Drei Geschichten über Kinder, und wie es weiter ging
Abdruck der Lesung zur 10. Jahresfeier der Psychosozialen Ambulanz für die Opfer des Nationalsozialismus — ESRA, gehalten am 16. November 2004 in Wien.
1. Das Kind vom Spiegelgrund
Rudolf K. wird 1930 als uneheliches Kind im 16. Gemeindebezirk von Wien geboren, nach ihm kommen noch zwei Schwestern. Die Familien der Eltern akzeptierten offenbar keine Heirat, Rudolf weiß bis heute nicht den Grund dafür. 1937 stirbt die Mutter, die näheren Umstände ihres Todes hat Rudolf nie erfahren. Die Großmutter mütterlicherseits kümmert sich um die drei Kinder. In Zimmer-Küche-Kabinett leben acht Erwachsene und vier Kinder. Der Vater und seine Brüder sind arbeitslos. 1938 schimpft einer der Onkel auf Hitler, kommt ins KZ und wird später zu einem Strafbataillon an die Ostfront versetzt. Einer von Mutters Brüdern ist ein gewalttätiger Choleriker. Er war 1926 in der Fremdenlegion gewesen und gilt deshalb für die Nazis als wehrunwürdig. Somit bleibt er während des Krieges zu Hause. Er pflegt seine Wut am kleinen Rudolf auszulassen. Einmal hat er einen Gips am Arm und schlägt derart heftig auf Rudolf ein, dass der Gips zerbricht.
„Vielleicht hab ich meinem Vater ähnlich geschaut“, erklärt sich Rudolf die Brutalität seines Onkels gegen ihn. Am 10. September 1944 wird der gewalttätige Onkel bei einem Bombenangriff ums Leben kommen.
Die Großmutter sucht bei der Jugendfürsorge um Unterstützung für ihre drei Enkelkinder an. Lange Zeit kommt keine Reaktion.
Eines Tages marschiert auf der Straße eine Hitlerjugendgruppe samt Fahnen vorbei. Der elfjährige Rudolf vergisst, den Fahnengruß zu leisten. Daraufhin wird er von den Hitlerjungen zusammengeschlagen, und es gibt einen Aktenvermerk.
1941 kommt der Bescheid: Alle drei Kinder werden in die Obhut der Reichserziehungsanstalt aufgenommen. Man holt die Kinder ab. Sie kommen auf die Baumgartner Höhe, in die Anstalt am Spiegelgrund, Pavillon 17.
Die Mädchen haben Glück, werden bald entlassen. Für das ältere Mädchen finden sich Pflegeeltem, für das andere ein Platz in einem Klosterinternat. Die ältere Schwester wird später zur Großmutter zurückkehren und Schneiderin werden. Die jüngere wird einen bulgarischen Medizinstudenten kennen lernen, den sie nach dem Krieg heiratet. Sie wird mit ihm nach Bulgarien gehen.
Rudolf verbringt zwei Jahre am Spiegelgrund. Wie an allen Kindern in diesem Pavillon, wurden auch an ihm Medikamente ausprobiert. Die Kinder nennen diese Injektionen „Speibspritzen“, weil ihnen entsetzlich schlecht wird, weil sie sich danach unter Krämpfen erbrechen müssen.
Das Pflegepersonal ist sehr brutal, ständige Ohrfeigen sind das mindeste. Bei der geringsten Unfolgsamkeit, bei der kleinsten so genannten Disziplinlosigkeit müssen die Kinder stundenlang, fast die ganze Nacht durch, vor den Betten stehen. Dabei sind auch im Winter die Fenster offen. Das Essen ist miserabel, man verschwendet nicht kostbare Nahrung an Versuchskaninchen.
Mit seinem Freund Fritz ergreift Rudolf die Hucht. Fritz ist ein Straßenkind, ihm gelingt es, wenigstens für eine Weile unterzutauchen. Rudolf ist noch nicht so gewitzt, er geht einfach heim zur Oma. Minuten später ist die Polizei da. Von der Polizeistation Praterstern muss er zu Fuß auf den Spiegelgrund zurückgehen, der Polizist fährt mit dem Motorrad hinter ihm.
Als erstes werden ihm die Haare schüppelweise ausgerissen, bis er eine blutige Glatze hat. Dann wird er in eine Badewanne gesteckt, die mit eiskaltem Wasser gefüllt ist. Als es ihm gelingt, den Stöpsel heraus zu ziehen, stellt man ihn eine halbe Stunde lang unter die eiskalte Dusche. Danach muss er durch die „Salzgasse“ gehen. Dabei stehen links und rechts aufgereiht die anderen Kinder, mit Stöcken in den Händen, und schlagen auf den durchmarschierenden Delinquenten ein.
Aber die schlimmste Strafe kommt noch. Rudolf wird in den Pavillon 15 versetzt, wo der gefürchtete Dr. Gross seine Herrschaft ausübt. 700 Kinder werden dort ermordet, im Dienste der Wissenschaft. Aber Rudolf hat Glück. Er muss nur drei Wochen bleiben.
Heute sagt Rudolf: „Ich war wohl nicht interessant genug, sonst hätte mich der Gross sicher auch in ein Glas gesteckt, als Präparat.“
Nun kommt Rudolf dank des Einsatzes seiner Großmutter in ein Waisenhaus nach Mödling. Dort herrschen militärischer Drill und vormilitärische Ausbildung. Auch an der Waffe. Rudolf lässt seine Großmutter im Glauben, es gefalle ihm dort. Er hat Angst, dass die resolute Frau sich beschwert und verhaftet wird. Die bringt bei ihren Besuchen jedes Mal einen wunderbar duftenden Kuchen mit. Mehr als der Duft in der Nase bleibt Rudolf nicht, denn natürlich essen die Erzieher den Kuchen.
1943 darf er wieder nach Hause und wird nach Südungarn geschickt, wo sich Pflegeeltem seiner annehmen. Eigentlich hätte er nur für drei Monate dort bleiben dürfen, er bleibt viel länger. Und er ist zum ersten Mal in seinem Leben glücklich. Denn seine Pflegeeltem, so genannte „Volksdeutsche“, behandeln ihn liebevoll, wie einen eigenen Sohn. Durch die Kriegswirren muss Rudolf schließlich doch wieder zurück nach Wien. Seine Großmutter ist inzwischen alt, krank, pflegebedürftig, sie kann nichts mehr für ihn tun. Doch bald ist der Krieg aus. Endlich.
Rudolf — er ist 15 Jahre alt — begeht seine erste Straftat. Er beginnt eine Liaison mit einer 30-jährigen Frau, die ihn bei sich aufgenommen hat. Nach zwei Wochen will er ausziehen, weil er diese Situation nicht aushält. Die Frau wirft ihn hinaus, lässt ihn seine Kleider und Sachen nicht mitnehmen. Er beschließt also, des Nachts bei ihr einzusteigen, um sich seine Sachen zu holen. Sie zeigte ihn daraufhin an und er kommt als Einbrecher in die Jungendstrafanstalt Kaiser-Ebersdorf.
Unbedingt will er nun etwas lernen, denn er weiß, ohne Ausbildung hat er keine Chance im Leben. Lange Zeit darf er nur Kohlen schleppen und andere Hilfsdienste ausüben. Aber er setzt sich schließlich durch, er lernt das Schneiderhandwerk, schließt sogar die Berufsschule ab. 1950 wird er entlassen, er ist 20 Jahre alt. Und er versucht, eine Anstellung als Schneider zu bekommen. Doch das Zeugnis aus Kaiser-Ebersdorf schadet ihm nur, denn Kaiser-Ebersdorf hat einen sehr schlechten Ruf. Dort sitzen die jungen Mörder ein, sagt man.
Nachdem er lange vergeblich auf Arbeitssuche war, steigt Rudolf erneut durch ein Fenster, diesmal stiehlt er aber fremde Sachen und er erhält zehn Jahre Zuchthaus. Ein Selbstmordversuch misslingt.
Nach seiner Entlassung arbeitet er für einige Zeit in einer Brauerei. Und dann findet er endlich über einen Schulfreund eine Arbeit, die ihm wirklich gefällt, nämlich als OP-Gehilfe in einer Klinik. Immer schon, seit der Spiegelgrundzeit hatte er nämlich Krankenpfleger werden wollen, aber eine ganz andere Art von Krankenpfleger.
Inzwischen ist er verheiratet und seine Frau entwickelt die merkwürdige Angst, er könnte ansteckende Krankheiten mit nach Hause bringen. So kündigt er schließlich.
Und findet dank eines toleranten Menschen eine Beschäftigung in seinem erlernten Beruf. Er wird Theaterschneider. Er erzählt nämlich seinem zukünftigen Chef von seinen Gefängnisaufenthalten, dieser vertraut ihm trotzdem. So arbeitet er am Tag als Kostümschneider und am Abend am Schnürboden.
Weil er immer so spät nach Hause kommt, macht ihm seine Frau wieder Vorwürfe. Es kommt zu Auseinandersetzungen und schließlich zur Scheidung. Die Wohnung überlässt er der Frau.
Nach einem Nervenzusammenbruch wird er wieder arbeitslos. Er bewirbt sich um einen Posten als Hausmeister. Doch die Wohnung ist leer und er hat kein Geld für Möbel. So steigt er sechsmal in Geschäfte ein, und bald hat er das neue Mobiliar beisammen. Doch dann steht die Kriminalpolizei vor der Tür.
Vor dem Richter erklärt er seine Lage und dass er die letzten Jahre immer gearbeitet und nichts verbrochen hat, und dass er nach der Scheidung vor dem existenziellen Nichts gestanden war. Der Richter hat Verständnis und ordnet ein psychiatrisches Gutachten an.
Der Arzt, der Rudolf nun begutachtet, ist niemand anderer als der gefürchtete Dr. Gross vom Spiegelgrund. Rudolf gerät in Panik. Dr. Gross fragt nach dem Grund der Aufregung. Rudolf gibt sich als Spiegelgrund-Insasse zu erkennen. Daraufhin sagt ihm der Arzt, dass er ihm helfen wolle. Die Hilfe sieht so aus, dass er in seinem Gutachten Rudolf als „vorzüglich in Heimen aufgewachsenen abnormen Rechtsverbrecher“ bezeichnet, und empfiehlt, ihn nach Stein zu schicken, zu den Schwerverbrechern.
Diesem Ratschlag folgt jedoch der Richter nicht. Er schickt Rudolf für drei Jahre nach Mittersteig, in die Reformanstalt.
Dennoch ist Rudolf nach seiner Entlassung im Jahre 1981 so wütend über seine hoffnungslose Situation, dass er demonstrativ in einem Großkaufhaus sinnlose Waren entwendet.
Bei der Verhandlung sitzt neben dem Richter wieder der Gutachter Dr. Gross. Und sagt zu Rudolf: „Es ist erstaunlich, wie gut Sie sich gehalten haben!“
Wieder Gefängnis.
Und dennoch: Immer, wenn man Rudolf eine Chance gibt, bemüht er sich. Einmal arbeitet er sogar als Geldbote. Und niemals käme er auf die Idee, mit dem Geld abzuhauen.
Und immer wieder kündigt Rudolf, wenn seine Kollegen erfahren, dass er vorbestraft ist.
„Denn wenn was fehlt, dann wär’s ich gewesen.“
Eine seiner letzten Straftaten ist dann so unschuldig wie die erste. Rudolf arbeitet in einem Kino als Billeteur. Nach der Abendvorstellung geht er nach Hause. Es regnet. Der Film war ein beschwingtes amerikanisches Musical. Rudolf pfeift die Titelmelodie und schwingt den Regenschirm. Dieser entgleitet seiner Hand und durchstößt ein Schaufenster. Im Schaufenster steht ein großer Kachelofen, sonst nichts. Natürlich kommt er trotzdem ins Gefängnis.
So hat Rudolf den größeren Teil seines Lebens in Heimen und Gefängnissen zugebracht.
Und nie, außer zu Dr. Gross, hat er je über seinen Aufenthalt am Spiegelgrund gesprochen.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass das irgendjemanden interessieren könnte.
Im Jahre 2000 ändert sich alles. Von der Wiener Gesundheitsstadträtin Pittermann und von seinem ehemaligen Leidensgenossen Fritz wird er überredet, im Prozess gegen Dr. Gross auszusagen. Endlich wird öffentlich ausgesprochen, wer nun wirklich „der abnorme Rechtsbrecher“ ist. Nicht Rudolf K., sondern Dr. Gross.
Und im Jahr 2000 kommt Rudolf auch zum ersten Mal zu ESRA. Ab jetzt kann er sprechen und wird gehört. Ab jetzt ist er nicht mehr allein.
Und er will weitergeben, was er erlebt hat. Rudolf geht an die Schulen und erzählt den Kindern, was Kindern angetan wurde. Und sie hören ihm zu.
2. Das Waisenkind aus Czernowitz
Joseph wird 1948 in Czernowitz geboren, in „der Stadt der Bücher“, ehemals österreichische Bukowina, nach dem 1. Weltkrieg zu Rumänien gehörend, nun Sowjetunion. Josephs Familie sind so genannte Displaced Persons aus Rumänien. Beide Eltern stammen aus der Umgebung von Bukarest. 1940 sind sie vor der faschistischen Eisernen Garde in das sowjetisch besetzte Czernowitz geflohen. Die Familie der Mutter zog weiter nach Samarkand, die Eltern von Joseph blieben in Czernowitz.
Die Mutter wird Krankenschwester, der Vater bekommt als ehemaliger Geschäftsmann — für die Sowjets also Kapitalist — keine Anstellung und schlägt sich mühsam durchs Leben. Bald wird er in die Armee einberufen, und zwar zu den Pionieren, was als Himmelfahrtskommando gilt.
Als die Deutschen Czernowitz besetzen, wird die Mutter von Joseph — wie viele andere — in das Lager nach Kamenez-Podolsk gebracht.
Es gibt zwei Versionen ihres Schicksals:
- Sie war sehr schön und sollte in ein Bordell. Sie weigerte sich energisch, weswegen sie ins Lager kam. Dort gab es medizinische Experimente mit ihr, man spritzte ihr Benzin in die Beine.
- Sie kam direkt ins Lager.
1944 wird sie befreit und kommt zurück nach Czernowitz. Auch ihre Familie kehrt aus Samarkand nach Czernowitz zurück, alle aber, bis auf die Mutter und Tante Frieda, Mutters Schwester, lassen sich nach Rumänien repatriieren, jedoch mit dem Plan, auszuwandem.
Ende 1947 darf endlich der Vater von der Arbeitsfront zurück.
Joseph meint heute, seine Geburt 1948 in Czernowitz und überhaupt, sei ein Zufall gewesen.
Tante Frida ist KP-Mitglied und erreicht eine leitende Position in der Fabrik.
Mutter bleibt zu Hause. Der „kapitalistische“ Vater bekommt weiterhin keine geregelte Arbeit und schlägt sich am Schwarzmarkt durchs Leben. Unter anderem handelt er mit Pelzen.
1956 kommt Joseph in die Schule. Er ist sehr eifrig und wird leitender Pionier der Klasse.
Als solcher berichtet er vom „kontrabandistischen Leben der Eltern“, also von den Pelzen des Vaters. Da der Vater ohnehin schon ein Volksfeind ist, kommt noch in derselben Nacht die Polizei. Aber Joseph, der begeisterte Jungkommunist, hat beim Abendessen seinen Eltern ganz unverblümt erzählt, dass er ihren Lebenswandel in der Schule zur Sprache brachte und sie mögen sich eines besseren besinnen. So kann Vater die Pelze noch schnell beiseite schaffen und sich auf das Verhör vorbereiten. Er entgeht einer Verhaftung. Joseph kommt aber dann zu Tante Frida, der Parteigenossin. Was gut ist für Joseph, denn sie hat die bessere Gesinnung und das bessere Essen.
Ein Teil der Familie war inzwischen nach Israel ausgewandert, ein Bruder der Mutter gründet dort einen Kibbuz.
Joseph spricht ausschließlich russisch. Rumänisch und Jiddisch sind wie Geheimsprachen. Joseph versteht sie, kann sie aber nicht sprechen.
Die Familie hat große Sehnsucht nach dem Westen, nach Kaffee, Bananen und Klopapier.
Zum Glück kommen manchmal Pakete von Verwandten im Westen.
Das große Morden ist vorbei, aber nicht der Antisemitismus. Es gibt ein beliebtes Spiel in Czernowitz: Joseph wird auf der Strasse von anderen Kindern aufgehalten und muss das Wort „Kuritza“ sagen, was Huhn bedeutet. An der Art, wie man das „R“ ausspricht, erkennen die Russen einen Juden. Auch Joseph erkennen sie und schlagen ihn zusammen.
1956/57 bemühen sich Josephs Eltern um Auswanderung. Fast hätte es geklappt. Doch weil die Schreibweisen der Namen (Mutter: Rachel/Rael; Vater Nathan/Noach) auf den Einladungen anders waren als die auf den Papieren, reagiert die Bürokratie mit Ablehnung. Beide, Vater und Mutter, werden krank. Vater leidet an Bauchspeichelkrebs und wird in den letzten Jahren seines Lebens opiumsüchtig. Die Mutter hat Probleme im Unterleib.
1959 stirbt der Vater. 1961 wird die Mutter operiert, verliert viel Blut dabei, es fehlt Blut für eine Transfusion, sie stirbt ebenfalls. Der 13jährige Joseph ist Vollwaise.
Das Jugendamt will Joseph in ein Waisenhaus bringen, er wehrt sich mit Händen und Füßen. Und Tante Frida schafft es, dass Joseph zu seinem Onkel nach Wien übersiedeln darf.
1962 ist es dann soweit. Joseph ist auch darüber zuerst sehr unglücklich, weil er alle seine Freunde verliert.
In Kisten nimmt Joseph die gesamte Bibliothek seines Vaters mit, alles jiddische und russische Literatur. Da aber alle Bücher aus der Zeit vor 1945 sind, werden sie an der Grenze als sowjetisches Kulturgut konfisziert und aus dem Zug geholt.
Als Joseph in Wien ankommt, kann er kein Wort deutsch. Sein Onkel, Bruder seiner Mutter, bringt ihn im Internat Theresianum unter.
Alles ist nun anders, Joseph kann sich schwer umgewöhnen. In Russland zum Beispiel aß man mit der Gabel. Pro Tisch gab es ein Messer, das herumgereicht wurde.
Und weil Joseph sich so schwer tut mit der Sprache, weil er anfangs überhaupt kein Wort versteht, versucht er, sich unsichtbar zu machen in seiner Bank und auch am Esstisch. Indem er sich nämlich zusammenkrümmt. Das kommt aber nicht gut an bei den Lehrern. So legt man ihm Bücher auf den Kopf, und auch unter die Achseln muss er welche klemmen, damit er sich eine aufrechte Haltung angewöhnt.
Und die Schulkollegen? Joseph meint nur, da waren viele Törless-Erlebnisse. Es sei nicht leicht gewesen, mitten in der Pubertät in einem Vollinternat zu sein. Als Fremder. Er sei neurotisch gewesen wie aus dem Lehrbuch. Außerdem musste er wegen des Sprachnachteils auch in der Freizeit immer lernen. Der einzige Freund war ein katholischer Fundamentalist, der wollte, dass Joseph zum rechten Glauben übertritt. Das hat er zwar nicht geschafft, aber Joseph trifft diesen Schulfreund noch heute. Trotz ihrer Verschiedenheit hatten sie sich gut verstanden. In diesen ersten Jahren ist eine große Einsamkeit um Joseph. Der Onkel merkt das und schickt ihn zum Tanzkurs zum Elmayer. Joseph versteckt sich davor im Hawelka. Tanzen kann er bis heute nicht.
Aber Joseph ist sehr hart gegen sich selbst und verliert kein einziges Schuljahr. Nach fünf Jahren auf dieser Privatschule schließt er mit einer ausgezeichneten Matura ab.
Aber nun weiß er nicht, was er tun soll. Wie alle, die das nicht wissen, studiert er Theaterwissenschaft, Germanistik und, ja, Anthropologie. Aber auf der Theaterwissenschaft ist ein Professor Kindermann, und dessen Nazi-Vergangenheit und dessen Meinungen über Theaterliteratur gefallen Joseph überhaupt nicht.
Josephs Lieblingslehrer, der Biologielehrer am Theresianum, drängt ihn schließlich, Medizin zu studieren. Man brauche dringend neue, junge Arzte, und dringend andere als die aus dem 1000jährigen Reich.
Jahrelang studiert Joseph, ohne Prüfungen abzulegen. Letztlich braucht er neun Jahre, um das Medizinstudium erfolgreich abzuschließen.
„Ich war beim SOS, bei den Sozialistischen Österreichischen Studenten. Am Abend war ich aber meistens im VumVum, im Atrium, im Vanilla. Aber eher zurückhaltend. Wegen meiner Neurosen.“
Josephs Biologielehrer hatte aber trotzdem die richtige Nase. Irgendwann ging Joseph der Knopf auf. Irgendwann fand er seine Berufung. Und heute hilft er Menschen wie Rudolf, dem Kind vom Spiegelgrund. Und er hilft Menschen, die von weit her kommen, und es schwer haben, sich zurechtzufinden, in der Fremde, so wie Joseph selbst, damals, 1962.
3. Das Kind aus dem Untergrund
Ich hab das schon auf der Schule zu spüren bekommen. Schon in der 3. Volksschule beugt eine sich vor zu mir und sagt: „Du Jüdin!“. Ich dreh mich um und sag: „Du Christin!“
Ich hab natürlich zum Direktor müssen, ich wurde bestraft. Sie nicht.
Leopoldine wird 1925 im 12. Wiener Gemeindebezirk geboren. Als sie acht Monate alt ist, lässt Mutter sich scheiden und verschwindet spurlos. Später erfährt sie, dass die Mutter zuerst nach England ging und von dort nach Palästina. Der Vater gibt Leopoldine zu einer Pflegefamilie. Die Frau stammt aus Italien, der Mann ist Wiener, ein schwerer Trinker. Die Pflegemutter kann zwar kaum Deutsch, aber wenn sie schlecht gelaunt ist, beschimpft sie Leopoldine als „Saujüdin“. Dann stirbt der Pflegevater. Und Leopoldines Vater kommt immer öfter zu Besuch. Leopoldine glaubt zuerst, das sei wegen ihr, wegen seines Kindes.
„Mein Vater, der war Spieler, und hat in einer Nacht ein Kino und ein Kaffeehaus verspielt. Er war praktisch obdachlos. Also hat er meine Pflegemutter geheiratet und ist zu uns in diese Gemeindewohnung gezogen. 1938, ich war 13 Jahre alt, hab ich dann plötzlich eine amtliche Postkarte bekommen. Ich soll mich melden in der Prinz-Eugen-Strasse. Mit einem Koffer. Zwei Kleider, zwei paar Schuh, mehr nicht einpacken. Mein Vater und meine Pflegemutter haben gemeint, ich soll halt dort hingehen. Einberufung zu Arbeitsdienst oder so was. Ich bin gegangen, aber nicht dorthin. Ich weiß nicht, hab ich irgendwo schon etwas gehört, jedenfalls war mir das nicht geheuer. Jemand hat mir dann den Zugang vermittelt, zu einer Gruppe, die im Untergrund gearbeitet hat. Was sie genau gemacht haben, keine Ahnung. Wir haben uns alle nur mit Vornamen gekannt.
Da hat es am Ring ein Haus gegeben, Nähe Mariahilfer Straße. Und da war eine Portierloge, ziemlich groß. Und in der Mitte von dem Raum war ein Plafond eingezogen. Da oben war ziemlich viel Platz, da haben sich immer wieder Leute versteckt, haben dort geschlafen. Ich auch. Aber man hat immer gewechselt, nie lange an einem Platz. Es war ein gefährliches, gehetztes Leben, immer Angst. Wir waren so sieben, acht Menschen. Und wir haben ausgemacht, dass wir uns nach dem Krieg wieder treffen.
Und zwar jeden ersten im Monat um 12 Uhr im Burggarten.
Ende 1943 haben sie mich erwischt. Und das war mein Glück. Ein Jahr vorher hätten sie mich noch umgebracht, aber jetzt haben sie schon dringend Arbeitskräfte gebraucht. Und solange du hast arbeiten können, warst du eigentlich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr.
Ich hab in der Heeresmunitionsanstalt St. Georgen bei Traunreut arbeiten müssen. Unterirdisch, alles unterirdisch. Giftgasgranaten wurden dort hergestellt. Als es vorbei war, bin ich zu Fuß nach Wien zurück. Ende 1945 bin ich dort angekommen. Am 1. Jänner 1946 bin ich gleich in den Burggarten. Keiner war da. Monatelang bin ich da hin gegangen. Aber es ist nie wer gekommen. Hat wohl keiner überlebt.“
Leopoldine bekommt eine Anstellung bei den Engländern. Als Kind hat sie an Ferienlagern der Israelitischen Kultusgemeinde teilgenommen. Dort wurde auch Englisch unterrichtet. Das kommt nun Leopoldine sehr zu gute. Sie arbeitet in der Küche des Offizierscasinos, in einer Villa in Hietzing. Sie hat ein eigenes Zimmer mit Bad. Sie bildet sich zur perfekten Köchin und Kellnerin aus. Sie wird Wirtschafterin in einem englischen Club. Und später der erste weibliche Oberkellner von Wien. Eines Tages ist sie dann sogar Chef du Rang geworden, im berühmten Salzburger Restaurant Winkler, als einzige weibliche Bewerberin 30 Männern vorgezogen. Die Krönung war dann ihr eigenes Wirtshaus in Wien, mit hundert Gerichten auf der Speisekarte, und diese in Gedichtform.
Ich hab ja viele Büffets für die Engländer gemacht, hab das immer alles schön hergerichtet, und der englische Colonel hat dann zu mir gesagt, ich soll doch nach London gehen, ein Cateringservice dort aufmachen. Die vom Hilton Hotel wollten mich nach Indien schicken ... Aber damals hat mein Vater noch gelebt und war sehr krank und da wollt ich nicht weg. Ich weiß nicht, ich wollte nicht weg aus Österreich, ich wollte da was tun. Ich bin in die Friedensbewegung gegangen und hab mich bei den SPÖ-Frauen engagiert. Irgendwann habe ich mitbekommen, dass mir ein Opferausweis zusteht. Aber ich wollte keinen Opferausweis.
Opferausweis beinhaltet etwas. Wenns auch nur sprachlich ist. Ich wollte immer auf eigenen Füßen stehen. Was brauch ich einen Opferausweis? Aber wie das mit dem Waldheim war, da ist plötzlich der Deckel wieder aufgegangen.
„Was soll’s denn! Die sollen doch den armen Kerl da in Ruh lassen. Wir waren doch alle Nazis.“ So was war da zu hören gewesen!
Bei mir ums Eck ist ein Tischlermeister. Und der hat die Gewohnheit, seinen Wagen quer über’n Gehsteig zu parken. Es war Winter. Und ich komm gerade dazu, wie eine junge Frau sich beschwert, weil sie mit dem Kinderwagen nicht durchkommt. Auf der Seite Auto-Schneehaufen-Auto-Schneehaufen, sie hätte die ganze Straße zurückgehen müssen. Und er sagt zu ihr: „Ihr Weiber habt’s eh Zeit genug zum Spazierengehen, dann gehn’S halt wieder zurück.“ Und ich sag: „Wie reden Sie mit der Frau?“ Und er drauf: „Na, Sie san ganz ruhig, weil rein arisch schauen Sie auch nicht aus! “ Der wird so 35 Jahre alt gewesen sein.
Geh ich aus einem Cafe hinaus, hinter mir eine Frau. Aus heiterem Himmel sagt die plötzlich zu mir: „Also, ich mag die Juden nicht.“ — „ Kennen sie viele?“ hab ich sie gefragt. „Na, überhaupt keine! “ — „Und woher kommt dann ihre Antipathie?“ „Na ja, aus der Geschichte.“
Irgendwie hab ich mir gedacht: Ich will jetzt meinen Opferausweis. Weil immer alle so abwimmeln und sagen, das war ja gar nicht so schlimm. Und da ist so eine jüngere Frau dort im Amt gesessen. Ich erzähl ihr alles, zeig ihr die Papiere. Und dann, wie es halt dazu gekommen ist, dass ich in den Untergrund gegangen bin, fragt sie mich, wo ich da gemeldet war. Sie fragt mich, wo ich gemeldet war! Und dann hat sie gesagt, ich muss beweisen, dass ich mindestens ein halbes Jahr den Judenstern tragen musste.
„Und wie soll ich Ihnen das beweisen?“ — „Na ja, Sie könnten zum Beispiel dort hingehen, wo Sie damals gewohnt haben und mit den Leuten dort sprechen. Dass die das bezeugen.“
„Ich mach’ Ihnen einen anderen Vorschlag“, hab ich gesagt. „Sie beweisen mir, dass es einen Juden gegeben hat, der keinen Judenstern tragen musste.“ Wir sind nicht zusammengekommen. Eine Woche später bekomm ich eine Postkarte. Ladung zur Einvernahme. Genau wie damals! Genau wie damals! Ich bin da hin und hab den halben Schreibtisch abgeräumt. Den Opferausweis hab ich bekommen. Ich bin jetzt 79 und hab ein tätiges, erfülltes Leben hinter mir. Und ich hab mich immer nach der Devise gehalten: Niemandes Herrn, niemandes Knecht.
Mit ESRA hab ich das Gefühl, ich bin irgendwie zu Hause angekommen. Wie meine Augen so schlecht geworden sind, hab ich dort angerufen, eine Sozialarbeiterin ist gekommen und hat mir geholfen. Hat auch gemerkt, dass ich so schweres Asthma hab, und bei mir kein Lift im Haus. Fragt sie mich, ob ich nicht lieber umziehen möchte, in eine bessere Wohnung, im 2. Bezirk. — Da wohn ich jetzt, und bin sehr froh, unter meinen Leuten.
Aber ich hab auch dort wieder ein Erlebnis gehabt, das war lustig. Treff ich eine Frau beim Lift, die ich immer wieder dort antreff’ und wir wechseln ein paar freundliche Worte, und plötzlich meint sie: „Sagen Sie, sind Sie vielleicht auch Jüdin?“ — Und ich sag: „Ja!“ — Und sie sagt etwas betreten: „Na ja. Macht ja nix.“
Leopoldine muss sehr lachen, als sie das erzählt. Wie sie oft lacht, bei diesen absurden Vorkommnissen.
Zum Abschluss erzählt sie stolz von ihrem ersten Auto. Das war ein Fiat 1100 E, den sie sich 1950 schon kaufte. Damals, sagt sie, führten Männer noch einen Kochlöffel in ihrem Gefährt mit, den sie dann mahnend jenen seltenen Frauen zeigten, die es wagten, am Steuer eines Autos zu sitzen.
