Grundrisse, Nummer 33
März
2010
Giovanni Arrighi:

Die verschlungenen Pfade des Kapitals

Hamburg: VSA-Verlag, 2009, 96 Seiten, Euro 9,80

Minimol

You have only criticized that theory for its weaknesses. You can’t defeat an argument by attacking its weaknesses, you have to attack its strengths. And if you can identify the weaknesses it only means that you yourself could construct a better version of the same argument, so you have a responsibility to first construct that better version and then attack that one. [1]

Als die Redaktion der Zeitschrift grundrisse Anfang Juli 2009 bei der New Left Review um die Übersetzungsrechte des im März/April 2009 ebendort erschienenen ausführlichen Interviews von David Harvey mit dem am 18. Juni 2009 verstorbenen Giovanni Arrighi anfragte, stellte sich heraus, dass diese bereits an den VSA-Verlag vergeben waren.

Im August 2009 erschien das Bändchen, das neben besagtem Gespräch einen erstmals auf Deutsch publizierten gemeinsamen Text mit Beverly Silver unter dem Titel „Die Nord-Süd-Spaltung des Proletariats“ (2001) sowie den Nachdruck eines Interviews, das von Peter Strotmann im November 2005 in Berlin geführt wurde, enthält. Insgesamt bietet das Buch sowohl einen guten Einstieg in das Werk Arrighis als auch werden aktuelle Fragen wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 oder das Ende der Hegemonie der USA und der Aufstieg Chinas angesprochen.

Das Gespräch mit David Harvey umfasst 38 Seiten und zeichnet den persönlichen, politischen und theoretischen Werdegang Arrighis nach. „Beverly Silver (…) nannte es ein ‚Schmuckstück‘, weil es in dichter Form und anhand lebendiger Kontroversen die Herausbildung seiner systematischen und historischen Kritik des Kapitalismus schildert.“ (Christian Frings, Vorwort, Seite 8)

Wir erfahren unter anderem, dass Arrighi 1963 ans University College of Rhodesia and Nyasaland (UCRN) ging und dies aus dem höchst prosaischen Grund, dass es zum damaligen Zeitpunkt an italienischen Universitäten nur nach Jahren als unbezahlter Hilfsdozent die Aussicht auf eine bezahlte Stelle gab, während britische Universitäten im Zuge der Entkolonialisierung in vielen ehemaligen Kolonien Großbritanniens Colleges als Ableger einrichteten und auf der Suche nach wissenschaftlichem Personal auch tatsächlich Gehälter bezahlten. Arrighi selbst bezeichnet seine Zeit am UCRN als „regelrechte geistige Wiedergeburt“ (Seite 11), da seine dortige Zusammenarbeit mit SozialanthropologInnen zur Veränderung seiner neoklassischen Vorstellungen von Ökonomie führte, die vom Studium an der Mailänder Bocconi Universität herrührten.

1966 ging er – nicht ganz freiwillig – nach Daressalam in Tansania, das erst seit einigen Jahren unabhängig war und sowohl WissenschafterInnen und Intellektuelle wie Immanuel Wallerstein oder Jim Mellon (einer der späteren Gründer der Weathermen) als auch AktivistInnen der Black-Power-Bewegung der USA und der ins Exil getriebenen Befreiungsbewegungen des südlichen Afrikas anzog, was zu einem intellektuell und politisch sehr auf- und anregenden Klima beitrug. Ich greife hier gerade diesen Teil der Lebensgeschichte Arrighis heraus – und nicht z.B. die ebenfalls spannende Zeit, die auf seine Rückkehr nach Italien im Jahr 1969 folgt –, da er einen Eindruck der intellektuellen und politischen Geschichte Afrikas vermittelt, die in europäischen Köpfen weitgehend verloren gegangen ist.

In weiterer Folge wird die Entwicklung der theoretischen Arbeit Arrighis über die Jahre hinweg beleuchtet. Von Differenzen mit Wallerstein und Brenner, den Zusammenhang der Position von Staaten oder Regionen im Peripherie-Zentrum-Gefüge und bestimmten Produktionsverhältnissen betreffend über den Einfluss Braudels auf sein Denken bis hin zu seinem letzten Buch „Adam Smith in Bejing“ [2] werden zentrale Stränge seiner theoretischen Überlegungen leichtfüßig und doch komplex entwickelt, was zu einem nicht geringen Teil auch den kompetenten Fragen und Stichworten seines Gesprächspartners David Harvey geschuldet ist.

In „Die Nord-Süd-Spaltung des Proletariats“ argumentieren Arrighi und Silver gegen die These, „dass die räumliche Restrukturierung der industriellen Produktion zu einer grundlegenden Abkehr von der realen oder nur vorgestellten polarisierten Struktur der Welt (…) geführt habe“ und polarisierende Tendenzen „nicht mehr zwischen Nord und Süd, zwischen Erster und Dritter Welt, sondern innerhalb dieser Welten“ existieren. (Seite 53)

Ihr Ausgangspunkt sind sechs zusammenfassende Thesen zur weltweiten ArbeiterInnenbewegung im 20. Jahrhundert, die in prägnanter Weise die Analysen zum weltweiten Klassenkampf und zu den hegemonialen Umbruchphasen darstellen, die von Silver in „Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870“ [3] und von beiden gemeinsam in „Chaos and Governance in the Modern World System“ [4] ausgeführt werden.

Daran anschließend wird – anhand der Konflikte am WTO-Gipfel 1999 in Seattle zwischen reichen Staaten und „Entwicklungsländern“ um die Handelsliberalisierung einerseits und der Allianzen zwischen Gewerkschafts- und Ökologiebewegung in den Protesten gegen den Gipfel andererseits sowie der Debatten um die mögliche Aufnahme Chinas in die WTO – der widersprüchliche Zusammenhang zwischen Forderungen nach weltweiten Standards in den ArbeiterInnenrechten von Seiten der reichen Staaten und deren Protektionismus gegenüber dem Rest der Welt problematisiert.

Silver und Arrighi enden mit den Worten: „Hierin besteht letztlich die große Herausforderung, der die Arbeiter(Innen) des Nordens und des Südens im 21. Jahrhundert gegenüberstehen: nicht nur gegen Ausbeutung und Ausschluss zu kämpfen, sondern für ein Konsumniveau und eine Existenzsicherung, die für alle gelten können, und für eine Politik, die diese Verallgemeinerung tatsächlich herbeiführen kann.“ (Seite 78)

Abgerundet wird das Bändchen durch „Die Weltgeschichte an einem neuen Wendepunkt?“, ein Interview, in dem Debatten innerhalb der Weltsystemtheorie angeschnitten sowie mögliche weitere Entwicklungen des Endes der US-Hegemonie und des Aufstiegs Chinas diskutiert werden

Im Unterschied zu anderen WeltsystemtheoretikerInnen „fragt Arrighi nach der Bedeutung proletarischer Kämpfe für die Entwicklungspfade des Kapitalismus und nach der politischen und hegemonialen Dimension scheinbar rein ‚ökonomischer‘ Zyklen.“ (Vorwort, Seite 8) Charakteristisch für Arrighi war auch seine Vorsicht – sein Bemühen, Schlussfolgerungen erst nach umfangreichen und detaillierten Forschungen zu ziehen und sich nicht allzu sehr dem Spekulativen hinzugeben, ebenso wie die Betonung des Vorläufigen seiner Antworten und die gleichzeitige Formulierung neuer Fragen, die sich aus diesen ergaben und immer noch ergeben.

[1Giovanni Arrighi in einer Vorlesung zu einer/m Studierenden, zitiert im Nachruf von Steven Colatrella auf http://www.counterpunch.org/colatrella06242009.html

[2Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2008, VSA-Verlag

[3Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin 2005, Assoziation A

[4Giovanni Arrighi and Beverly J. Silver: Chaos and Governance in the Modern World System. Minneapolis 1999, University of Minnesota Press

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