FORVM, No. 485/486
Juni
1994

Die Rassistenrepublik wird zum Staat des ganzen Volkes

Südafrika

Dem europäischen politischen Verstand gilt die Auflösung der südafrikanischen Homelands im Zuge der Abschaffung der Apartheid ebenso als Erfolg wie die Einrichtung derartiger Gebilde in den von Israel besetzten Gebieten Gaza und Jericho — durchaus schon ein Hinweis darauf, daß die Beurteilung politischer Veränderungen durch zur Affirmation entschlossene Freunde des demokratischen Fortschritts sich von den tatsächlichen Vorkommnissen nur peripher beeindrucken läßt. Auch über die Gründe des allseits begrüßten Umbruchs am Kap der Guten Hoffnung ist eine bemerkenswerte Ignoranz zu verzeichnen. Man begnügt sich mit der tautologischen Feststellung, wonach die stattfindenden Veränderungen hinlänglicher Beweis dafür seien, daß die früheren Verhältnisse eben nicht mehr zu retten gewesen wären, wofür ihr Abgang Zeugnis ablege. Untermauert wird diese Gewißheit gern durch die Erinnerung, daß der südafrikanische Staat mit der »Rassentrennung« seit je gegen die Geschmäcker sozial- bzw. christ- bzw. liberaldemokratischer Zeitgenossen verstoßen habe, und daß das einfach nie gutgehen konnte, zumindest nicht länger als etliche Jahrzehnte, das steht für jeden Anhänger demokratischer Prinzipien ohnehin fest.

Dabei blamiert sich die Vorstellung der Unhaltbarkeit des Status quo ante immerhin an der Tatsache, daß das System der Apartheid stabil war, bis es von der Staatsspitze selbst angezweifelt und modifiziert wurde, daß die Republik Südafrika mit dem gewaltsamen Widerstand des ANC und den ihn unterstützenden »Frontstaaten« militärisch fertiggeworden ist und daß gerade die Erfolglosigkeit der bewaffneten Opposition des ANC seinen Chef Nelson Mandela zum Partner der Rassistenregierung bei der Abschaffung der Apartheid qualifiziert hat.

Das System der Apartheid: Weder Vorurteil noch »Rassentrennung«

Die letzte Variante der öfters reformierten Apartheid brachte ziemlich schnörkellos zur Anschauung, welchen Überlegungen und Kalkulationen sich die Behandlung der Schwarzen verdankte. Die Vorgangsweise, die südafrikanischen Neger per Gesetz zu Ausländern zu erklären, kann ihre Verwandtschaft mit der europäisch-zivilisierten Benutzung von Gastarbeitern einfach nicht verleugnen. Das Recht, in Südafrika zu arbeiten, soweit sie in Bergwerken, Fabriken, in der südafrikanischen Landwirtschaft oder auch als Hauspersonal gebraucht wurden, besaßen die Neger nämlich sehr wohl — und darüber hinaus brauchten sie nach der Einschätzung der Burenpolitiker keines, weil sonst kein staatliches Interesse an ihnen bestand. Die Unterscheidung eines weißen Staatsvolks mit Wehrrecht und Wahlpflicht von den Schwarzen, die als in der Gegend vorhandenes lebendiges Inventar wie ein »Rohstoff« benutzt oder sonst weggeräumt wurden, war die Fortsetzung des Kolonialismus nach innen, als Südafrika, genauer: die Einwanderer und ihre Nachkommen, politisch unabhängig geworden waren. Die Rechtlosigkeit der Neger wurde später auf moderne Art als ihr spezieller Status festgeschrieben, indem sie als Staatsbürger von eigens zu diesem Zweck — nach Stammesgesichtspunkten — erfundenen Auslanden definiert wurden, die in Südafrika nur begrenzt, nämlich zum Arbeiten, geduldet wurden, und jederzeit problemlos abgeschoben bzw. angefordert werden konnten. Den Status des Staatsbürgers durften sie in den jeweiligen »Bantustans« genießen; das waren von Südafrika geschaffene und alimentierte Reservate zur Aufbewahrung einer »Reservearmee« an Arbeitskräften unter immerhin stammeseigener Aufsicht, ansonsten aber ohne nennenswerte Existenzmöglichkeiten, weil schon die Grenzziehung ziemlich genau entlang der Fruchtbarkeit des Bodens dafür gesorgt hatte, daß als einzige Perspektive der südafrikanischen Neger wirklich nur die Lohnarbeit in der südafrikanischen Marktwirtschaft übrigblieb. Auf diese spezielle Weise hatte also sogar die Republik Südafrika der Periode der Entkolonialisierung Rechnung getragen und ein Stück weit die Fiktion praktisch werden lassen wollen, ihre Unterscheidung der Einheimischen durch den »Population Registration Act« von 1950 (in exakt vier Sorten) sei nur eine Variante der »normalen« Unterscheidung der Einheimischen von den — Ausländern. Ergänzt wurde diese Fiktion allerdings nach wie vor durch die bekannten Schikanen im Alltag: Öffentliche Einrichtungen, Verkehrsmittel und die berühmten Parkbänke »für Weiße«. Außer zum Schuften hatte ein Schwarzer in Südafrika eben nichts verloren, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, wie beim Transport vom und zum Arbeitsplatz, dann nur widerwillig geduldet in »separaten« Anlagen.

Weder dem südafrikanischen noch dem internationalen Unternehmertum war die Diskriminierung der Neger wirklich peinlich, sie wurde als das genommen, was sie herstellte, nämlich als Standortvorteil des südafrikanischen Kapitalismus, der es mit der Unterscheidung der arbeitenden Klasse in einen (durch »job reservation«) privilegierten weißen Teil und in einen schwarzen ohne politische und gewerkschaftliche Rechte immerhin zur einzigen afrikanischen Nationalökonomie gebracht hatte, die nicht auf Rohstoffexport und Entwicklungs»hilfe«, sondern auf einem im Land akkumulierenden Kapital und dessen Potenzen beruhte. Erbracht wurde der wenig überraschende Beweis, daß ein Kapitalismus auch mit einem Proletariat ohne Bürgerrechte funktioniert; und ohne Rücksicht darauf, ob sich die Arbeitskraft mit einem Hungerlohn und unter ruinösen Arbeitsbedingungen reproduzieren kann, weil innerhalb und außerhalb Südafrikas genügend Verelendete bereit standen, die Verbrauchten zu ersetzen. (Multinationale Unternehmungen, die in Europa die Vorteile von Gewerkschaften für eine geregelte Ausbeutung kennen und schätzen gelernt hatten, wurden zu Vorreitern des sozialen Fortschritts, indem sie mit schwarzen Gewerkschaften verhandelten, als diese noch verboten bzw. höchstens geduldet waren.)

Die Negerfreunde außerhalb Südafrikas: Sensibel in Methodenfragen

Die Rassistenrepublik erfreute sich jahrzehntelang in den Zentren der Demokratie einer notorisch schlechten Presse. Keineswegs nur bewährte Gesellschaftskritiker, sondern auch Leute, die am Lauf der Welt ansonsten wenig auszusetzen haben, entdeckten in Südafrika schreiendes Unrecht. Was den Menschenfreunden (bisher) mißfiel, war keineswegs die miserable Lage der Neger, sondern die südafrikanischen Spezialitäten der Sortierung des dortigen Menschenmaterials. Daß Leute zur Manövriermasse des Kapitals gemacht werden, mit allen schädlichen Konsequenzen, ist keine südafrikanische Besonderheit; Überarbeitung und Arbeitslosigkeit, Armut und Elend in allen Schattierungen, Analphabetismus, Slums, Mangelkrankheiten und Unterernährung sind auch außerhalb Südafrikas weit verbreitet und vertragen sich doch — im Prinzip zumindest — glänzend mit Menschenrecht und Menschenwürde. Der von bekennenden Freunden aller Entrechteten, wie dem Kolumnisten Richard »Nimmerrichter« Staberl, berechnend vorgetragene Hinweis, daß es den Schwarzen Südafrikas noch immer besser gehe als den Bewohnern der umliegenden Negerstaaten mit reinrassigen Negerregierungen, war ja wegen seines Realitätsgehaltes immer ein wenig blamabel — für Nationalisten, die glauben, das Menschenrecht auf eine »eigene« Regierung aus Angehörigen derselben »Menschensorte« sei ohnehin viel bedeutsamer und als politisches Beurteilungskriterium relevanter als das, was diese Regierung dann mit ihrer Macht und ihren Untertanen anrichtet. Wie verkehrt Staberl immer gelegen hatte, wird aktuell gerade bekräftigt; um materielle Ansprüche von Elendsgestalten geht es den Kritikern Südafrikas genau so wenig wie normalerweise dem Herrn Staberl. Die Befreiung der Unterdrückten besteht in ihrer Ernennung zu gleichberechtigten Wählern. Darauf haben sie ein Recht, auf sonst nichts.

Es war also nie das — gern zitierte — Elend der Schwarzen als solches, das die Empörung vieler Negerfreunde mobilisierte, sondern die Modalitäten seiner Herstellung ausgerechnet durch Rassengesetze anstatt allein durch Gesetze zur Garantie des Privateigentums. Nach demokratischer Übereinkunft darf für die Sortierung eines Volkes und seine Festlegung auf Armut und Reichtum auf gar keinen Fall die Rasse, sondern nur die Klasse der entscheidende Gesichtspunkt sein. Vor allem die Klasse der Eigentümer, die Arbeitskraft gegen Lohn nachfragt oder auch nicht, und Wohnungen sowie alle sonstigen Waren anbietet, und damit darüber entscheidet, was die andere Klasse vom Leben hat. Die Republik Südafrika hatte die Scheidung von arm und reich nicht, wie sich das international gehört, den Gesetzmäßigkeiten des Eigentums überlassen und durch ein freies und gleiches Ausbildungswesen und einen freien und gleichen Arbeitsmarkt ergänzt, sondern die Neger durch die politische Gewalt in den Status rechtloser Lohnarbeiter gezwungen.

Die in den westlichen Metropolen gepflegte schlechte öffentliche Meinung über die Rassistenrepublik hat sich übrigens die längste Zeit hervorragend mit normalen ökonomischen Beziehungen vertragen, es wurden zwar von der UNO allerlei Boykottmaßnahmen beschlossen, wirklich merkbar war davon allerdings noch am ehesten der Ausschluß Südafrikas von den Olympischen Spielen und vom sonstigen internationalen Sportbetrieb. Daher lesen wir in »Meyers Großem Taschenlexikon« aus dem Jahr 1981 zum Stichwort »Südafrika« u. a.:

1963 beschloß der UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo (1977 verschärft); wirtschaftliche Sanktionen lehnten Regierungen, Unternehmer und Gewerkschaften in der westlichen Welt ab. ... Dabei ist die Politik der westlichen Industriestaaten gegenüber Südafrika zwiespältig: Einerseits arbeiten sie mit den Regierungen von Südafrika zusammen, um die bedeutenden wirtschaftlichen Interessen des Westens in Südafrika zu sichern, andererseits bemühen sie sich um die Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten in Südafrika.

Das allerdings hat sich um die Mitte der 80er Jahre entscheidend geändert.

Die Krise Südafrikas: Vom nützlichen Partner zum unliebsamen Konkurrenten zurückgestuft

Damals fiel Südafrika bei den wichtigen Nationen, die Weltordnung und -Wirtschaft dirigieren, d.h. vor allem bei den USA, massiv in Ungnade, und »Europa« schloß sich dem an. Ehrwürdige UN-Handelsboykotte, um die sich bis dahin niemand zu kümmern brauchte, wurden ausgegraben bzw. verschärft in Kraft gesetzt. Südafrikas Ökonomie verlor wichtige Märkte, Kapital wurde abgezogen, und das genügte, um die bislang schwerste Rezession der südafrikanischen Wirtschaft auszulösen, die noch immer nicht als überwunden gilt. Man kann nun natürlich die offiziellen Verlautbarungen hernehmen, nach denen die jahrzehntelange Toleranz des Westens dem Rassistenstaat gegenüber auf einmal — noch dazu federführend vom bekannten Schutzherrn aller Unterdrückten, Ronald Reagan — gekündigt wurde, weil die Menschenrechte der Neger einfach von der Tagesordnung der Geschichte nicht mehr wegzukriegen waren. Man kann sich allerdings auch ein wenig dafür interessieren, was sonst noch in dieser Weltgegend von Belang war, und wer dabei welche Interessen geltend machte.

Die Republik Südafrika hat sich immer als Bündnispartner des vereinten Westens im Kampf gegen die weltkommunistische Gefahr verstanden. Die imperialistischen Ambitionen Südafrikas deckten sich in diesem Verständnis mit dem westlichen Ziel, den Einfluß der Sowjetunion in Afrika zu bekämpfen und die Stabilität ihrer Bündnispartner zu untergraben. Daher durfte Südafrika auch lange Jahre eine bewaffnete Oberaufsicht über das komplette südliche Afrika ausüben, jeden Versuch dieser Staaten, sich seiner Dominanz zu entziehen, unterbinden und den ANC auch in den umliegenden »Frontstaaten« militärisch bekämpfen. Das galt erst recht, als im Zuge der portugiesischen Entkolonialisierung in Angola und Mozambique Mitte der 70er Jahre Befreiungsbewegungen mit Hilfe der Sowjetunion bzw. Kubas an die Macht gelangt waren, die es mit einem »sozialistischen Aufbau« versuchen wollten, weil ihnen die Perspektiven eines »Entwicklungs«landes einfach zu gut bekannt waren. Südafrika hat das als Auftrag und Gelegenheit genommen, jede Konsolidierung und jeden Aufbau in diesen Ländern zu verhindern, indem es in Angola die schon im Kampf gegen Portugal mit der sozialistischen MPLA konkurrierende »pro-westliche« UNITA unterstützt, und indem in Mozambique eine Guerilla gegen die Regierung überhaupt erst aufbaute und in Schwung brachte. Als unterstützende Maßnahme kontrollierten die südafrikanischen Streitkräfte über das südafrikanisch besetzte Namibia den Süden Angolas und unternahmen Vorstöße bis weit nach Norden, in der schlichten Mission, die sowje-tisch/kubanisch unterstützte Regierung zu stürzen bzw. auf die Hauptstadt und einige Landstriche an der Küste zurückzudrängen. Herausragender Erfolg und — zumindest rückblickend — Höhepunkt der südafrikanischen Vormachtstellung waren Abkommen mit Angola und Mozambique aus dem Jahr 1984, in denen diese militärisch terrorisierten Staaten dem südafrikanischen Standpunkt recht geben mußten, im Interesse der Bekämpfung von ANC und SWAPO (der Unabhängigkeitsbewegung des von Südafrika temporär annektierten Namibia) sei die Republik Südafrika zu Aufsicht und Intervention im südlichen Afrika berechtigt, sofern die drangsalierten Staaten nicht durch eigene Aktivitäten den südafrikanischen Forderungen Geltung verschafften. Südafrika war als regionale Vormacht etabliert.

Mit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afrika — und der datiert schon vor dem aus Osteuropa und darf u.a. auch als Erfolg der südafrikanischen Feldzüge betrachtet werden — wurde allerdings vom Westen die Gleichsetzung von regionalimperialistischen Ambitionen und internen »Sonderregelungen« einerseits und der Erfüllung von Kriegs- und Kontrollaufgaben im westlichen Interesse andererseits aufgekündigt. Südafrika wurde zunehmend als Konkurrent betrachtet, der sich Kompetenzen anmaßt, die nur befugteren Mächten zustehen, und durch einen Wirtschaftsboykott »international isoliert«. Charakteristisch dafür ist auch ein Handel aus dem Jahr 1988, mit dem der Rückzug der Sowjetunion aus Afrika abgewickelt wurde und von dem diese logischerweise nichts hatte, der aber dennoch auf Kosten Südafrikas ging. Dabei wurde die jahrzehntelange wohlwollende Duldung der südafrikanischen Eingemeindung Namibias von den USA widerrufen und in Erfüllung eines lange (= während des Ost-West-Konflikts) ignorierten UNO-Beschlusses dessen staatliche Unabhängigkeit hergestellt, wobei im »Gegenzug« die Sowjetunion bzw. Kuba ihren endgültigen Abzug aus Angola und damit aus Afrika paktierten. Die westliche Hegemonie über den schwarzen Kontinent war vollendet, und Südafrika war sein Protektorat losgeworden, noch dazu (via Wahlen) an die SWAPO, die Südafrika noch in Angola gehetzt und von der Teilnahme an der namibischen Machtübernahme auszuschließen versucht hatte, durch den Aufbau einer eigenen Unabhängigkeits-Plattform, der sog. »Turnhallen-Konferenz«. Auch die Anerkennung der während der südafrikanischen Verwaltung etablierten vollständigen ökonomischen Abhängigkeit Namibias durch die neue SWAPO-Regierung war für Südafrika natürlich kein Ersatz für die von den Chef-Imperialisten bestrittene Teilhabe am Weltmarkt. Und in Angola war es der Republik Südafrika zwar gelungen, die früher sozialistische Regierung in das Reich des Westens zurückzubomben, aber auch dort reduzierte sich der schon erreichte Einfluß. Der Westen akzeptierte — Verlaufsform: von der UNO begutachtete Wahlen — die Nachfolger der MPLA als international anerkannte Regierung; der spezielle Schützling Südafrikas, Savimbi und seine UNITA, gelten seither als Störenfriede.

Die Fähigkeit Südafrikas, mit steinewerfenden Unruhestiftern, streikenden Arbeitern und mit kirchlichen Bürgerrechtsgruppen auf die bisher bewährte Art umzugehen, nämlich mit Polizei und Militär, war durch diese Veränderungen der außenpolitischen Erfolgsbedingungen des südafrikanischen Weges zwar nicht in Frage gestellt, und die militärischen Basen des ANC längst zerschlagen. Die ökonomische Krise, die Diskriminierung am Weltmarkt und der Verlust der früher erworbenen Einflußsphäre im südlichen Afrika wurde aber von der politischen Führung als schwerwiegende nationale Problemlage bilanziert, die jedenfalls eine Fortsetzung des althergebrachten »way of life« nicht mehr zuließ.

Die Staatsform auf dem Prüfstand: Mittel oder Hindernis für den weiteren Erfolg der Nation?

Der Übergang von der Krise der Nation zur Reflexion auf die Verfaßtheit des Gemeinwesens, zur Frage, ob die leitenden Gesichtspunkte des Regierens und Wirtschaftens, die Ausstattung der Bürger mit Rechten und Pflichten etc. dem weiteren Erfolg der Nation im Weg stehen oder ihn garantieren, ist keine südafrikanische Besonderheit. Noch jeder Demokrat, der in schwerer Stunde zum Faschisten konvertiert und das »Parteiengezänk«, den die Nation spaltenden »Klassenkampf« und die »zersetzenden« Verbesserungsvorschläge kritischer Intellektueller unterbinden will, wälzt im Prinzip analoge Überlegungen. Daß der Staat angeschlagen ist, weil die Regierenden von ihrer Macht den verkehrten Gebrauch machen und so die Zukunft der Nation verspielen, weswegen radikale Änderungen der inneren Ordnung anstehen — diese Schuldzuweisung an »das System« ist noch jedem Nationalisten vertraut. Sogar die wesentlich umfassenderen Veränderungen, die die ehemaligen »realen Sozialisten« in ihrem Laden vorgenommen haben oder zumindest vornehmen wollten — auch so eine »Revolution von oben« —, gründen in dem Entschluß, alle als Hindernisse des nationalen Erfolgs identifizierten Einrichtungen und bisherigen »Errungenschaften« beiseite zu räumen. Aus vergleichbaren Überlegungen gelangte in Südafrika das System der Apartheid zur Überprüfung, wurde vom Staatszweck zu einer Methode relativiert, die sich an den Resultaten messen lassen muß, und hatte damit schon verloren; schließlich war Südafrika in Schwierigkeiten. Genau so begriffslos und »monokausal«, wie die Buren immer den Erfolg ihres Staatswesens — zur Erinnerung: der einzige afrikanische Kapitalismus, der diesen Namen verdient — der Apartheid zugerechnet hatten, wurde sie nun für dessen Krise verantwortlich gemacht. Die Burenpolitiker sind Nationalisten genug, daß ihnen der Erfolg Südafrikas als einer kapitalistischen Nation mit dem Anspruch auf Teilnahme am Weltmarkt und eine gewichtige Rolle in Afrika mehr gilt als die bloße, nach wie vor erfolgreiche Trennung der südafrikanischen Neger von den Bürgerrechten und den politischen Institutionen. Von diesem Standpunkt aus entdeckten sie in ihrem bisherigen Staatswesen plötzlich eine im Grunde genommen »unfertige« Nation, die den größeren Teil ihrer Bürger ausgegrenzt und »entfremdet« habe, was in eine »Sackgasse« und in die »Isolation« geführt habe. Nun trifft diese Einschätzung gar nicht den Kern der südafrikanischen Krisenlage, die auf die Einschätzung der Ober-Imperialisten zurückgeht, südafrikanische Eigenmächtigkeiten und Extratouren nicht mehr hinnehmen zu wollen und klarzustellen, wer Südafrika politische Richtlinien vorgibt und wer sie zu berücksichtigen hat. Das hat die Staatsführung nicht daran gehindert, diese Diagnose soweit verbindlich zu machen, daß tatsächlich, beginnend mit der Freilassung Nelson Mandelas, mit diesem die Konditionen der Abschaffung der Apartheid ausverhandelt wurden, um auf diese Weise außenpolitische Handlungsfreiheit, die Einflußsphäre im südlichen Afrika (diesmal mit den Methoden friedlich-ökonomischer Erpressung) und den Zugang zum Weltmarkt wiederzugewinnen:

Die Politik der Apartheid hätte niemals die Zukunft der Weißen gewährleisten können. Sie hätte das Land zerstört und die Afrikaaner mit in den Untergang gerissen. Die Abschaffung der Apartheid hat nicht nur die Schwarzen befreit, sondern auch die Weißen gerettet. ...

Wie könnte das einstmals geächtete Südafrika als Lokomotive für die Entwicklung des Kontinents wirken?

Ich stelle mir eine Wirtschaftsgemeinschaft vor, die ihre Ressourcen gemeinsam nutzt — das Verkehrsnetz, die Energie- und Wasservorräte, die Landwirtschaft. Und wir wollen unsere Rohstoffe nicht mehr nur exportieren, sondern auch verarbeiten. ... Das südliche Afrika hat viel zu bieten. Aber wir brauchen Kredite aus Europa. ... (Ex-Außenminister Botha im SPIEGEL 18/94)

Nur ist der Entschluß, es einmal mit Demokratie und allgemeinem Wahlrecht zu versuchen, die eine Sache. Eine andere Frage ist, wie die damit untergrabene Stabilität des Staates zu gewährleisten sei. Immerhin wird hier der ironische Spruch von der Regierung, die sich ein neues Volk wählt, mit völlig neuen Rechten und Pflichten, und die ihr bisheriges zu einer Minderheit macht, die zum Teil mit Terror auf ihren traditionellen Rechten beharrt, auf vollständig unironische Weise in die Tat umgesetzt. Weder erschließt diese Umwälzung der Nation neue innere Potenzen, die sie vorher nicht gehabt hätte, auch wenn die Burenpolitiker diese Erweiterung der völkischen Basis so sehen wollen; noch ist sicher, ob die Eingemeindung gelingt, ob sich die neuen Staatsbürger auch als solche begreifen und sich ihren Widerstand dermaßen billig, gegen ein Kreuz auf dem Stimmzettel, abkaufen lassen.

Das Angebot: Wahlrecht statt Wohlstand

Der entscheidende positive Faktor bei der Lösung dieses Problems ist eindeutig der ANC. Seine Galionsfigur wurde vom Rassistenstaat aus dem Gefängnis geholt und als ein Verhandlungspartner aufgebaut, dessen Gewicht und Verhandlungsposition darauf beruhte, daß Premier de Klerk eben mit ihm die Übergabe in allen Einzelheiten aushandeln wollte, um die wesentlichen Grundsätze des neuen Südafrika festzulegen, bevor die frischgebackenen schwarzen Stimmbürger in einem Urnengang immerhin über die Sitzeverteilung im neuen Parlament abstimmen durften.

Der erste und wesentliche dieser Grundsätze betraf den südafrikanischen Kapitalismus als das jenseits der Rassen zu respektierende wahre Lebensmittel zwar nicht der Neger, aber der Nation. Das weiße Eigentum und die Eigentumsordnung als solche wurden daher von Anfang an außer Streit gestellt, die ANC-Politiker bemühten sich nach Kräften und sehr glaubwürdig, jeden Sozialismusverdacht auszuräumen und dem nationalen wie ausländischen Kapital zu versichern, daß sich an dessen rassenneutraler »Vorherrschaft« nichts zu ändern brauche. Für das weiße Proletariat bedeutet das eine ganz neue Konkurrenz mit rechtlich gleichgestellten Schwarzen, für die Neger bedeutet es nicht mehr und nicht weniger, als daß ihre ökonomische Lage bleibt, wie sie ist. Arm sind sie nicht mehr, weil sie schwarz sind, arm bleiben sie, weil sie Proleten sind bzw. zur Reservearmee zählen bzw. die unbenutzte Überbevölkerung bilden. Das mag man dem ANC als »Verrat« ankreiden, ein Vorwurf, der ihm angesichts seiner Wahlversprechen auch gemacht werden wird, es kennzeichnet die Sachlage aber nur ungenügend. Die schwarze Politikergarde hat es nämlich schnell gelernt, den südafrikanischen Kapitalismus aus der Perspektive von Staatsmännern zu betrachten, die eine funktionierende Ökonomie übernehmen und benutzen wollen, und nicht aus dem Blickwinkel ihrer Anhänger, die der Marktwirtschaft ausgeliefert sind. Offen ist derzeit allerdings noch, ob die Basis des ANC jene staatsbürgerliche Reife besitzt, die man von den gefestigten Demokratien kennt. Dort weiß der Demokrat, daß seine Stimmabgabe kein Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen ist, sondern der schönste Lohn für seine diesbezügliche Enthaltsamkeit. Was man von Wahlversprechen zu halten hat, ist ebenfalls bekannt und wird mehr von der sportlichen Seite genommen — wer ist der gewieftere Einseifer und als solcher »glaubwürdig«. Aber das alles wurde den südafrikanischen Negern bisher vorenthalten, so daß sich erst herausstellen muß, ob sie schon so »reif für die Demokratie« sind wie ihre Politiker, oder ob ihre absehbare Enttäuschung in bürgerkriegsähnliche Unruhen übergeht. Und alle Versuche, jenseits des Wahlergebnisses die neuen politischen Rechte zum Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu nutzen, tangieren die Geschäftsgrundlagen und Konkurrenzvorteile des südafrikanischen Kapitalismus, der die schwarze Arbeitskraft ohne lästige Schranken zu nutzen weiß. Schon während des Wahlkampfes wurde daher von der internationalen Öffentlichkeit teilnahmsvoll das Problem gewürdigt, wie es dem ANC wohl gelingen werde, seinen Wählern klarzumachen, daß ein schwarzer Präsident und eine ebensolche Parlamentsmehrheit schon den ganzen Erfolg ausmachen, den diese erwarten durften, und die Sache mit den Wohnungen und Arbeitsplätzen so nicht klappen wird. Der Streit um die Rückgabe von Grund und Boden an während der Apartheid vertriebene Bewohner und frühere Benutzer ist ohnehin vorprogrammiert.

Der zweite wesentliche Verhandlungsgegenstand mit Mandela war die weitere Beteiligung von weißen Repräsentanten an der Macht, und zwar unabhängig vom Wahlausgang und den erzielten Mehrheiten. Auch in dieser Frage erkannte Mandela, daß die Lage eine Regierung der »nationalen Einheit« erfordere, an der alle relevanten politischen Kräfte zu beteiligen seien. Wer zu diesen zählen sollte, war aus anderen Gründen umstritten. Die Einrichtung der »Bantustans« hatte schwarze Nutznießer, nämlich deren Verwalter von Pretorias Gnaden, hervorgebracht; und diese sahen von der Neuordnung ihre Macht und ihre Pfründe bedroht. Obwohl ursprünglich Mandela samt ANC als alleiniger Partner bei der Übergabe auserkoren war, gelang es noch dem Zulu-Chef Buthelezi, ein derart respektables Quantum an Terror hauptsächlich gegen Anhänger des ANC zu mobilisieren — 1993 ca. 20.000 Tote in Südafrika, hauptsächlich Schwarze —, daß er sich damit als nicht zu übergehender politischer Faktor profilierte und sowohl in Bezug auf die regionale Machtverteilung als auch bei der Ressortverteilung in die neue Regierung »eingebunden« wurde. Das wieder einmal ein Beleg für die These, wonach demokratische Wahlen kein Verfahren zur gewaltlosen Austragung von Konflikten sind, sondern daß vorher die Gewalt der interessierten Parteien rücksichtslos zum Einsatz kommt, um über die Bedingungen eines Wahlgangs zu entscheiden, dessen Ergebnisse man anschließend auch anzuerkennen bereit ist: die wesentlichen Entscheidungen beim Wählen trifft nämlich auch in Südafrika nicht der Wähler, sondern der Veranstalter.

Die politische Macht an die Neger, damit sich deren Lage nicht ändert und Südafrika als geeinte Nation zu neuen Ufern aufbricht: das ist das Programm der früheren Rassisten und ihrer schwarzen Partner, für das de Klerk und Mandela gerechterweise den Friedensnobelpreis erhielten. Und den Beifall einer Weltöffentlichkeit mit großen Erwartungen:

Werden die Sieger ihre ekstatischen Anhänger im Zaum halten können? ... Jahrelang hatte die schwarze Befreiungsbewegung der Town-shipjugend eingeheizt: »Macht das Land unregierbar.« Jetzt, im Augenblick der Machtübernahme, muß sie die Revolutionäre zügeln. So handelte der ANC mit dem verbündeten Gewerkschaftsdachverband Cosatu ein Moratorium für Massenkundgebungen und Streiks aus. Gleichzeitig umwirbt Mandela die Sicherheitskräfte, die ihn und seine Organisation jahrzehntelang verfolgten und nun als Verlierer der Geschichte einen Staatsstreich planen könnten. Er versprach ihren Mitgliedern Weiterbeschäftigung und volle Pensionsbezüge. (»Spiegel« 18/94)

So schnell verwandeln sich die Anhänger einer Befreiungsbewegung, die an die Macht kommt, in ein Ordnungsproblem. Ist der Hinweis eine Übertreibung, wonach von den neuen Machthabern erwartet wird, unter freien und gleichen Negern für ungefähr jene Stabilität zu sorgen, die der Republik Südafrika immer vorgeworfen worden war, damals, als die Neger noch unterdrückt waren?!

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