Grundrisse, Nummer 28
Dezember
2008
Jens Wissel:

Die Transnationalisierung von Herrschaftsverhältnissen

Zur Aktualität von Nicos Poulantzas’ Staatstheorie

Baden-Baden: Nomos Verlag, 2007, 229 Seiten, 34 Euro

Jens Wissel hat sich mit Nicos Poulantzas einen der bedeutendsten marxistischen Staatstheoretiker der 1970er Jahre vorgenommen, um seine Theorie des Staates auf aktuelle globale und nationale Veränderungsprozesse hin zu überprüfen und die heutige Relevanz von Poulantzas’ theoretischen Prämissen zu untersuchen. Dabei geht Wissel von der forschungsleitenden These aus, dass es zu einer Herausbildung internationaler Klassenfraktionen gekommen ist, die das Verhältnis zwischen Kapital und Staat im globalen Kapitalismus wesentlich verändern und die Form und Funktionen der Nationalstaaten z. T. auf die sub- und supranationale Ebenen verlagert worden sind. Außerdem könne man feststellen, dass ein transnationales politisches Feld entstanden ist, dass eine relative Selbstständigkeit erlangt hat und deshalb eine Neukonfiguration des kapitalistischen Machtblocks im Sinne Poulantzas’ entstehe. Man kann das Buch auch als Beitrag zur Empire-Debatte lesen. Denn es geht um die Frage, wie die globalen Transformationsprozesse einzuschätzen sind und wie die neue Struktur, die auf transnationaler Ebene die Nationalstaaten überdeterminiert, zu verstehen ist. Bei allen theoretischen Differenzen mit Hardt und Negri kommt auch Wissel zu dem Schluss, dass es sich nicht um einen globalen Staat handelt. Zwar verschwinden die Nationalstaaten keineswegs, gleichwohl sei aber die globale Konstellation nicht auf ein internationales Staatensystem zu reduzieren. Ausgangspunkt der Untersuchung ist dabei die Annahme einer Transnationalisierung von Klassenverhältnissen (S. 13 - 17). Um diese These zu überprüfen stellt Wissel im ersten Teil dar, inwiefern die Weltsystemtheorie, Global Governance Konzepte, Mehrebenenanalysen, die Regulationstheorie sowie neogramscianische Arbeiten zur Internationalisierung von Staatlichkeit bisher nicht genau erfassen konnten, wie besonders die Klassenverhältnisse im globalen Kapitalismus rereguliert werden, inwiefern sich soziale Kräfteverhältnisse auf der internationalen Ebene verschieben und welche Bedeutung dies für die nationale Ebene hat (S. 19 - 67). Globalisierung ist daher als politisches Projekt zu verstehen, in der es zu Neuausformungen von politischen und sozialen Kräfteverhältnissen kommt, wie der Autor mit Rückgriff auf das begriffliche Instrumentarium von Poulantzas’ Begriff der „inneren Bourgeoisie“ überzeugend darstellen kann (S. 93 ff.). Das Verhältnis von Nationalstaat und Transnationalisierung dürfe dabei jedoch nicht als äußerlicher Widerspruch gefasst werden, sondern müsse in einer dialektischen Weise vermittelt verstanden werden. Allerdings wird kritisch gegen Poulantzas eingewendet, dass er die bürgerliche Gesellschaft auf das kapitalistische Klassenverhältnis reduziere und nicht in der Lage sei, den Widerspruch von Markt- und Klassenvergesellschaftung theoretisch zu erfassen. Das entscheidende Defizit seines Ansatzes sei der Mangel einer formanalytischen Begründung des Staates (S. 87). Nach Poulantzas sei die Internationalisierung des Kapitals im Wesentlichen durch drei Merkmale gekennzeichnet: (1) die Ausweitung des Ortes, an dem sich das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis konstituiert, (2) eine Tendenz zum Zusammenschluss von Kapitalen aus verschiedenen Ländern und (3) die Dominanz des US-amerikanischen Kapitals (S. 89 ff.). Als zentrale theoretische Innovation von Poulantzas wird die Entwicklung des Begriffs der „inneren Bourgeoisie“ im Gegensatz zur nationalen bzw. Kompradoren-Bourgeoisie angesehen (S. 94 ff.). Sie führe zur Entwicklung eines Instrumentariums, das ermöglicht, die Internationalisierung gleichzeitig als einen Prozess der Interiorisierung zu begreifen. Dies erlaube es, einen globalen Prozess zu beschreiben, der die „interiorisierte Transformation der Nationalstaaten“ erfassen kann und die „Tatsache, dass diese selbst die Internationalisierung ‚der öffentlichen Funktionen bezüglich des Kapitals‘ in die Hand nehmen (Poulantzas 2001, 63)“ (S. 100) zu beschreiben. Im dritten Teil geht Wissel dann der Frage nach, wie Poulantzas’ Begriffe heute zu reformulieren sind und kommt zu dem Ergebnis, dass heute eine Klassenfraktion entstanden ist, die weder im früheren Sinne national ist, noch transnational in dem Sinne, dass sie außerhalb der national fragmentierten Räume existieren würde (S. 108 ff.). Vielmehr kann Wissel anhand konkreter empirischer Beispiele aufzeigen, inwiefern sich die Machtverhältnisse der Akteure auf der transnationalen Ebene noch nicht „ansatzweise so verstetigt haben wie in den Nationalstaaten“ (S. 129). Von der Transnationalisierung der Ökonomie und der Klassenverhältnisse auf eine Transnationalisierung der Politik zu schließen, wäre daher kurzschlüssig. Vielmehr stelle sich die Frage, ob von einem transnationalen „Block an der Macht“ in der Terminologie von Poulantzas gesprochen werden kann. Streng genommen könne man nicht von einem transnationalen Machtblock im Sinne von Poulantzas ausgehen, solange es keinen (Welt)Staat gebe, der das Terrain bereitstelle, auf dem sich ein solcher Machtblock formieren könne. Dem steht gegenüber, dass, nach Ansicht des Verfassers, die Kräfteverhältnisse in den existierenden transnationalen Regelungsnetzwerken sich nicht mehr allein durch den Verweis auf die beteiligten Nationalstaaten erklären lassen. Es ist vielmehr eine weit verzweigte institutionelle Struktur entstanden, in der Konflikte innerhalb des neuen Machtblocks reguliert werden. Der neue internationalisierte Machtblock unterscheide sich demnach von einem nationalen Machtblock durch eine flexiblere, aber auch labilere institutionelle Strukturierung.

Nach diesen Ausführungen zum transnationalisierten Machtblock beschäftigt sich Wissel mit der damit einher gehenden Rekonfiguration der Räume (S. 135 ff.) und kommt im Anschluss an Harvey zu dem Ergebnis, dass man die aktuellen Transnationalisierungsprozesse als eine umkämpfte Reterritorialisierung auf der Suche nach einem neuen spatio-temporal fix [1] bezeichnen könne. Diese theoretischen Vorarbeiten, Kritik und Erweiterungen des Poulantzianischen Begriffsinstrumentariums führen Wissel schließlich zur Diskussion des Imperialismusbegriffes (S. 151 ff.), um sich dann im vierten Abschnitt dem empirischen Beispiel der Welthandelsorganisation (WTO) zuzuwenden und seine eingangs aufgestellten Thesen beispielhaft zu überprüfen. Hier fokussiert er vor allem das Streitschlichtungsverfahren der WTO, um zu zeigen, dass eine relative Verselbständigung dieser Organisation gegenüber den einzelnen Staaten trotz ihres im Prinzip intergouvernementalen Konstitutionsmodus zu verzeichnen ist. Durch diese haben sich neue Einflussmöglichkeiten privater Organisationen, insbesondere der transnationalen Unternehmen, herausgebildet (S. 161 ff.). Die WTO habe hierdurch eine wichtige Funktion bei der Regulierung von Konflikten innerhalb des neuen Machtblocks. Sie ist, so Wissel, Teil eines institutionellen Netzwerkes, das aus nationalen, supranationalen und transnationalen Apparaten besteht, die das Feld strukturieren, auf dem sich der neue Machtblock trotz seiner inneren Konflikte formieren kann. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Autor eine sehr anspruchsvolle und weiterführende theoretische Arbeit vorgelegt hat, die gerne noch mit mehr empirischen Beispielen gesättigt hätte werden können. Allerdings bieten gerade die schlüssigen theoretischen Weiterentwicklungen des Poulantzianischen Begriffsinstrumentariums nicht nur für die Theorien der Internationalen Beziehungen, sondern auch für weitere konkrete empirische Untersuchungen sehr gute Anschlussstellen, um aktuelle globale Herrschaftsverhältnisse analysieren und eventuell verändern zu können.

[1Anmerkung der Redaktion: Ein spatio-temporal fix entspricht einer raumzeitlichen Lösungsstrategie des Problems der Überakkumulation, die durch eine raumzeitliche Mobilisierung von Arbeit und Kapital in eine neue raumzeitliche Fixierung mündet. Der Begriff fix umfasst also den Aspekt der zeitweiligen Reparatur und der Fixierung. Dieser Prozess der raum-zeitlichen Mobilisierungen und Fixierungen trägt dazu bei, die Widersprüche des Akkumulationsprozesses zeitlich und/oder räumlich ständig neu zu verlagern.

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