Grundrisse, Nummer 32
Dezember
2009

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Gespenst geht um – nicht nur in Europa, das Gespenst der besetzten Universität. Die gegenwärtige transnationale Protestbewegung an den Universitäten hat – nach einer langen Sommerpause – diesmal erstaunlicherweise von Wien ihren Ausgang genommen. Das freut uns. Ob und wie weit es durch die globale Dynamik möglich sein wird, dass der doch überraschend massive, breite und vielfältige Widerstand an den Unis auch auf andere gesellschaftliche Sphären ausstrahlt bzw. wie sich eine Verbindung und Überlappung zwischen den jeweiligen Kämpfe herstellen lässt, ist noch offen. Tatsache ist jedenfalls, dass es wohl nicht zufällig in Zeiten der schwersten Krise des Kapitalismus seit langer Zeit passiert und dass die Zyklen der Proteste schneller und intensiver werden – denken wir nur an die Revolten in den Banlieues, die Bewegungen gegen CPE in Frankreich, die Aufstände in Griechenland, die onda anormala in Italien oder die Widerstände gegen die Auswirkungen der Krise in der Türkei, in Island sowie die massiven Protestbewegungen im globalen Süden und nicht zuletzt an die Kämpfe der Sans-Papiers. Tatsache ist auch, dass die offizielle Politik weniger Antworten denn je hat – diese Tendenz zeigt sich in vielen Texten dieser Ausgabe. Die Bandbreite der in dieser Ausgabe vorgestellten theoretischen Positionen ist ebenso vielfältig wie die Protestformen selbst und reicht von neo-situationistischen Ansätzen, über (historische) Hintergrundberichte bis hin zu genealogischen Machtanalysen und Thesenpapieren.

Der komplexen Verknüpfung (oder doch Dialektik?) von kapitalistischer Krise, universitären Protestbewegungen und globalen Revolten im Detail nachzugehen, diese Aufgabe können wir wohl nicht leisten. Die vorliegende Schwerpunktnummer soll aber zumindest Schlaglichter auf die globale Dimension der Widerstandsbewegungen gegen die Zumutungen des globalen Krisenkapitalismus werfen. Der erste Teil beinhaltet daher Texte, Statements und Reflexionen zu den aktuellen Protesten an den Universitäten – nicht nur in Österreich; im zweiten werden Analysen und Hintergrundberichte zu lokalen Kämpfen, abseits der Universität, in verschiedenen Ländern (Frankreich, Serbien, Iran) vorgestellt und im dritten Teil folgt schließlich eine Auseinandersetzung mit der Bewegung der BarackenbewohnerInnen in Südafrika. Wenn wir damit einen bescheidenen Beitrag zur Kommunikation und Verfugung der verschiedenen Kämpfe leisten können, sind wir schon zufrieden. Eine Auseinandersetzung mit dem Marx-Verständnis der Herausgeber des brandneuen Sammelbandes „Über Marx hinaus“ musste leider aus Platzgründen auf die nächste Ausgabe verschoben werden, ebenso eine Buchbesprechung.

Abschließend freuen wir uns, euch zu zwei Veranstaltungen einladen zu dürfen – Details findet Ihr im Kasten nebenan. Ja, und wer noch mehr zur Unibewegung in Österreich und international lesen mag, sei auf die soeben erschienene umfangreiche Textsammlung Jenseits von Humboldt – Von der Kritik der Universität zur globalen Solidarischen Ökonomie des Wissens verwiesen, die die Plattform MASSENUNI, an der auch die grundrisse beteiligt sind, soeben herausgegeben hat. Mehr unter massenuni.blogsport.de, Bestellungen an redaktion@grundrisse.net. Noch mehr Texte zu Wissensproduktion im Kapitalismus und Alternativen dazu gibt’s übrigens auf unirot.blogsport.de, der Seite des von den grundrissen initiierten Workshops. Abschließend möchten wir uns bei Birgit Mennel bedanken, ohne deren Nachtschichten dieses Schwerpunktheft wohl nicht zustande gekommen wäre! Unser Dank gilt außerdem den nicht namentlich in Erscheinung tretenden ÜbersetzerInnen, die unter enormem Zeitdruck Unglaubliches möglich gemacht haben.

Veranstaltungen

Vortrag und Diskussion mit G. M. Tamás: Konterrevolution gegen eine Konterrevolution

G.M. Tamás war während der Wende Dissident, von 1990 bis 1994 Abgeordneter im ungarischen Parlament und ist heute ein bekannter linker Intellektueller. An diesem Abend spricht G. M. Tamás über den Charakter der Proteste von 1989, über die auf den Regimewechsel folgende neoliberale „Schocktherapie“ sowie deren wirtschaftliche und politische Folgen in den Ländern des ehemaligen „real existierenden Sozialismus“. Dabei zeigt er, dass es bis heute vor allem die extreme Rechte ist, die mit nationalistischer und faschistischer Rhetorik die Widerstände gegen die neoliberalen Reformregierungen in Osteuropa für sich vereinnahmt und so die politische Landschaft entscheidend prägt. Eine Veranstaltung der Redaktionen grundrisse, Perspektiven und Streifzüge
21. Dezember 2009, 18h30, Ost-Klub, 1040 Wien, Schwarzenbergplatz 10

„Über Marx hinaus“ (Assoziation A) Buchvorstellung und Diskussion mit Max Henninger, Maria Mies und Karl-Heinz Roth

15. Jänner 2010, 19 Uhr Universität Wien, Neues Institutsgebäude, voraussichtlich Hörsaal II
Universitätsstraße 7, 1010 Wien

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