ZOOM 2/1996
März
1996

Drahtzieher im braunen Netz

Ein Handbuch des antifaschisti­schen Autorenkollektivs

Erinnert sich noch jemand an Safwan Eid? Der libanesische Bewohner des Lübecker AsylwerberInnenheims wurde Tage nach dem Anschlag, bei dem letztes Jahr zehn Menschen starben, als mutmaßlicher Brandstifter verhaftet. Da wa­ren die drei in der Nähe des Ge­schehens aufgegriffenen Skin­heads schon längst wieder auf freiem Fuß. Ihre angesengten Haare und Augenbrauen hielt die Staatsanwaltschaft zunächst mühsam geheim, um sie später mit dem Anzünden geklauter Autos zu erklären. Von Ermitt­lungen gegen sie wurde bis heu­te nichts bekannt. Eid hingegen sitzt noch immer. Dies obwohl ein Gutachten eines Brandsach­verständigen die offizielle Versi­on, der Brand sei im ersten Stock des Hauses ausgebro­chen, habe also nur von einem Bewohner gelegt werden kön­nen, als völlig unhaltbar ent­larvt. Ein offensichtlich rassisti­scher Anschlag auf Ausländer­Innen wird durch ebenso rassi­stische Ermittlungen der Behör­den des Staates im Sinne seiner eigenen Flüchtlingspolitik ver­tuscht — und damit legitimiert. Wie einst in Rostock.

Erinnert sich noch jemand an Raimund Friedl? Der Welser wurde von zwei bereits vor Monaten verhafteten Brüdern erschossen. Über die Ermitt­lungsergebnisse, insbesondere das Motiv für den „Unfall“, schweigt die Staatsanwalt­schaft beharrlich. Der Ver­dacht, daß der Musiker Opfer einer Verwechslung mit dem Journalisten Wolfgang Purtscheller wurde, besteht somit nach wie vor.

Friedl widmet das antifaschisti­sche Autorenkollektiv seinen „aktuellen Überblick über den Neonazi-Untergrund in Deutschland und Österreich“: von Nationalistischer Front, Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front, VAPO und NSDAP/AO über Wiking-Ju­gend und Junge Nationalde­mokraten bis zu Nationalen In­fotelefonen und Thule-Netz. Das Handbuch faßt die Akti­vitäten der zahlreichen Nazi­gruppen zusammen, nennt die Akteure, beschreibt die Quer­verbindungen und ideologi­schen Bezüge.

Die AutorInnen verzichten weitgehend auf tiefergehende inhaltliche Analysen. Trotzdem ergeben sich aus dem oder gera­de aufgrund des akribisch zusammengetragenen empiri­schen Materials wichtige Zu­sammenhänge, die für ein Ver­ständnis des trotz einiger Ver­bote ungehindert weiter agie­renden Neonazi-Untergrunds unentbehrlich sind: die un­trennbare Verzahnung der deutschen mit der österreichi­schen Neonaziszene, der ständi­ge Bezug auf die Tradition der auch vom F-Führer hofierten Waffen-SS, die wichtige Rolle, welche die alten „Herren“ (und erstaunlicherweise auch „Da­men“) spielen, die im Hinter­grund die Fäden ziehen — zu­meist ehemalige SS-ler oder BDM-lerinnen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Zu den europäischen Drahtzie­hern der neonazistischen Inter­nationale gehört das steirische Paar Lisbeth Grolitsch (einst jüngste Gau-Unterführerin im BDM) und Herbert Schweiger (SS-Leibstandarte Adolf Hit­ler). Die beiden stehen dem Deutschen Kulturwerk eu­ropäischen Geistes und dem mit diesem eng verbundenen Freundeskreis Ulrich von Hut­ten vor. Schweiger sitzt seit zwei Monaten in Untersuchungshaft. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hatte ihn angezeigt, in seinem jüngsten Buch das Parteipro­gramm der NSDAP von 1923 fortgeschrieben zu haben — „zum Teil sogar wörtlich“ (Der Standard, 27.3.96). Grolitsch leitete im September letzten Jahres ein Strategietreffen alter und neuer Nazis in Sachsen, auf welchem nach Berichten eines sich eingeschlichenen Journali­sten Fragen wie folgende debat­tiert wurden: „Waren die Brief­bomben richtig, sollen sie fort­gesetzt werden, gegen welche Personen sollen sich künftig Anschläge und Terror richten?“ (Der Rechte Rand 39/96).

Das Anfertigen von Netzen gilt gemeinhin als eine Spezialität der „Freiheitlichen“. Wollte man oder frau den Inhalt des gegenständlichen Handbuchs grafisch darstellen, reichte eine A4-Seite bei weitem nicht aus. Ausgebreitet füllte die Grafik zumindest den Wiener Rat­hausplatz. Ein Problem solcher Netze ist das folgende: Begin­nend an irgendeiner Stelle, sa­gen wir Neonazi X, ist es prak­tisch immer möglich, einen Pfad durch das Labyrinth an je­de beliebige andere Stelle, sa­gen wir Neonazi Y, zu finden. Doch ob es sich hierbei um eine für die neonazistische Verflech­tung bedeutende Verbindung handelt oder ob lediglich X ei­nen Neonazi A kennt, der auf irgendwelchen „volkstreuen Tagen“ auf den Neonazi B ge­stoßen ist, der wiederum zufäl­lig Kontakt mit Y hatte, ist nur schwer nachzuvollziehen. Ein Weg, dies herauszufinden, ist die inhaltliche Analyse. Einen anderen beschreitet dieses Handbuch: das Netz so zu verdichten, daß die wesentlichen Verbindungen deutlich wer­den. Der oder die Mathemati­kerIn würde sagen: Hängen X und Y nicht nur einfach, son­dern vielfach zusammen, wer­den jene Zusammenhänge klar, die oben angedeutet wurden.

Trotz mancher kleinerer Fehler, das Buch „Drahtzieher im brau­nen Netz“ sei zum Lesen em­pfohlen: all jenen, deren Magen stark genug ist — und den BeamtInnen der Briefbomben-Sonderkommission.

Drahtzieher im braunen Netz. Ein Handbuch des antifaschisti­schen Autorenkollektivs.
Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1996, ca. öS 250,—

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