FORVM, No. 204/I/II
Dezember
1970

Die Sowjetunion wird immer kapitalistischer

Reisebericht

Hinter dem flachen Bild, das die ‚Prawda‘ von der sowjetischen Wirklichkeit zeichnet, gibt es überquellendes, kompliziertes Leben. Aber keine Publikationen, keine Nachrichten geben auch nur die geringste Vorstellung von diesem Leben. Wir sind keine eindimensionale Gesellschaft, wie die Leute aus dem Westen glauben, wir sind eine atomisierte Gesellschaft.

Der Sowjetbürger, der mir dies sagt, ist kein Gegner des Regimes. Er hat einen wichtigen Posten im Parteiapparat und reist häufig ins Ausland, wo wir uns mehrmals getroffen haben.

Da die wechselseitige Kommunikation zwischen den Bürgern verhindert wird, haben wir fast keine gemeinsamen Kriterien mehr. Jeder erfaßt nur ein Teilstück der Wahrheit, das er auf seine Weise lebt und interpretiert. Dieselben Worte haben für jede soziale Schicht und fast für jedes Individuum einen anderen Sinn. Wir können keine ernsthafte Analyse der Wirklichkeit in unserem Land vornehmen. Wir können bestenfalls uns dieser Wirklichkeit pragmatisch nähern, indem wir herauszufinden versuchen, was sich auf den verschiedenen Ebenen unserer abgekapselten Gesellschaft abspielt. Als Ganzes können wir sie nicht entziffern.

Mein Gesprächspartner hat sehr persönliche Auffassungen, aber er versucht nicht, sie aufzuzwingen, er will nur einen Schlüssel liefern, der mir nach 25jähriger Abwesenheit wiederum Zugang verschaffen soll, zu diesem Land, das während sieben langer Jahre, von 1939 bis 1946, meine zweite Heimat war.

Polen, das Land, in dem ich geboren bin, verschwand im September 1939 von der Landkarte (damals war ich sechzehn), wie man mir versicherte, für immer. So ging ich in die Sowjetunion, um dort zu studieren, um gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen, um zu arbeiten, wie alle Sowjetbürger meines Alters. Auf die Dauer hatte ich mich an all das gewöhnt. Als aber Polen nach Kriegsende wiedererstand, ließ ich mich repatriieren und ging dann nach Frankreich. So verlor ich die Spur all derer, die während dieser schwierigen Jahre meine Weggefährten waren. Nur ein einziges Mal bin ich in die Sowjetunion zurückgekehrt: im Jahre 1959, als ich, halboffiziell, Aneurin Bevan, den Gesundheits- und späteren Arbeitsminister der Regierung Attlee, dorthin begleitete. Damals kam ich selbstverständlich nicht dazu, meine Freunde in Rostow am Don zu suchen, wo ich früher gewohnt hatte.

Mit Hilfe meiner Russischkenntnisse und gemeinsamer Erinnerungen gelang es mir jedoch, im Westen mit vielen Sowjetbürgern, die auf der Durchreise waren, freundschaftliche Beziehungen anzuknüpfen. Der Russe, mit dem ich jetzt auf dem imposanten neuen Kalinin-Ring spazierengehe, gehört zu diesen Freunden. Gleich nach meiner Ankunft in Moskau habe ich mit ihm telephoniert, von einer Telephonzelle. Ich sagte ihm, daß ich es sehr gut verstünde, wenn er mich mit Rücksicht auf seine offizielle Position nicht treffen könne. Er lachte über meine Vorsichtsmaßnahmen, aber traf seine eigenen: wir machten uns einen Treffpunkt auf der Straße aus, nicht bei ihm zu Hause und nicht in einem Kaffeehaus: „Du weißt, wir sind nicht in Paris. Wenn man hier einen Tisch in einem Kaffeehaus finden will, muß man früh aufstehen. Und außerdem sieht man von einer Stadt mehr, wenn man spazierengeht.“

Wir sprechen über alles, über den Ring, auf dem wir gehen, über die neuen Gebäude, über die langsame Besserung der Wohnunsssituation in Moskau, wo man immer seltener Wohnungen mit mehreren Familien sieht. Aber mein Freund kommt immer wieder auf seine ersten Worte zurück: auf die Schwierigkeit, die sowjetische Realität zu erfassen:

Unser Land hat keinerlei staatsbürgerliche Tradition. Die Russen haben im Grund nie dazu geneigt, Vereine zu gründen, ein Gemeinschaftsleben zu organisieren, sich kennenzulernen und gemeinsam Entschlüsse zu fassen. Zwischen Zar und Muschik gab es nichts, zwischen einem Muschik und einem anderen Muschik gab es ebenfalls nichts, abgesehen von den Beziehungen, die für das Alltagsleben unerläßlich sind. Wir waren und sind noch immer ein großer Körper, kolossal, aber unförmig und ohne Gelenke, ohne die politischen Gewebe, dank denen sich die modernen Staaten in Europa entwickelt haben. Der Revolution ist es nicht gelungen, die russischen Masse zu artikulieren, weil das Leninsche Experiment der Räte zu schnell abgebrochen wurde.

Die Partei, die an die Stelle der Räte getreten ist, übermittelt nur Befehle von oben, wo alles entschieden wird, nach unten, wo nichts entschieden wird.

Was sich seit deiner Zeit geändert hat, ist das äußere Bild: Während diese Masse damals geeint schien, durch die stalinistische Ideologie, lebt sie heute offen ihre verschiedenen Leben, Atom für Atom. Jeder Sowjetbürger wird dir von seinem Leben erzählen. Sei nachsichtig, ärgere dich nicht über seine Ignoranz oder seine kleinbürgerliche Gesinnung, und vergiß vor allem nicht, daß du damit nur den Ton einer Glocke hörst, die nur ihm gilt und höchstens einem Dutzend seiner Freunde. Und wenn du nach Frankreich zurückkehrst, zitiere keinen Namen in deinen Artikeln.

Es gibt heute keinen stalinistischen Terror mehr, der blind zuschlägt bei Großen wie bei Kleinen. Was die Gerechtigkeit anlangt, ähnelt unser Land heute dem euren: man verfolgt vor allem die Kleinen, die keine Gönner haben und keine Schmiergelder zahlen können. Menschen wie ich oder wie deine intellektuellen Freunde kommen fast immer davon, weil die Polizei womöglich keine Geschichten mit Leuten von Ansehen haben will.

Wir können zwar auch einigen Ärger mit der Polizei haben, aber wie man bei uns in Moskau sagt: Den Großen schneidet man die Nägel, den Kleinen die Finger. Das ist ein großer Wandel gegenüber deiner Zeit. Die sowjetische Staatspolizei hat nicht mehr in erster Linie die Aufgabe, Konflikte in der Führungsspitze zu bereinigen. Sie soll heute vor allem das komplexe gesellschaftliche Gleichgewicht gewährleisten, das sich zwischen den politischen Machthabern, den führenden Schichten, den Technikern, den Intellektuellen und der Masse der kleinen Leute etabliert hat.

Es gibt heute begüterte Sowjetbürger, die vom System der verschiedenen Maße und Gewichte profitieren, das in der Sowjetunion praktiziert wird. Sie können sich ohne allzu viele Gefahren verbotene Bücher verschaffen (es gibt sogar einen schwarzen Markt, wo man Bücher zu Preisen kaufen kann, von denen ein Arbeiter nur träumt), während Hunderte Studenten in Haft sind, weil man die gleichen Bücher bei ihnen gefunden hat. Niemand weiß von diesen Dingen, niemand spricht über sie.

Wir betreten ein großes Schallplattengeschäft. Es ist früher Nachmittag, der Laden ist voll, man sieht vor allem junge Leute. Das Sortiment ist reichhaltig, insbesondere an klassischer Musik. Die Preise sind sehr niedrig: Höchstens 50 Schilling für eine Stereolangspielplatte. Die meisten Jugendlichen sind westlich gekleidet: Stiefel bis über die Knie und Miniröcke (nicht allzu mini) bei den Mädchen, gutgeschnittene Anzüge bei den Burschen. Einige ältere Männer tragen Mäntel mit Pelzkragen. Insgesamt ist das Bekleidungsniveau der Kunden wie der Verkäuferinnen sehr ansehnlich. Mein Freund hat mich in dieses Geschäft geführt, um mir zu zeigen, daß sich die Leute in Moskau gern gut anziehen. Dann zeigt er mir, was in den staatlichen Läden verkauft wird, führt mich in einen staatlichen Tauschladen, wo Privatpersonen gebrauchte Waren zum Kauf anbieten, und dann in eine „Tolkutschka“ (wörtlich Gedränge), wo man einander privat Waren anbietet: so kann ich mir eine Vorstellung von den echten Preisen machen. Im offiziellen Handel findet man sehr wenig Auswahl, mittelmäßige Qualität und unerschwingliche Preise. Sowjetische Schuhe kosten 35 bis 45 Rubel (der durchschnittliche Lohn beträgt kaum 100 Rubel). Aber für „elegant“ will der Moskauer, mehr noch die Moskauerin, hübsche italienische oder englische Schuhe, die unmittelbar nach dem Import aus dem offiziellen Handel verschwinden und im parallelen Schwarzhandel zu abschreckend hohen Preisen wieder auftauchen. Dasselbe gilt für Mäntel und Pullover, Damenunterwäsche, Herrenhemden usw. Jedermann weiß das und spricht offen darüber, auch vor Fremden.

Bei Konsumgütern ist die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage enorm, auch in Moskau, das nach allgemeiner Ansicht eine „Mikrogesellschaft“ ist, die besser versorgt wird als der Rest des Landes.

Wie kann sich eine Sekretärin, die 70 Rubel im Monat verdient, italienische Stiefel kaufen, die auch aus zweiter Hand mehr als ihr Monatsgehalt kosten? Woher nimmt sie die 250 Rubel, die ihr schicker Mantel kostet? Wie kann ein Ingenieur mit wenig Dienstjahren, der nur 130 Rubel im Monat verdient, für seine Kleidung mehr als 400 Rubel ausgeben? In der Sowjetunion sind Miete, öffentliche Verkehrsmittel (die Metro kostet 5 Kopeken, das sind 1,50 Schilling) und viele Grundnahrungsmittel (Brot, Kartoffel, Kascha) sehr billig. Theoretisch müßte sich ein Ehepaar, das 200 Rubel im Monat verdient, einiges ersparen können, wenn sich die beiden oft genug in Kaufhäusern anstellen und niemals im Schwarzhandel einkaufen, wo ein Kilo Fleisch bis zu 5 Rubel und eine Zitrone einen halben Rubel kostet. Aber die Leute, die sich mit dem strikt Notwendigen begnügen, sind, so scheint es, in Moskau sehr selten. Woher nehmen sie das Geld für das Überflüssige?

Wer, wie ich, lang in der UdSSR gelebt hat, kann diese Frage leicht beantworten. In diesem Land gibt es seit langem eine Wirtschaft Nr. 1, die Wirtschaft der offiziellen Statistik, mit streng geregelten Löhnen und Preisen, daneben eine Wirtschaft Nr. 2, die nach eigenen Gesetzen funktioniert und eine Umverteilung von Geld und Konsumgütern nach den individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen ermöglicht. Diese Wirtschaft Nr. 2 wird selbstverständlich illegal beliefert, mit der einzigen Ausnahme des Kolchosenmarktes, der nach gesetzlichen Bestimmungen geregelt und kontrolliert, aber im Prinzip frei ist.

Überraschend ist, daß 25 Jahre nach dem Krieg und 13 Jahre nach den ersten Raumflügen der UdSSR die Wirtschaft Nr. 2 nicht tot ist, sondern blühender denn je. Die Wirtschaft Nr. 2, ein Nebenprodukt des Warenmangels und der schleichenden Inflation, hat sich im Leben des Sowjetbürgers dauerhaft etabliert. Im Gum, dem größten Kaufhaus von Moskau, stehen Sowjetbürger aller Größen Schlange, um Strümpfe einer einzigen Größe zu kaufen. Am nächsten Tag gibt es dann keinen einzigen Strumpf mehr. Die am Vortag gekauften Strümpfe werden in der Wirtschaft Nr. 2 verkauft und getauscht. In diesem Land gibt es keine wertlosen Gegenstände: alles hat seinen Wert. Und wenn man nicht kaufen kann, dann hilft man sich eben anders. Ladendiebstähle und auch größere „Enteignungen“ werden von der öffentlichen Meinung nicht verurteilt.

Da das staatliche Verteilungssystem unwirksam ist wie eh und je, benützen die Sowjetbürger die modernisierten Verkehrsmittel — die außerdem sehr billig sind —, um ihre Waren selbst an den Mann zu bringen. Ein Georgier, der mit einigen Kisten Zitronen von Leningrad nach Moskau reist, kann an einem Tag mehr Gewinn erzielen, als wenn er einen Monat lang alle Produktionsrekorde in seiner Fabrik schlägt. Häufig hört man das Scherzwort: „Seit der proletarischen Revolution sind wir ein Volk von Händlern geworden.“

Die führenden Schichten, die sich heute zumeist vor Repression sicher fühlen — selbst im Fall eines Wirtschaftsdelikts —, viele Vorsitzende von Kolchosen oder Direktoren von Konsumgüterfabriken setzen einen Teil ihrer Produktion zu stark überhöhten Preisen über die Wirtschaft Nr. 2 ab. Man hat mir versichert, daß in manchen Provinzstädten zwei Drittel der für die staatlichen Läden bestimmten Waren direkt in die „Tolkutschka“ gehen. Diese Maßnahmen sind besonders gewinnbringend bei Damenkonfektion und Fleisch — Waren, an denen krasser Mangel herrscht. In Moskau kursiert diesbezüglich ein anderes klassisches Scherzwort: „Wir haben in Rußland heroische Städte: seit vier Jahren haben sie kein Fleisch gesehen und dennoch kapitulieren sie nicht.“ Aber auch in diesen Städten gibt es selbstverständlich Fleisch.

Unterschleife dieser Art und auch die mangelnde staatsbürgerliche Gesinnung der „Ladenplünderer“ verurteilt die offizielle Presse immer wieder. Das Zentralkomitee und alle anderen Parteiinstanzen diskutieren regelmäßig das „Problem des Kampfes gegen die Vergeudung gesellschaftlicher Güter“.

Parteimitglieder oder intellektuelle „Podpistschiki“ (Intellektuelle, die Proteste gegen die Regierungspolitik unterzeichnet haben) haben mich zu sich nach Hause eingeladen oder in ihren Klub, in das Haus der Schriftsteller, in das Haus der Journalisten oder in das Haus des Theaters, sie haben mich zu Vorführungen von Filmen eingeladen, deren offizielle Genehmigung noch nicht feststand. Sie wären nicht in der Lage gewesen, mir den Mechanismus der Wirtschaft Nr. 2 zu erklären, da sie selbst von der Wirtschaft Nr. 3 leben, die einzige Wirtschaft der Sowjetunion, die ein Leben in gewissem Wohlstand und ohne allzu große materielle Sorgen ermöglicht: dank ihren Gehältern und Autorenhonoraren können sie in den „geschlossenen Läden“ einkaufen, die für gewöhnliche Sterbliche unzugänglich sind, oder auch in den „Devisenläden“, wo sie die Dollars ausgeben, die sie während ihrer Auslandsreisen gespart haben. Sie haben außerdem Vorrang für Wohnungen in Neubauten und erhalten Kredite zum Bau von Wohnungen in sogenannten „Genossenschaftshäusern“ oder zur Miete von Datschas. Sie leben unter Bedingungen, die ihnen Arbeit in Wohlstand ermöglichen, ohne daß sie dabei irgendein Gesetz überschreiten.

Das Gros der Privilegierten, die zur Wirtschaft Nr. 3 Zugang haben, setzt sich aus den führenden Personen des Partei- und Staatsapparates zusammen, aus den hohen Rängen von Polizei und Armee, aus den Kadern der Wirtschaft. Aber auch Mitglieder der „schöpferischen Intelligenzija“ (Schriftsteller, Filmleute, Hochschulprofessoren), die eine gewisse Berühmtheit erreicht haben, profitieren von diesen Vorteilen. Ich habe Künstler und Wissenschafter getroffen, die unter dieser Situation leiden und mit Empörung von den „volchebyne magaziny“, den magischen Kaufhäusern, sprechen, wo man alles bekommt, wenn man nur mit Dollars bezahlt, deren Herkunft mit einem Zeugnis bestätigt werden muß. „Was 99 Prozent der sowjetischen Bevölkerung vom Kommunismus trennt“, sagte einer von ihnen, „ist dieses verdammte Zeugnis, das sie daran hindert, sich Waren aus den Schlaraffenlandläden zu beschaffen.“ Ein anderer meinte: „Unser Land demütigt sich, wenn es den Fremden einen Handel zeigt, in dem die eigene Währung nicht gilt.“

Manche Intellektuelle behaupten, sie nähmen ihre enormen Gehälter nur an, um damit ihren nonkonformistischen Freunden zu helfen, deren Widerstand der Staat durch Entzug von Arbeitsmöglichkeiten zu brechen versucht. Andere sind einfach der Meinung, sie verdienten noch viel mehr, als ihnen der Staat gibt — gemessen an den noch höheren Gehältern, die die Superprivilegierten von Partei, Polizei oder Armee beziehen, und das für nichts. Solche Gehälter fördern die Inflation, die eine der Säulen der Wirtschaft Nr. 2 ist. Anderseits werden, um das Geld der Privilegierten abzuschöpfen, Luxusgüter importiert, die früher oder später in den Schwarzhandel kommen.

Die Privilegierten sorgen für Schwarzarbeit, indem sie Handwerker beschäftigen, die ihre Autos und ihre Fernsehgeräte reparieren oder ihre Datschas neu streichen: ob sie es wollen oder nicht, sie tragen zu jener Korruption bei, die sie so beklagen.

All dies ist so augenfällig, daß sich Moskauer Wirtschaftsfachleute fragen, warum die Parteiführung diese Situation so ruhig hinnimmt. Der Mann, mit dem ich hierüber spreche, ist ein Nationalökonom, der für seine Neigung zu „liberalen“ Reformen bekannt ist. Erst seit der jüngsten Zeit ist er vom politischen Kurs der Sowjetregierung enttäuscht. Um mir zu sagen, was er seiner Regierung vorwirft, lud er mich zum Abendessen in ein sehr populäres Restaurant ein (wo es ziemlich schmutzig und das Essen sehr schlecht war). Dort waren wir sicher, weder jemand Offiziellen noch Intellektuelle zu treffen.

Mein Irrtum,

sagte er,

war, daß ich lange Zeit glaubte, die Parteiführung wolle Reformen, um die Wirtschaft Nr. 2 zu beseitigen und endlich die wirtschaftliche Realität des Landes kennenzulernen. Ich war der Meinung, sie hätte aus der Erfahrung gelernt, daß repressive Maßnahmen nicht zum gewünschten Ziel führen, und sei nun bereit, zu rein ökonomischen Maßnahmen zu greifen. Jetzt sehe ich, daß dem nicht so ist. Unser Staat versteift sich darauf, in jedem Bürger, der weniger als dreihundert Rubel im Monat verdient, was für 95 Prozent der Bevölkerung zutrifft, einen potentiellen Dieb zu sehen, und begnügt sich damit, ihm das Leben zu erschweren. Aus diesem Katz-und-Maus-Spiel folgt eine verzerrte Struktur der Arbeitskräfte und eine völlig unsinnige Organisation der Güterverteilung und der Dienstleistungen. Wir haben fast ebenso viele Kontrollore, Magazineure und Aufseher wie Arbeiter, die Waren produzieren. Da die Kontrollore ebenso stehlen wie die anderen, senkt das nur noch die Produktivität.

Unsere Führung wehrt sich gegen jede Rationalisierung, weil dies gegen die Interessen der Privilegierten verstößt. Sie klagt über die Inflation, aber weigert sich, die Einkommenssteuer bei den höheren Einkommensstufen zu erhöhen. Die indirekte Steuer auf Alkohol (dessen Preis unlängst erhöht wurde) bringt dem Staat mehr ein als die Einkommenssteuer. Wir haben so wenig Arbeitskräfte, daß wir laufende Arbeiten nicht abschließen können, aber wir zwingen Millionen Jugendliche zu drei bis fünf Jahren Militärdienst, was in der Ära der Atomwaffen keinerlei Sinn mehr hat. 44 Prozent der sowjetischen Bürger leben noch auf dem Land und haben keinen Paß für den Binnenverkehr. Sie können daher keine Arbeit in der Industrie eines anderen Ortes finden. Anderseits führen alle unsere landwirtschaftlichen Produktionspläne zu Mißerfolgen, ohne daß man je daraus die Lehre zöge. Ich verrate Ihnen damit kein Staatsgeheimnis. Alles, was ich Ihnen sage, stand mehr oder weniger offen in der Prawda. Meines Erachtens nimmt unsere Regierung diese Situation hin, weil sie alles dem Risiko vorzieht, das durch Veränderungen entstehen könnte. Daraus schließe ich, daß die Atomisierung unserer Gesellschaft der Regierung nützt, weil die Arbeiter dadurch gezwungen werden, die schwierigen Probleme des Alltags im Alleingang zu lösen. Dies läßt sie die Politik vergessen und alles, was mit öffentlichen Angelegenheiten zusammenhängt. Darauf beruht die Stabilität unseres Regimes.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)