Grundrisse, Nummer 26
Mai
2008

Die Politisierung der Trauer

Mehr als fünf Jahre nach den Aufstandsereignissen in jenem argentinischen Dezember 2001 stellen wir fest, wie sehr sich unsere Interpretationen und seelischen Verfasstheiten durch jenes Ereignis veränderten. Für viele von uns begleitete ein Gefühl der Trauer eine bestimmte Phase dieses verschlungenen Werdens. Dieser Text versucht einen Moment der Aufarbeitung „jener Trauer“ zu bergen, und zwar in doppelter Absicht: Einerseits wollen wir zeigen, dass die Berufung auf einen offenen Prozess mit der Überwindung der Vorstellungen von „Sieg und Niederlage“ einhergeht, die dem vorhergegangenen Politisierungszyklus angehören, der durch die Übernahme der Staatsmacht als letztem emanzipatorischen Horizont gekennzeichnet ist. Andererseits möchten wir von einer Vorgehensweise berichten, die es uns in einem bestimmten Moment ermöglichte, ein intime Empfindung von Personen und Gruppen „öffentlich zu machen“ und dergestalt unseren Einsatz im derzeitigen historischen Prozess wiederzufinden. Die Streuung dieses Textes ist ein wichtiges Moment in der Herstellung einer solchen Öffentlichkeit.

Die Trauer folgte auf das Ereignis: Im Anschluss an das politische Freudenfest – aus Sprachen, Bildern und Bewegungen – stellte sich eine reaktive und zerstreuende Dynamik ein. Damit ging jenes Moment einher, das später als Verringerung der durch das Ereignis ins Spiel gebrachten Fähigkeiten zur Öffnung und Innovation erlebt wurde. Auf die Erfahrung der sozialen Erfindung (die immer auch die Erfindung von Zeit impliziert) folgte ein Moment der Normalisierung. Das „Ende des Fests“ wurde ausgerufen und die gelebte „Ausnahme“ mit einem Ablaufdatum versehen. Nach Spinoza besteht Trauer in einem Getrenntsein von unseren Mächten, von dem, was wir vermögen. Unter uns nahm die politische Trauer oftmals die Form von Unvermögen und Melancholie an, und zwar angesichts der wachsenden Distanz zwischen jenem sozialen Experiment und der politischen Vorstellungskraft, die zu seiner Entfaltung fähig war.

Als Losung beinhaltet die Politisierung der Trauer einen Versuch von Widerständigkeit: Die erneute Verständigung darüber, was in jenem kollektiven Experiment in einer neuen Dynamik des Öffentlichen aufblitzte, denn, weit davon entfernt, entwichen oder unterbrochen zu sein, liegt der damals offene Prozess den Mustern, die im gegenwärtigen Argentinien anzutreffen sind, als Dilemma zugrunde. In diesem Kontext und unter dieser Losung traf sich daher - immer montags, im Verlauf von mehreren Wochen Ende des Jahres 2005 - ein vielfältiger Zusammenschluss von Kollektiven, die in den letzten Jahren in Argentinien die gelebte Erfahrung politischer Transversalität miteinander geteilt hatten: Grupo de Arte Callejero (GAC, Gruppe für Straßenkunst), die mit Bildungsfragen beschäftigte Gemeinschaft Creciendo Juntos (Gemeinsam Wachsen), das Movimiento de Trabajadores Desocupados (MTD, Bewegung der Arbeitslosen) der Stadtteile Solano und Guernica, das Kommunikationskollektiv lavaca sowie das Colectivo Situaciones.

Die Neugier unserer compañeros des auf Moskau und Petersburg verteilten Zeitungskollektivs „Chto Delat“ (Was tun?) führte dazu, dass wir den Aufzeichnungen dieser vor mehr als einem Jahr stattgefundenen Treffen, erneut begegneten. Wir extrahierten zunächst eine Reihe von Mechanismen zur Verallgemeinerung der Trauer und setzten diese in einen Zusammenhang mit den sie organisierenden Kräften (I. Die politische Trauer); daraufhin untersuchten wir die Eigenschaften einer Neuzusammensetzung, die der Trauer widerstehen kann (II. Die Politisierung der Trauer). Die Niederschrift dieses Textes erzählt das damals Diskutierte unweigerlich aus unserer eigenen Perspektive, was - ebenso unvermeidbar - impliziert, dass die Erzählung in der Hitze einer nach wie vor andauernden Dynamik erfolgt.

I. Die politische Trauer

1. Die Logik der SpezialistInnen gewinnt die Oberhand: „Wenn du Politik machst, mach Politik; wenn du dich der Kunst widmest, sollst du keine Politik machen, denn in der Kunst gehen wir mit Bildsprache und Ästhetik um und können darüber befinden, was Kunst ist und was nicht.“ Dieselbe Art von Grenze wird seitens der Sozialwissenschaften sowie der Philosophie gezogen: Es muss unterschieden werden, wer zur Begriffsschöpfung und zum legitimen Gebrauch sozialer Forschung befähigt ist und wer sich der „politischen Propaganda“ hingibt. Die SpezialistIn arbeitet mit Kategorisierungen, die zur Folge haben, das Produzierte „abzusondern“ und zu entkontextualisieren, um es der geschlossenen Sprache eines scheinbar autonomen und besonderen „Feldes“ unterzuordnen. Auf diese Weise gelingt den Kategorien der SpezialistInnen, nach einer Zeit der „Unordnung“, die Wiederherstellung und Wiedererweckung von Klassifikationen, die sich - und darauf setzen sie - niemals vollständig auflösen. Die SpezialistIn fordert eine Distanzierung von der gelebten Erfahrung, denn gerade in dieser Abwendung kommt ihre eigene „kritische Fähigkeit“ zum Vorschein. Die von ihr realisierte Analyse sieht von den politischen Handlungen ab, die den Anstoß zu einem Werk, einer Parole oder einer Bewegung gaben. Der Effekt läuft auf eine Entpolitisierung hinaus.

Weiters gibt es die PolitikexpertInnen, die die Unordnung in einem entgegengesetzten Sinn organisieren: „Hast du keine bestimmte Machtstrategie, dann ist die Politik wohl nicht ‚dein Ding‘, sondern eher ‚sozialer Aktivismus‘, Fürsorge, Journalismus, Gegenkultur usw.“ Auf diese Weise wird die in jeder Schöpfung politischer Figuren vorausgesetzte Hybridisierung absichtlich mit einem Kostümfest verwechselt, nach dem dann die alten klassifizierenden Mächte neuerlich Uniformen verteilen.

Dennoch setzt die Hybridisierung eine gewisse Unumkehrbarkeit voraus: Ein soziales Tun, das eine untergeordnete Eingliederung ins Spiel der neuen Regierungsformen ebenso wenig akzeptiert wie seine Reduktion auf ein bloßes Studienobjekt; eine Art von mikropolitischer Untersuchung, die sich der Umwandlung in eine Doktrin widersetzt; eine Ausdrucksform der Straßen und Gassen, die einen neuen modischen Kanon aufblitzen lässt; oder auch Kommunikationsformen, die sich nicht in Richtung einer erneuerten Knechtschaft in den großen Medien regulieren lassen.

2. Wiederholung ohne Differenz. Die Schlüssel der (ausdrucksstarken und organisatorischen) Produktivität, die sich in einem Moment kreativer Erregung (wie jener, den wir im Jahr 2001 kennen lernten) erahnen ließ, macht „Zusammenschlüsse“ zwischen Personen und Gruppen ebenso möglich wie Sprachvermischungen, in denen die UrheberInnenschaft dessen, was zutage tritt, weit weniger wichtig ist als die Frage, an welchem Punkt sich die Energien verfestigen. Selbst wenn diese Effekte tausend und einmal wieder erlebt werden können, halten sie doch ihrer Wiederholung außerhalb der sinnstiftenden Situationen nicht stand, ohne sich in eine Formel zu verwandeln. Die Trauer entspringt der Erkenntnis dieser Entwurzelung, als Politik perfektioniert sie sich aber erst dann, wenn die bloße Wiederholung sich in einer zur Anwendung bereiten Formel verdichtet und behauptet. Was in diesem Automatismus der Formel erstarrt, ist unsere eigene Fähigkeit zur Verzeitlichung des Prozesses. Wenn die Schöpfung der Zeit auf dem Eröffnen von Möglichkeiten beruht, dann verhindert die politische Trauer im Allgemeinen die Verarbeitung des Erlebten als gegenwärtige und zukünftige Möglichkeit. Das lebendige Vergangene erstarrt, da seine Verarbeitung als politische Erinnerung unterbrochen wird. Die Melancholie lähmt uns, weil sie jede virtuose Verbindung zwischen dem erlebten Vergangenen und der Gegenwart als Möglichkeit blockiert. Was in einem bestimmten Moment noch Erfindung war, wird mithin als Modell und Vorschrift entstellt.

3. Die Dauer als Gültigkeitskriterium. Die Jahre 2001 bis 2003 wurden von der Frage begleitet, wie sich die Gruppen und Bewegungen miteinander in Beziehung setzten, welche Art von gemeinsamen Aufgaben durch einen Zusammenschluss möglich wurden sowie welche Aufgabenstellungen derartig flexible Bündnisse unterbanden. In jeder Gruppe bzw. in jedem (künstlerischen, politischen oder sozialen) Kollektiv ging die Fragestellung aus den Praxen hervor, die sich jenseits dieser Gruppen bzw. Kollektive, in einem gemeinsamen Außen entfalteten. Ein zentraler Gedanke zur Ermächtigung dieser Begegnungen bildete die Idee der „dritten Gruppe“: Gruppierungen aufgrund von Aufgabenstellungen, die nicht nur die Differenzen zwischen den Gruppen verringerten, sondern diese zugleich in regelrechten Bild-, Wort- und Organisationslaboratorien miteinander verknüpften. In ihrem Streben nach Vereinfachung kommt die Trauer zu dem Schluss, dass die zeitliche Begrenztheit des Experimentierens ausreicht, um es in seiner Bedeutung herabzuwürdigen und jenes erahnte „gemeinsame Außen“ ebenso verschwinden zu lassen wie die Verfahren, die dazu bestimmt waren, diesem Außen eine Form zu geben. Dies löst zugleich den tieferen Sinn des Prozesses auf.

4. Geringschätzung der Sozialisierung der Produktion: „Ein Werk ist nicht das Erbe der ProduzentIn.“ „Jede/r kann Bilder oder Konzepte, Affekte oder Kampfformen, Kommunikationsmittel oder Ausdrucksweisen hervorbringen.“ Diese Aussagen machten Sinn, solange durch eine Art unpersönliche kollektive Produktion Verfahren in Umlauf gebracht und Erfahrungen eines Schaffens sozialisiert werden konnten. Eine Logik der „Ansteckung“ durchdringt in bestimmten Momenten die Kampfformen ebenso wie die Ebene der Bilder und Untersuchungen, da sie die Kontrolle, welche die Unternehmen und ihre Marken im Reich der Zeichen entfalten, in Frage stellt. Die normalisierende Reaktion stellte sich im Anschluss daran ein, um diese virale Ausbreitung über eine Rekodifizierung der zirkulierenden Bedeutungen zu bändigen und dergestalt erneut die Befehlsgewalt über sie zu erlangen.

Der Normalisierung auf dieser Ebene standen verschiedene Prozeduren zur Seite:

Die Sinnentleerung kollektiver Losungen mittels ihrer Literalisierung (gewaltsame Verkürzung ihrer Virtualitäten), wie beispielsweise im Falle des „Que se vayan todos“ (Alle sollen abhauen) vom Dezember 2001;

die Unterstellung eines verborgenen Sinns, Ergebnis der „Manipulation“, als gewohnheitsmäßige Lesart der Phänomene kollektiver Kreativität („Hinter einer jeden autonomen und horizontalen Tendenz verbirgt sich nur eine List der Macht ...“ oder auch: Jede „scheinbar spontane“ Mobilisierung findet ihre „geheime Wahrheit“ in den Machtformen, die sie im Schatten „orchestrieren“);

die gängigsten Vorurteile eines „reaktiven Ökonomismus“, die in tausenden Phrasen dieser Art ihren Ausdruck finden: „Die Piqueteros wollen nur Geld, ohne dafür zu arbeiten“; „die Mittelschicht geht nur dann auf die Straße, wenn ihr in den Geldbeutel gegriffen wird“ sowie all die anderen Formen, das subjektive Spiel auf die Finanzkrise zu reduzieren;

das Unterschätzen der kreativen Hybridisierung, die durchwegs als Mangel an Feldspezifika verstanden wird und nicht als erfindungsreiche Verfasstheit der Figuren und Verfahren;

die mechanische Identifikation der „Mikro-“ Ebene mit dem „Kleinen“, ein apriorisches Urteil, demzufolge die konkreten Formen der Revolte mit einem vorgängigen, lokalen, außerordentlichen Moment gleichgesetzt werden, das abgesondert von einer (größeren) „Makro-“ Wirklichkeit existiert und entsprechend den Richtlinien verwaltet werden muss, die der kapitalistischen Hegemonie und ihren Systemen der Überkodifizierung entspringen.

5. Die Vereinnahmungsapparate. Das klassische Dilemma hinsichtlich der Institutionen - sich mit ihnen einlassen oder sich entziehen? - wurde in gewisser Weise zum Zeitpunkt der größten sozialen Tatkraft überwunden. Die Mittel, die die Kollektive und Bewegungen den Institutionen abnötigten, gaben weder den „Sinn“ ihrer Verwendung noch ihres Funktionierens vor. Sie wurden sogar im Gegenteil zum Getriebe einer anderen Maschine, die der Art und Weise, sich mit jenen Institutionen in Beziehung zu setzen, einen anderen Sinn verlieh, ohne jedoch einfältig zu sein, und dergestalt praktisch unter Beweis stellte, wie jene Dynamik von einem Kräfteverhältnis abhing. Das Auftauchen all dieser außerinstitutionellen Verfahren, das mit dem Moment der größten Präsenz und Wortgewalt der Bewegungen in der öffentlichen Sphäre zusammenfiel, zielte auf eine radikale Demokratisierung der Beziehung zwischen den kreativen Dynamiken und den Institutionen, dem Sinngehalt und den Mitteln. Die Institutionen, die eine Verständigung über die Bedeutung jener Neuheiten anstrebten, gingen zumeist nicht über eine teilweise Erneuerung hinaus: Nicht, weil sie die von Bewegungen und Kollektiven ins Spiel gebrachten Prozeduren ignorierten, sondern weil sie die umstrukturierenden Folgen der institutionellen Dynamik vergaßen, die derartige Instanzen verursachten; nicht, weil sie danach trachteten, den Absichten der Bewegungen einen entgegengesetzten Sinn zu verleihen, sondern weil sie die den Bewegungen eigene Ebene unterschätzten als den Ort, an dem die mit der Sinnproduktion einhergehenden Probleme aufgeworfen werden.

6. Die Autonomie als Korsett. Bis zu einem gewissen Moment war die Autonomie beinahe gleichbedeutend mit der Transversalität zwischen den Kollektiven, Bewegungen und Personen. Diese positive Resonanz bot ein Entwicklungsterrain für einen instituierenden Dialog abseits des Kapitalkonsenses und der alternativen „Herren“ der Parteiapparate. Aber wenn die Autonomie zur Doktrin wird, verliert sie ihre Empfindsamkeit gegenüber der Transversalität, aus der sie sich speist und der sie ihre wirkliche Macht schuldet. Wenn sich die Autonomie in eine Moral und/oder eine eingeschränkte politische Linie verwandelt, erstickt sie in einer engen Partikularität und verliert ihre Fähigkeit zur Öffnung und Innovation. Den autonomen Gruppen und Bewegungen erscheint die Trauer als drohende Kooptierung oder als Ende der Suchbewegung. Sie empfinden sie außerdem als Schuldvorwurf wegen dem, was sie nicht taten, wozu sie „nicht fähig waren“, oder als genau jenes paradoxe Werden der Normalisierung, das als eine Konsequenz ein bestimmtes Maß an Ressentiment mit sich bringt.

7. Plötzlich im Rampenlicht. Die Performanz der Massen, Voraussetzung für jenes Aufblitzen der Gegenmacht in Argentinien Ende 2001, wurde begleitet von einer schonungslosen Veränderung der Landkarte relevanter AkteurInnen aber auch der Parameter für das Verständnis und den Umgang mit diesem neuen sozialen Protagonismus. Die (vielleicht unvermeidbare) Spektakularisierung produziert das Spektakel: Sie instituiert Stars und etabliert anerkannte Stimmen. Das Konsumverhältnis mit den „heißen“ Konfliktzonen führte zu einen erbarmungslosen Stimmungswandel, im Zuge dessen die Kollektive und Bewegungen zuerst beobachtet, beklatscht, begleitet und ausgezeichnet wurden, um sodann unerwartet ignoriert, ja sogar verachtet zu werden, was für gewöhnlich mit einer Mischung aus extremer Einsamkeit, Enttäuschung und Schuldbewusstsein erlebt wurde.

II. Die Politisierung der Trauer

Die Trauer zu politisieren bedeutet, entgegen möglicher anderer Interpretationen, nicht, „von“ ihr zu sprechen und sie zu bedenken, sondern von ihrer Realität auszugehen: sich „in“ und „gegen“ die Trauer zu verhalten. Eine Politik „in“ der Trauer darf nicht als traurige Politik verstanden werden. Als genaues Gegenteil einer Politik der falschen Feierlichkeit, die tatsächlich elend und im Wesentlichen melancholisch ist, strebt die Politisierung der Trauer danach, dieser die Freude an der Politisierung entgegenzuhalten: Eine Einübung in die Wiederaneignung und Neuinterpretation des bis dato Erreichten als Prozess und nicht als bloße Faktizität, die sich uns auferlegt. Der Gehalt dieser Suchbewegung lässt sich in einigen Punkten darlegen:

1. Eine neue Intimität, die eine Neukombination zwischen spontanerer und unmittelbarerer Handlung ebenso aufrecht zu erhalten vermag wie Projekte, die nach einer größeren Nachhaltigkeit in der Zeit und einem vorsichtigeren Alltag verlangen, in dem ein Hören und Gehört-Werden selbst dann noch möglich sein soll, wenn die Zufälligkeiten der Wahrnehmung noch schwankender werden. Es handelt sich darum, mehr Souveränität über die Dimensionen des täglichen und kollektiven Lebens zu erlangen, um so, in Ruhe, eine Erneuerung im Zusammenwirken zeitlicher und existenzieller Ebenen zu erarbeiten.

2. Hervorbringung des Ereignisses angesichts der Erinnerung als Macht. Das mit Vermögen beladene Vergangene ist ein für die verschiedensten Interpretationen offenes Terrain. Es geht nicht darum, sich mit der Vergangenheit zu rühmen und in Erwartung einer buchstäblichen Wiederholung zu verharren, vielmehr gilt es, das Vergangene als Inspirations- und Wissensquelle auf der stetigen Suche nach neuen Öffnungen zu erarbeiten. Der Prozess läuft nicht auf Niederlagen und Siege hinaus, aber dennoch ist es möglich, dass wir erstarrt und von seiner Dynamik entfernt bleiben. Einstmals erfolgreiche Formen und Formeln widerlegen zu lernen, darf kein Phänomen im Bereich der Reue oder Heuchelei sein. Im Gegenteil: Uns von der Art und Weise „loszumachen“, in der wir an der Melancholie festhalten, kann nur im Rahmen einer neuerlichen Hinwendung zum Prozess fruchtbringend sein, der uns auch abverlangt, unsere Empfindsamkeit und Intuition hinsichtlich der Möglichkeiten wachzurufen. Eine bestimmte Form loszulassen, kann demnach nur bedeuten, alle Formen als Möglichkeiten zurückzugewinnen, sich mit einem richtigen politischen Erinnerungsvermögen zu wappnen.

3. Keine Opferhaltungen. Sich der Trauer zu stellen, erlaubt Formulierungen, die in der vormaligen „Niederlage“ verschlossen blieben: Schloss uns die Niederlage über einen langen Zeitraum (den des „Triumphs der anderen“, der KapitalistInnen und UnterdrückerInnen) aus dem Spiel aus, so verweist die - bescheidenere - Trauer nur auf unsere momentane Entkoppelung in einem dynamischen Prozess, der jedoch keineswegs als lang währende, periodisch (durch Krisen der Herrschaft) unterbrochene (Stabilisierungs-) Phase verstanden werden muss, sondern vielmehr als ein kontinuierlicher, immer wieder vom politischen Kampf durchkreuzter und durchkreuzbarer Prozess. Dass Macht traurig macht, liegt auf der Hand! Aber gerade darum verweigert die Politik im Prozess den Gehorsam und kehrt zum eigenen Vermögen zurück (so gering es auch sein mag). Bedeutet die Trauer vor allem eine Unterbrechung des Prozesses, dann genügt eine Opferhaltung nicht, da sie nur eine andere Form ist, sich in der Trauer einzurichten. Die Trauer ist nicht nur eine Politik der Macht, sondern - und vor allem - der Umstand, in dem die Machtpolitiken Macht erlangen.

4. Die Macht der Enthaltung. Bestätigt sich die Macht des Tuns in der demokratischen Souveränität, die wir darin aktualisieren können, dann kann die Umsicht der Politisierung der Trauer vielleicht als ein „Sich-Enthalten“ verstanden werden, in dem die Ruhe und die scheinbare Passivität ihren aktiven und subjektiven Gehalt radikal bewahren. Ein „Ich möchte lieber nicht“, das nicht aufgeht in der bloßen Entsagung rückläufiger Kräfte, die über die Welt hereinzubrechen drohen, sondern - im Gegenteil - als Form der Besonnenheit begriffen werden muss, die darauf beruht, nicht aufzuhören, sich Zeit, Worte und eigene Konturen zu geben. Eine grundsätzliche Bereitschaft, ungeachtet jeder Prophezeiung und jedes „trotz allem“. Kein Sich-Seinlassen, sondern das völlige Gegenteil: Eine scheinbare Unveränderlichkeit, die es uns erspart, mitgerissen oder einfach bezwungen zu werden und demzufolge ein aufmerksames und flinkes Denken verlangt.

5. Neue öffentliche Räume. Die öffentliche Existenz instituiert sich unausweichlich in der Form, in der wir in Erscheinung treten und ein Erscheinen, das Fragen stellt, ist ein radikal politisches Erscheinen. Und selbst dort, in den Erscheinungen, genügt die Unterscheidung zwischen selbstgefälligen Fragen und jenen anderen, die tatsächlich danach trachten, die Dynamiken der Prozesse zu erfassen. Die Institution öffentlicher Räume, in denen wir, willens auf den Situationsgehalt zu hören, mit unseren wirklichen Fragen in Erscheinung treten, verlangt keine außergewöhnlichen Bedingungen, aber doch eine nichtstaatliche Institution des Kollektiven. Es handelt sich in jedem Fall um das, was die Mujeres Creando (Schöpferische Frauen) „konkrete Politiken“ nennen und in deren Dynamiken wir uns im letzten Jahr wiederfinden konnten. Die Schaffung des nichtstaatlichen Öffentlichen, eine Untersuchung der Formen seiner Institution sind konkrete Möglichkeiten, nicht in der Zuweisung von Orten gefangen zu bleiben, die uns die Normalisierung auferlegen möchte.

6. Die erneute Herstellung des Kollektiven. Das Kollektive als Prämisse und nicht als Sinn oder Ziel: Das heißt, nicht nur als Fortdauern einer bestimmten Interventionsform, geeignet für einen Zeitraum, sondern auch als jener „Rest“, der einer Anstrengung von erneutem Zuhören und Übersetzen entspringt. Das Kollektive nicht nur als Koordinierung von Aktivitäten und Parolen, sondern auch als vorsichtige Voraussetzung zur Entfaltung einer neuen Wahrnehmung, ganz ohne apriorische Schemata hinsichtlich der Formen der Gruppenbildung selbst. Das Kollektive als politische Produktionsebene, als Entwicklung der Kooperation und zugleich als wechselseitiges Geleit in der Erfahrung. Es geht nicht um Gruppenformeln, sondern darum, Schlüsselbegriffe und Fragen zu erarbeiten, in Situationen zu intervenieren und schließlich das Kollektive selbst wieder hervorzubringen. Das Gemeinschaftlich-Kollektive stellt immer eine Herausforderung zur Öffnung auf die Welt dar. Nicht bloß eine Anschauung des „Außen“, in den Begriffen der klassischen Topologie von Innen und Außen, die zwischen einem „gemeinschaftlichen Innen“ und einem „äußerlichen Außen“ unterscheiden würde, sondern vielmehr als KomplizInnenschaft in jenem Abenteuer, das darin besteht, sich in eine situationsbezogene Zwischenphase in der Welt zu verwandeln. Kollektive nicht nur als Agitationsgruppen (oder ihr Widerpart, als Selbsthilfegruppen), sondern als lebendige Instanzen der Erarbeitung. Das Kollektive ist also auch kein Aktivismus des Sichbewegens, sondern vielmehr eine neue Kraft zur Partizipation im Prozess, und zwar durch mannigfaltige und variable Tonarten.

III. Die Transformation des Augenblicks und die „Anerkennung“ denken

Zum Schluss eine Hypothese: Die aktuelle Dynamik schafft Platz für das, was wir eine „neue Regierbarkeit“ nennen könnten (neue Legitimationsmechanismen der Eliten, aber auch Innovationen in der Art und Weise, das Verhältnis zwischen Regierung und Bewegungen, zwischen internationaler Politik und „Innen-“ Politik zu verstehen; eine neue Auffassung von regionaler Integration und globalem Multilateralismus). Die Trauer fortzusetzen, kommt einer Isolierung in dieser neuen Phase des Prozesses gleich.

Als „Übersetzung“ des Ereignisses gewährt die „neue Regierbarkeit“ den instituierenden Dynamiken Anerkennung und eröffnet nicht erträumte Spielräume in der dem reinen und harten Neoliberalismus vorgängigen Phase. Dennoch erweist sich diese Anerkennung als formal und beschränkt; ja, manchmal sogar nur als taktische List, um die alten Strukturen und Konzeptionen zu erhalten. Die Ambivalenz der gegenwärtigen Situation drückt sich darin aus, dass die kollektiven instituierenden Dynamiken zwar anerkannt werden, gleichzeitig jedoch eine Anstrengung zu ihrer Kontrolle und Neuorientierung unternommen wird. Weder bleibt Raum für ein „Erfolgsgefühl“ wegen Ersterem, noch für ein Gefühl des „Scheiterns“ wegen Zweiterem. Mit der Drift von der politischen Trauer zur Politisierung der Trauer suchen wir nach Möglichkeiten, diese Dilemmas aufzugreifen, die sich uns auftun angesichts des immer gegenwärtigen Risikos, dass wir uns in fixen und daher illusorischen Binaritäten verlieren, die als Sieg/Niederlage, Erfolg/Misserfolg in Erscheinung treten. Paolo Virno fasste das, womit wir heute konfrontiert sind, folgendermaßen zusammen: Jenseits des verderblichen Oszillierens zwischen Kooptierung und Marginalisierung setzt die Möglichkeit einer „neuen Reife“ ein.

Buenos Aires, 13. Februar 2007

Übersetzt von Birgit Mennel in Zusammenarbeit mit Tom Waibel und Stefan Nowotny, deren zahlreiche Kommentare, Anregungen und Überarbeitungsvorschläge diese Übersetzung möglich und auch lehrreich ;-)) gemacht haben.

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