front sind angebracht. Europas Staaten stehen in der Sicherheitspolitik vor Wegscheiden.

Fotos: Alexander Lehar

Rußland und die NATO – Zwischen Kooperation und Konfrontation

Das Signal aus Moskau an die in Madrid versammelten Staats- und Regierungschefs war eindeutig: Weder Präsident Boris Jelzin, noch Außenminister Primakow als Unterhändler der Gründungsakte NATO-Rußland, noch Regierungschef Tschernomyrdin reisten an. Russland ließ sich nachgeordnet vertreten. Ebenso deutlich waren die Kommentare aus Moskau: Dort betonte die erste Mannschaft des Kreml, sie lehne das Vorhaben einer NATO-Osterweiterung weiter ab.

Die NATO reist auf riskantem Kurs Richtung Moskau. Die Erweiterung des Bündnisses ist ein gewichtiges Beispiel, aber nicht das einzige. Die politische Elite Rußlands, auch deren pro-westlichste Exponenten, steht der Erweiterung und der Entwicklung der NATO vorsichtig, skeptisch oder gar feindselig gegenüber.

Wichtige Duma-Abgeordnete, hochrangige Militärs und Mitglieder der Administration hatten sich in der russischen Diskussion über die geplante NATO-Erweiterung gegenseitig an Schärfe überboten. Diese stelle für Rußland eine Bedrohung dar und beweise, daß die Allianz nicht Kooperation, sondern Konfrontation wolle. Rußland müsse darauf mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren. Die Vorschläge dafür reichten vom politischen Protest, über wirtschaftliche Sanktionen, wie z.B. Sanktionen gegen in Rußland tätige westliche Firmen oder eine Beendigung der Rohstoff- und Energielieferungen nach Westen, bis hin zu sicherheitspolitischen Maßnahmen. Selbst Boris Jelzin nutzte zeitweise scharfes Geschütz und bot Weißrußland eine Neuvereinigung beider Staaten an. Er drohte mit der Möglichkeit, die militärische Kooperation zwischen den Staaten der GUS zu intensivieren.

Doch war und ist der russischen außen- und sicherheitspolitischen Elite zu jedem Zeitpunkt des Prozesses bewußt: Rußland verfügt gegenwärtig nicht über die erforderlichen Ressourcen und Mittel, die Osterweiterung der NATO zu verhindern. Rußland kann sie verzögern, verkomplizieren oder gar ein wenig behindern. Jeder weitergehende Schritt aber würde russische Interessen mehr schädigen als jene der alten oder neuen Mitgliedsstaaten der NATO. Also bleibt, durch geschicktes Verhandeln die russischen Sicherheitsinteressen bestmöglich zu wahren. Die Grundlagenakte zwischen NATO und Rußland ist das vorläufig letzte Ergebnis.

Die von Rußland geäußerten Sicherheitsbedenken werden immer wieder aus ein und derselben Grundüberlegung gespeist. Rußland erwartet von den USA und der NATO die Einlösung des Versprechens auf strategische Partnerschaft. Rußland will weiterhin als Supermacht behandelt werden und bei der Gestaltung einer europäischen Sicherheitsarchitektur für das Europa des 21. Jahrhunderts deshalb eine gleichgewichtige Rolle spielen.

Russische Politiker und Sicherheitsexperten kritisieren, die praktische Politik des Westens laufe auf das glatte Gegenteil des Versprechens strategischer Partnerschaft hinaus: die Ausnutzung der gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Schwäche Rußlands zum einseitigen Vorteil des Westens. Sicherheitspolitik, NATO-Erweiterung und selbst Rüstungskontrollvorschläge und -maßnahmen des Westens orientieren sich einseitig an den nationalen Interessen der NATO-Staaten, nicht aber an den legitimen Sicherheitsbedürfnissen Rußlands. Rußland solle, so der zumeist unausgesprochene Vorwurf, auf Dauer in die Rolle eines europäischen Brasiliens gedrängt werden: ein großer, potentiell reicher und mächtiger Lieferant von Rohstoffen, gefangen in Rahmenbedingungen, die den (Wieder-)Aufstieg zu einer führenden Industriemacht mit weltweiten Einflußmöglichkeiten strukturell verhindern.

Die russischen Bedenken manifestieren sich in verschiedenen Bereichen, die jeweils für sich genommen, entscheidende Auswirkungen auf die Zukunft europäischer Sicherheit haben.

1. Die Zukunft der nuklearen Abrüstung

Die außen- und sicherheitspolitische Elite Rußlands zeigt – auch nach Helsinki und trotz Gründungsakte NATO-Rußland – zur Zeit keine große Neigung, den START-II-Vertrag zu ratifizieren. Aus russischer Sicht ist der Vertrag zum einseitigen Nachteil Rußlands. Rußland müsse unsinnigerweise erhebliche Geldmittel aufwenden, um die vertraglich erlaubten Zahlen atomarer Sprengköpfe mittelfristig auf den zugelassenen Trägersystemen stationieren zu können. Den USA erlaube der Vertrag ungleich günstigere Voraussetzungen, aus START-II wieder auszubrechen.

Für Rußland sei ein Vertrag akzeptabel, wenn die USA sich an die traditionelle, enge Auslegung des ABM-Vertrages halten und die zuvor genannten Probleme, z.B. im Rahmen deutlich niedrigerer Obergrenzen (z.B. 1.800–2.000 oder noch weniger Sprengköpfe) für Rußland zufriedenstellend gelöst würden. Andernfalls sei es günstiger, den Vertrag erst gar nicht zu ratifizieren und die vorhandenen Atomwaffen weiter in Dienst zu halten.

Zudem: Die Erweiterung der NATO nach Osten werde der westlichen Militärallianz die Möglichkeit geben, zumindest in Krise oder Krieg ihre taktischen Atomwaffen so nahe an die russischen Westgrenzen zu verlegen, daß aus diesen im Prinzip Waffen mit für Rußland strategischem Bedrohungspotential würden.

Die beim russisch-amerikanischen Gipfel in Helsinki getroffenen Grundsatzvereinbarungen, nach der russischen Ratifikation von START II sofort einen START-III-Vertrag auszuhandeln, der die Potentiale der USA und Rußlands auf je 2.000–2.500 Sprengköpfe begrenzen soll, und zudem über die Einbeziehung sowohl inaktiver Sprengkopfpotentiale als auch gegebenenfalls taktisch nuklearer Waffen zu diskutieren, werden vielfach in der russischen Diskussion als unzulänglich erachtet. Die politisch bindende, einseitige Erklärung der NATO in der Grundakte, die Allianz beabsichtige unter den gegebenen Umständen keine Stationierung von Nuklearwaffen sowie auch keinen Bau und keine Nutzung von nuklearfähiger Infrastruktur in den neu hinzukommenden Mitgliedsstaaten, trifft ebenfalls auf Skepsis. Diese Zusage sei weder rechtlich bindend noch verhindere sie eine Ausbildung von Piloten aus diesen Staaten im Einsatz nuklearer Waffen schon zu Friedenszeiten.

Der Kurswagen Moskau ...

2. Die Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa

Der KSE-Vertrag gilt als letztes Kind des kalten Krieges. Unterzeichnet im Juli 1990 legt er gleiche zahlenmäßige Obergrenzen für konventionelle Großwaffensysteme in Ost und West fest. Heute existiert der Warschauer Pakt nicht mehr; die Sowjetunion ist aufgelöst; die ehemaligen Bündnispartner der Sowjetunion wollen der NATO beitreten. – Eine deutlich veränderte politisch-geographische Landkarte.

Aus russischer Sicht bedarf der KSE-Vertrag deshalb einer grundsätzlichen Überarbeitung, damit er den veränderten Realitäten nach dem Ende des kalten Krieges angepaßt werden kann. Die NATO bekomme durch eine Erweiterung – so befürchten russische Generalstäbler und Politiker – einen Stärkevorteil, der für einen erfolgversprechenden konventionellen Angriff hinreiche. Werde hier keine tragfähige Lösung gefunden, so werde Rußland gezwungen, taktischen Nuklearwaffen – analog zu den NATO-Vorstellungen der siebziger und achtziger Jahre – eine erheblich größere Bedeutung für die Kriegführung beizumessen. Eine neue Generation taktischer Atomwaffen müsse dann die konventionelle Überlegenheit des Westens ausgleichen.

Die NATO hat sich zu einer Überarbeitung des KSE-Vertrages bereiterklärt. Die bislang erreichten Übereinkünfte sind aber nicht geeignet, die russischen Befürchtungen grundsätzlich auszuräumen. Zwar wird die Bereitschaft der NATO-Staaten begrüßt, die Obergrenzen für die Zahl künftig zulässiger Waffensysteme weiter abzusenken.

Doch stehen zentrale Fragen auch weiter ungelöst im Raum: Rußland möchte die Möglichkeiten der westlichen Militärallianz begrenzen, nahe den Außengrenzen der GUS oder Rußlands flexibel militärische Kräfte zu konzentrieren. Vor allem die USA wünschen aber eine hohe Flexibilität, Kräfte überall im Bündnisgebiet konzentrieren zu können, wo dies erforderlich erscheinen könnte. Diese grundsätzliche Frage wurde bislang nur angerissen. Sie ist ein wesentlicher Grund dafür, daß das zum NATO-Gipfel geplante Rahmenabkommen über eine Anpassung des KSE-Vertrages nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte. Lediglich eine Einigung über weniger zentrale Teilaspekte konnte kurz vor der Sommerpause erzielt werden.

Sie läßt erahnen, daß es möglicherweise nicht gelingen wird, die künftig erlaubten Obergrenzen konventioneller Rüstung in Europa soweit abzusenken, daß sie sich an den heute noch vorhandenen Beständen orientieren. Die Chance zu weiteren Schritten realer konventioneller Abrüstung in Europa könnte so verpaßt werden.

3. Das NATO-Rußland-Verhältnis und die Europäische Sicherheitsarchitektur

Immer wieder hat die NATO Rußland strategische Partnerschaft und damit ein Sonderverhältnis angeboten. Doch in der Praxis kam man lange kaum weiter. Immer wieder verzögerte sich der russische Beitritt zum Programm „Partnerschaft für den Frieden“; die Gespräche über das NATO-Rußland-Verhältnis verharrten lange auf dem Niveau von Tagesordnungsdebatten. Die Ursache: Die Prioritäten werden unterschiedlich gesetzt. Während Rußland zunächst die Konturen einer Sicherheitsarchitektur für das Europa des 21. Jahrhunderts konzipieren wollte und dabei die Rolle der NATO deutlich zu reduzieren suchte, wollten die NATO-Staaten unter Führung der USA ihre Allianz Schritt für Schritt zum Kernelement eben dieser Sicherheitsordnung ausgestalten. Rußland sollte konsultiert werden, aber kein echtes Mitbestimmungsrecht erhalten. Dies schließe Kooperation mit Rußland – wie im Falle Bosniens – nicht aus, mache sie aber weder zur Regel, geschweige denn zur Pflicht.

Mit der Grundlagenakte zwischen NATO und Rußland ist nunmehr ein ambivalentes, interpretationsfähiges Zwischenergebnis erzielt worden. Die Akte betont den Willen beider Seiten, die OSZE zu stärken und zu einem wichtigen Instrument europäischer Sicherheit auszubauen. Sie schafft mit dem „Permanent Joint Council“ genannten NATO-Rußland-Rat und der diesem zugeordneten Arbeitsebene die Option auf Gremien und arbeitsfähige Strukturen, in denen die große Mehrzahl der künftig relevanten sicherheitspolitischen Fragen Europas kooperativ und gemeinsam behandelt, wenn nicht gelöst werden könnten.

Und doch: Der Wert der Akte wird einzig und allein durch die Art ihrer künftigen Implementierung bestimmt. Sie ist ein politisches Dokument, kein rechtlich bindendes. Es kommt auf den politischen Willen der Beteiligten – und dieser wird nicht zuletzt durch das politisch-psychologische Umgebungsklima bestimmt – an, die Akte mit Leben und praktischer Kooperation zu erfüllen, den institutionellen Unterbau für die Gestaltung von Kooperation zu schaffen und die erforderlichen auch materiellen und finanziellen Voraussetzungen zu ihrer Umsetzung zu schaffen. Ob aus der theoretischen Möglichkeit gelebte Praxis wird, bleibt abzuwarten.

Auf NATO-Seite ist nicht erkenntlich, daß dem Ausbau der Beziehungen der Allianz zu Rußland gleiche Aufmerksamkeit und Ressourcen zuteil werden sollen wie der Erweiterung des Bündnisses. Und die russische Regierung hat sich – mit dem Gang in die Duma zwecks unilateraler Ratifizierung – bereits eine Tür zum Rückzug eröffnet.

... befindet sich am Ende des Zuges.

Die USA, Europa und die „Neue NATO“

Vom „American Dictate“ war unter den europäischen NATO-Staaten die Rede, als der amerikanische Präsident Bill Clinton abrupt die gerade aufkeimende Debatte um die Zahl der Kandidaten für eine NATO-Mitgliedschaft sofort wieder beendete und seine Kandidaten benannte: Polen, Ungarn und die Tschechische Republik. Clintons Verdikt traf den Versuch des französischen Präsidenten Jaques Chirac, mithilfe vor allem der europäischen NATO-Mitglieder fünf statt nur drei neuen Staaten den Weg in die NATO zu ebnen.

„Keep the Russians out, the Americans in and the Germans down“, lautete seit ihrer Gründung ein immer wieder gerne zitiertes Gründungsväter-Rational für die Existenz der Nordatlantischen Allianz. In Madrid könnte den USA ein wesentlicher Schritt gelungen sein, diese Formel auf eine neue NATO umzuschreiben: „Keep the Russians out, the French down and the Americans in the lead“ – so könnte das neuformulierte Rational lauten. Zur Begründung:

„Keep the Russians out“

Rußland muß aufgrund der Ergebnisse von Madrid nicht nur mit weiteren „Öffnung“ genannten Schritten zur Ausdehnung der NATO nach Osten rechnen. Es muß auch davon ausgehen, daß diese Schritte in Zukunft möglicherweise nicht vor den territorialen Toren der ehemaligen Sowjetunion Halt machen. Das Communiqué des NATO-Gipfels hält die Möglichkeit offen, daß künftig weitere Staaten dem Bündnis beitreten. Neben Slowenien und Rumänien werden explizit die baltischen Staaten erwähnt. Die NATO-Ukraine-Charta verweist explizit auf das Recht und die Freiheit der Ukraine, sich künftig militärischen Bündnissen anzuschließen. Dieses Recht soll auch in einer quadrolateralen Charta Erwähnung finden, die die USA im September mit den baltischen Staaten abschließen wollen und deren Entwurf am 26. Juli den baltischen Partnern vorgelegt wurde. Diese enthält zudem eine Formel, in der die USA die Absicht der Balten, NATO- und EU-Mitglieder zu werden, explizit begrüßen.

Russische Befürchtungen über die Absichten der NATO werden damit bewußt virulent gehalten. Die Entscheidung, jetzt nur drei Staaten zur NATO-Mitgliedschaft einzuladen, verstärkt den Ruf und die politische Notwendigkeit, schon relativ bald eine zweite Erweiterungsrunde in Angriff zu nehmen. Dafür spricht auch die Wahl Ungarns, einer territorialen Exklave, die nur durch den Beitritt eines weiteren Staates an das NATO-Gebiet angekoppelt werden kann. Die NATO-Erweiterungsdebatte wird auf Jahre weiter das Klima zwischen NATO und Rußland bestimmen und – aus russischer Sicht – unter Spannung halten. Dies gilt umsomehr, als daß die NATO darauf verzichtet hat, ihrer Ostausdehnung erkennbare geographische Grenzen zu setzen. Offen bleibt die NATO auch für jene Staaten der GUS, die Rußland als „nahes Ausland“ betrachtet.

Das politisch-psychologische Klima für die in der Gründungsakte zwischen NATO und Rußland zumindest angedachten Kooperationsmöglichkeiten ist damit nicht nur negativ vorbelastet, sondern voraussehbar immer wieder neuen Belastungen ausgesetzt. Rußland steht vor der Wahl, die dort angelegten Kooperationsmöglichkeiten auszuschlagen, um gegen weitere Schritte der NATO-Ausdehnung zu protestieren oder aber diese hinzunehmen.

„Keep the French down“

Geradezu brüskiert wurde auch Frankreich durch die jüngsten Entscheidungen zur Transformation der NATO. Die Entscheidungen der Clinton-Administration ha-ben nach Form und Inhalt der Politik des französischen Präsidenten Chirac gleich in mehreren entscheidenden Punkten Niederlagen zugefügt.

Als Chirac kurz vor Beginn des NATO-Einsatzes im ehemaligen Jugoslawien erste Schritte zu einer Rückkehr Frankreichs in die militärische Integration der Allianz ankündigte, verfolgte der französische Präsident vor allem folgende Ziele:

  1. Frankreich sollte auch nach dem Ende der europäisch geführten UNPROFOR-Operation politisch wie militärisch in die Entscheidungen über das ehemalige Jugoslawien eingebunden bleiben.
  2. Frankreich sollte die geplante Transformation der NATO von innen heraus besser mitgestalten können. Dazu gehörte vor allem das französische Ziel einer stärkeren und gleichberechtigteren Rolle der europäischen NATO-Staaten im Bündnis. Für diese wollte Paris – im Gespann mit Bonn – eine Führungsrolle im Bündnis übernehmen.
  3. Europa sollte nach dem Willen Frankreichs „eigenständig handlungsfähig“ werden. Bei Desinteresse der USA sollten militärische Einsätze der europäischen NATO-Staaten unter Rückgriff auf die materiellen Ressourcen des Bündnisses, aber unter politischer Führung Europas ermöglicht werden. Frankreich versprach sich dabei den Anspruch auf eine führende Rolle.
  4. Die verstärkte europäische Kooperation in der NATO sollte zugleich der Herausbildung einer europäischen Verteidigungspolitik und schließlich einer europäischen Verteidigung, unabhängig von den USA und im Rahmen der Weiterentwicklung der Europäischen Union, dienlich gemacht werden. Die Westeuropäische Union geht dabei in der EU auf.

Aus Sicht der USA steht das Ziel der Herausbildung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität dagegen unter dem Vorzeichen, daß es im Rahmen der NATO und damit unter Mitwirkung der USA erreicht werden soll. Eine Stärkung Europas mit dem Ziel einer von den USA unabhängigen Handlungsfähigkeit ist nicht im Sinne Washingtons.

Auf diese Sichtweise verwies zunächst die Haltung der USA in der Diskussion über die Combined Joint Task Forces (CJTF) im Rahmen der NATO. Solche sollten unter Rückgriff auf Ressourcen der NATO auch unter WEU-Oberbefehl einsetzbar sein. Zugleich aber sollte den USA bei allen wichtigen Fragen ein Mitentscheidungsrecht erhalten bleiben.

Mit ihrer Weigerung, Frankreich bei einer vollständigen Rückkehr in die militärische Struktur der Allianz den Oberbefehl über das NATO-Oberkommando Süd des Bündnisses zu überlassen, verwehrte Washington Paris in der Folge, was es Bonn über Jahrzehnte gewährte – den Oberbefehl über eines der Regionalkommanden der Allianz.

Schließlich entschied die Clinton-Administration ohne Abstimmung mit Paris, die NATO-Erweiterung gegen den erklärten Willen Frankreichs auf die drei mittelosteuropäischen Länder zu beschränken. Torpediert wurde damit Frankreichs Versuch, die Osterweiterung der NATO zugleich zu einer Südosterweiterung zu machen. Torpediert wurde die französische Intention, den Einfluß der Südflanke der NATO zu stärken. Torpediert wurde Frankreichs relativ weit gediehener diplomatischer Versuch, Europa im Vorfeld des Gipfels politisch auf eine gemeinsame Position zur Erweiterung des Bündnisses zu einigen. Persönlich düpiert fühlte sich der französische Präsident, als er anläßlich des Treffens der G-8-Staaten in Denver vergeblich versuchte, die Diskussion im Gespräch mit US-Präsident Clinton erneut zu öffnen. „Wir vergeuden hier unsere Zeit“, zitierte ihn nach dem Gespräch eine französische Zeitung. „Wir sind nicht mehr als die Staffage in Clinton’s Marketing-Strategie. Die Amerikaner haben bereits entschieden, dies alles ohne uns zu machen.“

Die politischen Ziele, die Frankreich mit seiner partiellen Rückkehr in die militärische Struktur der NATO anstrebte, werden über die Einzelniederlagen gegen die USA hinaus beschädigt. Washingtons Entscheidungen haben Bonn und andere europäische Staaten an einer entschiedeneren Befürwortung der französischen Pläne zur Erlangung von mehr europäischer Eigenständigkeit gehindert. Der ohnehin schwierige Prozeß der Vertiefung der europäischen Integration auf sicherheitspolitischem und militärischem Gebiet wurde weiter verlangsamt. Das Ziel eines echten europäischen Gegengewichtes zu den USA rückte damit innerhalb wie außerhalb der NATO in größere Ferne. Paris hat erste Konsequenzen gezogen. Es hat seine weitere Rückkehr in die NATO-Strukturen zunächst gestoppt. Es hat angekündigt, sich nicht an der ungelösten Frage der Finanzierung der Osterweiterung zu beteiligen. Es wird weiter im Bündnis mitentscheiden, jedoch sein Engagement vorläufig nicht vertiefen.

„Bitte einsteigen, Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges!“

„Keep America in the Lead“

Die in Madrid beschlossene Erweiterung der NATO um lediglich drei Länder ist aus Sicht der USA dagegen gleich mit mehreren Vorteilen behaftet und sichert die Führungsrolle der USA im Hinblick auf die Sicherheitspolitik in Europa auf mittlere bis längere Frist ab.

  1. Rußland mit der Möglichkeit eines oder mehrerer weiterer Ausdehnungsschritte der NATO „unter Risiko“ zu halten, impliziert gute Voraussetzungen dafür, eine Mindestspannung im NATO-Rußland-Verhältnis aufrechtzuerhalten. Die NATO und Rußland werden so kaum zu primär strategisch kooperierenden Partnern; sie bleiben zumindest partiell, wenn nicht vom Grundsatz her Konkurrenten. Dies vergrößert das Bedürfnis nach und legitimiert die Europa-Präsenz der USA, einschließlich des damit verbundenen politischen Führungsanspruches. Gesichert wird zudem die Rolle der NATO als zentrale Institution jeder kurz- oder mittelfristig möglichen Sicherheitsordnung in Europa.
  2. Frankreich den Weg zurück in die Vollmitgliedschaft der NATO zu erschweren, führt ebenfalls zu Vorteilen aus Washingtoner Sicht: Die Spannungen zwischen jenen europäischen Staaten, die europäische Sicherheit unter Führung der USA und der NATO gestalten wollen und jenen, die auf eine Ausgestaltung der EU zu einem Europäischen Staat zielen, bleiben aufrechterhalten. Europas Weg zu einem global handlungsfähigen Akteur verzögert sich. Ausgehend von der Außen- und Sicherheitspolitik hat dies Auswirkungen auf andere Politikbereiche, z.B. die Weltwirtschaftspolitik oder die Rohstoffpolitik.
  3. Die aus Sicht mancher europäischer Staaten – zum Beispiel Frankreichs – durchaus mögliche Politik, „punktuelle strategische Allianzen“ zwischen Europa und Rußland anzustreben, bleibt aus amerikanischer Sicht ungefährlich, da solche Optionen angesichts der Führungsrolle der USA in Europa und weiterhin uneinheitlicher europäischer Positionen „mangels Masse“ keinen entscheidenden Einfluß ausüben können. Die Führungsposition der USA bleibt unangefochten.

Selbst innenpolitisch nutzt der Clinton-Administration ihr unilaterales Vorgehen, auch wenn es Freund wie Feind im Ausland zeitweilig irritieren sollte. Die Clinton-Administration besetzt in der Außenpolitik erfolgreich alle rationalen Positionen bis rechts der Mitte der amerikanischen öffentlichen Meinung. Zurecht fragt der bekannte Kolummnist Thomas L. Freedman in der New York Times kürzlich unter der süffisanten Überschrift „G.O.P.: M.I.A.“: [1] Gibt es überhaupt noch eine republikanische Außenpolitik? Besser als der Demokrat Clinton könnte auch ein Republikaner die Interessen der USA und ihren weltpolitischen Führungs- und Gestaltunganspruch als alleinig verbliebene Supermacht nicht durchsetzen.

In Sicherung der eigenen Führungsrolle könnten die USA deshalb künftig versucht sein, erneut das Rational für die NATO punktuell umzuformulieren: „Keep the Russians out, the Europeans splitted and the Americans in the lead“, könnte die neue Formel lauten.

Regionalzug, hält nicht in allen Bahnhöfen.

Optionen für eine konstruktive Wendung

Im Frühsommer 1993 lancierte der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe erstmalig die Idee der NATO-Osterweiterung. Kurz darauf warnte US-Präsident Clinton noch: „Warum sollen wir jetzt eine neue Trennline durch Europa ziehen, halt nur ein wenig weiter östlich? Warum sollten wir jetzt etwas tun, das die bestmögliche Zukunft Europas verbauen könnte?“ Solche Fragen gehören heute der Vergangenheit an. Schnell hat sich in den USA die Auffassung durchgesetzt, daß die Osterweiterung der NATO nicht nur dazu beitragen kann, die Führungsrolle der USA in Europa abzusichern. Sie hilft auch, die Existenz der NATO selbst abzusichern.

Dies ist mit einem wesentlichen Risiko verbunden: Die NATO ist ein System Kollektiver Verteidigung. Als solches gewährt sie einer per ressourcenbedingter Notwendigkeit begrenzten Zahl von Staaten Schutz gegen die Bedrohung von Territorium oder Interessen von außen. Als System Kollektiver Sicherheit braucht sie ein Gegenüber, außer ihrer selbst liegende Risiken, Bedrohungen bzw. „Feinde“. Als Militärbündnis – es war der Sozialdemokrat Tony Blair, der auf seiner Pressekonferenz in Madrid festhielt: „Die NATO ist kein politischer Club, sondern eine Militärallianz“ – wird sie Sicherheit vorrangig militärisch zu gewährleisten suchen.

Bedeutet diese Konstellation das vorläufige Aus für Konzeptionen gesamteuropäischer Sicherheit, für Konzeptionen kollektiver Sicherheit für Europa, für eine Stärkung der OSZE und für die Stärkung nichtmilitärischer Elemente von Sicherheitspolitik? Ist die Entwicklung irreversibel?

Mitnichten. Der Fahrplan für die Gestaltung europäischer Sicherheit „um den harten Kern NATO“ ist alles andere als widerspruchsfrei. Selbst das Reiseziel bleibt weiter umstritten. Die Interessen in der Allianz divergieren. Als Militärallianz ist die NATO für viele der anstehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen vergleichsweise schlecht gerüstet. Sie wird sich schnell anpassen müssen oder zum unbeweglichen Koloß erstarren.

Die Option für kooperative und kollektive Sicherheit in Europa offen zu halten, erfordert ein zweigleisiges Vorgehen. Zum einen bedarf es weiter des Versuchs einer systematischen Stärkung der OSZE. Diese muß gerade wegen ihrer vielfach erfolgversprechenden Arbeit trotz nur minimaler Ressourcen aus der Verbannung zur Arbeit an ausschließlich „weichen“ sicherheitspolitischen Fragen wieder herausgeholt und zur substantiellen Mitarbeit an den Kernfragen einer europäischen Sicherheitsstruktur für das nächste Jahrtausend befähigt werden. Zugleich gilt es, die NATO durch konkrete Vorschläge mit ihrer Verpflichtung zu kooperativer Politik und zur Stärkung kollektiver Sicherheitsstrukturen für ganz Europa immer wieder zu konfrontieren. Dazu könnten verschiedene Elemente beitragen:

  1. Die NATO-Staaten können und sollten die Initiative ergreifen, um im Kontext der Wiener Verhandlungen über eine Anpassung des KSE-Vertrages zu einer substantiellen Reduzierung der gegenwärtig noch vorhandenen konventionellen Rüstungspotentiale zu kommen. Eine solche Initiative gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen dafür, daß Rußland seine Sicherheitsinteressen gewahrt sieht, und Befürchtungen zerstreut werden können, der Westen könne eine zum Angriff taugliche konventionelle Überlegenheit erlangen.
  2. Von der Europäischen Union sollte im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Initiative zur Gründung eines EU-Rußland-Rates ausgehen. Neben sicherheitspolitischen, rüstungskontrollpolitischen, vertrauensbildenden sowie konfliktpräventiven Aufgaben, sollte dieser Rat insbesondere der technologischen und wirtschaftlichen Kooperation dienen und dazu beitragen, substantielle Elemente einer dauerhaften nicht-militärischen Kooperation zu gestalten, die direkt einer primär militärisch ausgerichteten Sicherheitspolitik entgegenwirken.
  3. Die USA sollten ihre Bereitschaft erklären, die nukleare Rüstungskontrolle dadurch voranzubringen, daß ein – auch von Rußland als fair wahrgenommener – START-III-Vertrag ausgehandelt wird – unabhängig von einer vorherigen russischen Ratifikation von START II. Ein solcher Vertrag sollte gemeinsame Obergrenzen für die Zahl aktiver und inaktiver Nuklearsprengköpfe enthalten; er sollte strategische und substrategische Nuklearwaffen unter einem gemeinsamen Dach begrenzen. Und er sollte die Eliminierung der substrategischen Nuklearwaffen beider Nuklearmächte in Europa festschreiben.
    Im Interesse Rußlands wäre ein solcher Vertrag, da Rußland sich die teure Modernisierung seiner strategischen Nuklearwaffen ersparen könnte. Im Interesse der USA könnte ein solches Vorgehen liegen, da Rußland sich vertraglich binden würde, seine weit höhere Zahl taktischer Nuklearwaffen abzurüsten. Die europäischen NATO-Staaten können zum Gelingen eines solchen Vorhabens wesentlich beitragen, indem sie nicht länger auf der Stationierung US-amerikanischer Nuklearwaffen auf europäischem Territorium beharren.
  4. Die von der NATO angekündigte Revision des „Neuen Strategischen Konzeptes der Allianz“ aus dem Jahre 1991 sollte genutzt werden, wesentliche Selbstverpflichtungen der Allianz zu einer Politik der kooperativen und kollektiven Sicherheit festzuschreiben. Elementen nicht-militärischer Sicherheit sollte hier ein erheblich größeres Gewicht verliehen werden.
  5. Alle westlichen Staaten gemeinsam sollten zudem überprüfen, ob sachliche Notwendigkeit oder eher eine „Politik der Symboliken“ dazu zwingt, den ersten Schritt der Erweiterung der NATO „um jeden Preis“ bis zum 50. Geburtstag des Bündnisses zu vollziehen. Liegt die Kernfrage europäischer Sicherheit in einer konstruktiven Gestaltung des Verhältnisses zwischen den NATO-Mitgliedern und Rußland und nicht in einer Erweiterung der NATO, so kommt der konstruktiven Ausgestaltung des NATO-Rußland-Rates und der OSZE zumindest vorläufig Priorität gegenüber einer Erweiterung der NATO zu.
  6. Und schließlich kann auch Rußland weit mehr zu einer kooperationsorientierten Entwicklung beitragen als bislang in Rußland in der Diskussion. Die Entscheidungsträger in Rußland wissen, daß Rußland nicht wirklich über die erforderlichen Ressourcen verfügt, um eine neuerliche kalte, lauwarme oder gar heiße politisch-militärische Konfrontationspolitik gegenüber der NATO zu praktizieren. Weder eine vollständige Modernisierung der konventionellen noch der nuklearen Streitkräfte ist finanzierbar. Ja selbst die Aufrechterhaltung der Rußland unter den heute gültigen Rüstungskontrollverträgen zugestandenen Rüstunspotentiale steht unter finanziellen Gesichtspunkten nicht als realistisch zur Debatte. Zudem liegen die russischen Sicherheitsprobleme der nahen und mittleren Zukunft vorrangig an den südlichen Grenzen des Landes und bei der für Rußland entscheidenden Möglichkeit der Mitbestimmung in Fragen der Rohstoffpolitiken der südlichen Mitglieder der GUS. Rußland muß deshalb daran interessiert sein, mit den großen Machtblöcken an seinen Grenzen, China im Osten und der NATO im Westen, in zumindest lesidlich kooperativer Atmosphäre zu koexistieren.
    Gegenüber der NATO und deren Mitgliedsstaaten bietet sich deshalb für die russische Seite eine Politik des „constructive engagements“ [2] an. Sie verspricht, der effektivste, ressourcenschonendste und politisch produktivste Weg zu sein, mit den russischen Sicherheitsbedenken in Europa umzugehen. Hier kommt den russischen Initiativen zu einer konstruktiven Implementierung der NATO-Rußland-Akte und des NATO-Rußland-Rates eine immense Bedeutung zu. Investiert Rußland erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen in einen substantiellen und kooperationsorientierten Dialog mit der NATO, so kommt dies billiger und ist effektiver als der Versuch, Optionen militärischer Konfrontation und Kooperation gleichzeitig aufrechtzuerhalten. Zudem entgeht Rußland durch ein solches Vorgehen der Gefahr, in die Rolle des notorischen „Nein-Sagers“ oder gar jener Nation gedrängt zu werden, die „neue Trennlinien durch Europa“ zieht. Vielmehr kann Rußland so erreichen, daß die NATO-Staaten ihrerseits die russischen Initiativen konstruktiv aufnehmen oder aber zugeben müssten, daß sie „soviel Kooperation“ mit der Russischen Föderation denn nun auch wieder nicht wollten.

[1G.O.P. = Grand Old Party, = Republikanische Partei; M.I.A. = Missed in Action = militärischer Terminus technicus für im Einsatz verschollene Soldaten.

[2Der in den USA häufig verwendete Begriff des constructive engagement meint mehr als der deutsche Begriff des „konstruktiven Dialogs“. Er zielt auf eine kontinuierliche Verwicklung, Einbeziehung in und Beeinflussung durch Konsultation und Kooperation.

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