FORVM, No. 295/296
Juli
1978

Ein drittklassiger Mensch

Lehrlingsträume

Jeden Morgen, nachdem er sich in dem hinter der Werkstatt befindlichen Waschraum umgezogen hatte, in seinen blauen Overall geschlüpft war, tappte er durch den schmalen finsteren Gang in den Hof des Gebäudes, und von da durch eine schmale Gasse in die Bergstraße zum Pressehaus und studierte da im Schaufenster die Stellenanzeigen der Salzburger Nachrichten. An Montagen überflog er auch noch rasch die Sportseiten. Rofner hatte keine rechte Vorstellung, was für eine Stellung er eigentlich suche. Er wollte sich jedenfalls verändern, wollte eine angesehenere Stellung, nicht mehr den ganzen Tag im dreckigen Arbeitszeug herumlaufen, mit schmierigen Händen. Er träumte von einer Stellung in einem Büro, wie sein älterer Bruder Wolf eine hatte: Aber Rofner hatte weder die Handelsschule besucht noch eine kaufmännische Lehre absolviert, und der bebrillte Herr im Arbeitsamt hatte ihm nach einigen Fragen und Tests auch erklärt, seine Fähigkeiten lägen im manuellen Bereich, am besten sei es, er bliebe bei seinem gelernten Beruf. Wenn Rofner mit seinem Posten bei der Firma Frey unzufrieden sei, so könne er ihm andere Firmen vermitteln, er nannte einige, aber Rofner konnte sich dazu nicht entschließen; das hätte wenig geändert.

Lieber träumte er weiter von einem neuen Beruf, von dem er keine klare Vorstellung hatte. Wenn er manchmal nach Arbeitsschluß sein Rad an der Ecke zum Makartplatz stehen ließ und durch die Straßen streifte, in die Auslagen schaute, die Leute beobachtete, da schien ihm immer, er gehöre nicht dazu. Er spürte, wie die Blicke der gutgekleideten Damen und Herren durch ihn hindurchgingen; nach einer Weile kehrte er wieder um, fuhr nach Hause. Er merkte zwar dann, daß er gar kein dreckiges Arbeitsgewand mehr anhatte, daß er in seiner braunen Samtjacke beinahe aussah wie andere Leute auch; nur seine Hose, die er unter dem Overall trug, war immer etwas zerknittert, weil er ja oft im Knien arbeitete oder auf dem Rollbrett unter dem Chassis eines Wagens lag. Immer wenn er sich in der Innenstadt unter Menschen bewegte, empfand er Erleichterung, wenn er einen Mann im Arbeitsgewand erblickte; dann war er nicht mehr allein. Manchmal geschah es, daß ein Kunde, der in der Werkstatt leutselig das Gespräch mit ihm suchte, ihn auf der Straße nicht zurückgrüßte, ihn nicht kennen wollte. Er dachte dann: Was der sich einbildet mit seinem Renault R4, blöder Pinsel!

Sogar am Wochenende, wenn Rofner mit dem Obus in die Stadt fuhr, wenn er ins Kino ging oder sich mit Elisabeth traf, war da eine Unsicherheit, als könnten Leute es ihm ansehen, daß er fünfeinhalb Tage in der Woche mit ölverschmiertem Gesicht, mit schwarzen Händen in einer Werkstatt arbeitete. Richtig wohl und sicher fühlte er sich nur in der Werkstatt, im blauen Overall, im Kreise seiner Kollegen Bertl, Dietmar, Hermann, wo er reden konnte, ohne sich vorher jeden Satz zurechtlegen zu müssen, wo er wiehernd loslachen konnte, ohne daß jemand sich kopfschüttelnd umdrehte.

Einmal, vor ein paar Monaten, als er angefangen hatte, jeden Morgen die Stellenanzeigen zu lesen, hatten zwei junge Männer, gut gekleidet, Krawatte und Brille, gehobene Büroangestellte anscheinend, sich über ihn lustig gemacht. So laut, daß er es hören mußte, hatte der eine gemurmelt: „Jetzt lesn auch schon de Kanalräumer die Zeitung.“ Daraufhin hatte Rofner am nächsten Morgen nicht gewagt, sich vors Schaufenster zu stellen, obwohl die beiden Herren nicht zu sehen waren. Er überlegte sich, ob er sich vielleicht erst nach dem Zeitunglesen umziehen sollte. Aber dann plötzlich, einen Tag später, stellte er sich vor die Scheibe, machte, wenn sich jemand herzudrängte, nicht mehr wie sonst bereitwillig Platz, um ihn nicht mit seinem Overall zu beschmutzen; er stellte sich breit hin und dachte, wenn einer von den Büroheinis noch einmal blöd daherredet, hau’ ich ihm eine in seine glattrasierte Goschen. In der Werkstatt hatte er keinen Respekt vor den Kunden. Die Werkstatt, das war ihr Reich, und die, die hereinkamen, waren geduldete Besucher.

Seit einigen Wochen dachte er unentwegt an das Tennismädchen (so nannte er sein Idol), ein langhaariges blondes Wesen, das er bei einem Kinobesuch zum ersten Mal gesehen und das wie mit einer Stichflamme eine nie gekannte Empfindung in ihm erweckt hatte. Das Mädchen, das er schon im Kino, eine Reihe schräg vor ihm, bemerkt hatte, war wunderbarerweise denselben Weg nach Hause gegangen, über die Lehener Brücke, dann die Schießstattstraße hinauf. Er war ihr gefolgt bis zu dem Haus Nummer 24 in der Revierstraße, mit dem grüngestrichenen Holzzaun. An einem der nächsten Abende war er nach Dienstschluß mit dem Rad bis zur Glanbrücke gefahren, dann die Revierstraße hinuntergegangen bis zum Arbeitsamt, hatte das Mädchen aber nicht zu Gesicht bekommen. Am Klingelschild hatte er den Namen gelesen: Schimmel. An einem Freitagabend, das Lohnsäckchen in der Tasche, hatte er sie beim Arbeitsamt über die Straße gehen sehen, im Tennisdreß, ganz in Weiß, mit einem Stirnband. Er hatte sein Rad abgestellt und war ihr gefolgt, die Straße war verlassen, die Beleuchtung grade aufgeflammt. Das Mädchen hatte sich in der Schießstattstraße, als sie seine Schritte hinter sich hörte, umgedreht. Er war ihr dicht auf den Fersen gewesen und hatte krampfhaft überlegt, wie er sie ansprechen könnte. Wenn sie bloß etwas fallen ließe, vielleicht den Tennisschläger! Er wußte, daß er zu feig war, sie anzusprechen. Als sie sich noch einmal umgedreht und ihn erblickt hatte, hatte sie ihre Schritte beschleunigt und dann sogar zu laufen begonnen. Rofner, der begriffen hatte, daß sie vor ihm davonlief, war in eine trotzige, trübsinnige Stimmung versunken.

Zu Hause hatte er sich vor den Spiegel gestellt, im Vorzimmer. Nein, er war wohl kein Bursche, von dem so ein feingliedriges Mädchen träumte; sein struppeliges Haar, die Bartstoppeln ... (Der elektrische Rasierer, den ihm der Vertreter in der Werkstatt aufgeschwatzt hatte, rasierte nicht halb so gut wie die Klinge; aber unter der Woche ging er abends ohnehin kaum einmal aus.) Standen seine Ohren nicht etwas zu weit ab? Trotz allem: Sah er aus wie ein Verbrecher? Warum hatte das Mädchen vor ihm Reißaus genommen? Seine Lederjacke war noch ganz ordentlich. In ein paar Monaten hab’ ich die Anzahlung für den VW, dachte er. Aber wäre es nicht gescheiter, dachte er, mich neu einzukleiden? Hemden, Pullover, Krawatte, Halstücher, Schuhe, modische Anzüge? Ihr dann nachgehen und versuchen, ihre Bekanntschaft zu machen? Im ersten Moment, als sie vor ihm davongelaufen war, hatte er gedacht: blöde Kuh! Aber am nächsten Tag in der Werkstatt hatte er wieder dauernd an sie gedacht, die Kameraden hatten es ihm angemerkt, was hast denn, hast dir eine neue Puppe angelacht? Er hatte gedacht: Wenn ich gut angezogen bin, die Haare sorgfältig geschnitten, sauber rasiert, dann lauft sie nicht davon. Freilich, wie er es anpacken sollte, sie dann anzusprechen, das war ihm noch ein Rätsel.

Als er sich tatsächlich neu eingekleidet hatte — der VW war wieder in weite Ferne gerückt —, hatte er sich in dem dunkelblauen Anzug nicht so recht wohl gefühlt. Er war gleich am Sonntag in den neuen Sachen ins Kino gegangen. Schon beim Herumstehen vor dem Stadtkino war ihm unbehaglich. Alle Leute schienen ihm anzusehen, daß er zum ersten Mal einen dunkelblauen Anzug trug und eine Krawatte. Alle Leute schienen zu meinen, daß ihm nur das Tragen eines blauen Overalls zustünde. Auch die rötlichbraunen Schuhe mit den dicken Kappen, die der Verkäufer ihm empfohlen hatte, schienen alle Blicke auf sich zu ziehen. Ihm kamen diese Schuhe nun lächerlich vor; andauernd starrte er auf die Schuhspitzen und wünschte sich unauffälligere Schuhe. Nachts am langen Heimweg hatte ihm gedämmert, daß es mit den neuen Klamotten nicht getan war. Das Mädchen stammte wahrscheinlich aus besseren Kreisen; mit einem Arbeiter würde es sich gar nicht abgeben. Aber hatte nicht der alte Gruber einmal erzählt, er habe nach dem Krieg ein paar Jahre mit einer Baronin zusammengelebt?

Er dachte, er müsse einen Beruf haben wie sein Bruder, eine Büroarbeit. Wolf war während der Woche besser gekleidet als er am Sonntag. Und es war ein angesehener Beruf (Steuerberater). Wolf konnte sich sehen lassen, wußte mit Menschen umzugehen, konnte in jedes Geschäft hineingehen, und die Verkäuferinnen wandten sich ihm sofort zu. Aber war Wolf ein besserer Mensch? Rofner hätte nieht mit ihm tauschen wollen: Wolf war oft krank, war schon zweimal operiert worden; dazu seine herrische Frau ... aber er beneidete ihn nun um seinen Beruf. Tag und Nacht ging es ihm durch den Kopf: eine bessere Stellung, einen angeseheneren Beruf. Während der Arbeit unter der Hebebühne träumte er andauernd davon, mit Anzug und Krawatte an einem Schreibtisch zu sitzen, mit einem eigenen Telefon, in einem Zimmer mit anderen Kollegen; die ganze Welt würde ihm offenstehen. Wenn er am Samstagnachmittag durch die Getreidegasse ging, würde kein Mensch sich nach ihm umdrehen, er würde mit dem Tennismädchen in ein Café treten, zu einem Tisch, wie er es schon so oft in Filmen gesehen hatte. Wenn er am Ersten in die Volksbank neben der Werkstatt ging, um einen Betrag aufs Sparbuch zu legen, würden die Bankbeamten ihn behandeln wie einen ihresgleichen. Aber dann ginge er zu einer anderen Bank, wo sie ihn nicht kannten. Immer hatte er gespürt, daß sie ihn warten ließen, daß sie andere Kunden, die nach ihm an den Schalter gekommen waren, früher bedienten.

Wenn jetzt Kunden aus dem Wagen stiegen und in die Werkstatt kamen, dann versuchte er abzuschätzen, welchen Beruf sie ausübten. Einmal, als Hermann ein paar Tage auf Urlaub war, hatte Rofner am Wagen des Rechtsanwalts Dr. Krieger gearbeitet. Er hatte auf jedes Wort des Herrn Doktor geachtet, aber er schien sich nicht gewählter und klüger auszudrücken als irgendein anderer Kunde. Und er hatte von der Technik seines Fiat genausowenig eine Ahnung wie ein Postangestellter, dachte Rofner. Einmal hatte er gehört, wie der Doktor den Hermann fragte, wie denn so ein Differential funktioniere, und das war doch wirklich kinderleicht zu begreifen. In solchen Augenblicken schöpfte er Hoffnung. Er dachte, daß auch ein studierter Mensch nicht alles wisse, daß diese Damen und Herren auf sie, die Mechaniker, angewiesen seien.

Sie schienen das aber nicht einzusehen, glaubten, es sei damit getan, daß sie den festgesetzten Preis bezahlten. Weshalb ließen sie einen fühlen, man sei ein drittklassiger Mensch, dachte er, gut genug, um den Wagen abzuschmieren, denn abgeschmiert mußte nun einmal sein, sonst rosteten die Lager.

Dann beobachtete Rofner eines Abends nach Dienstschluß, als sie alle im Platzlkeller saßen, wie Bert und Hermann mit Rosi, der Kellnerin, umgingen. Sie spielten die anspruchsvollen Herren, spöttelten über ihre Sommersprossen, patschten ihr auf den Hintern, um sie dann mit einem etwas höheren Trinkgeld wieder zu versöhnen.

Die Arbeit in der Werkstatt befriedigte ihn ja, sie war knifflig, verlangte Geschicklichkeit, Spürsinn, Genauigkeit. Lange Arbeitsgänge mußte man oft durchdenken. Er empfand immer große Befriedigung, wenn er eine Reparatur beendet hatte, wenn die Bremsen wieder griffen, wenn die Vergasereinstellung stimmte, wenn die Maschine nach einer Überholung wie ein Glöckerl lief. Warum war eine solche Arbeit weniger wert als eine Büroarbeit, dachte er nun nach der Begegnung mit dem Tennismädchen manchmal, warum solche Unterschiede? Frau Obermaier im Büro oben, das wußte jeder, machte sich einen schönen Tag, telefonierte mit ihrem Mann, trank die ganze Zeit Kaffee, feilte an ihren Fingernägeln; dabei irrte sie sich dauernd in der Lohnverrechnung, und neulich hatte sie die falschen Zylinderkopfdichtungen bestellt. Aber mit ihnen redete die, als sei sie die Chefin und die Mechaniker der letzte Dreck. Sie schien sich schon die Hände abzuwischen, wenn sie nur mit ihnen redete.

Die besseren Kunden verstanden meistens am wenigsten von ihrem Fahrzeug. Die würden wahrscheinlich nicht einmal kapieren, wie der Rücktritt an einem Fahrrad funktionierte, oder was alles geschah, wenn sie in ihrer Wohnung den Lichtschalter drückten ... Und die Mechaniker? Über Theaterstücke, Konzerte, über Geschichte und Malerei konnten sie nicht mitreden. Aber genügte es nicht, ein guter Mechaniker zu sein, um ein vollwertiger, geachteter Mensch zu sein? Nicht alle waren unwissend. Der Schneider Toni zum Beispiel, der beim Brettentaler arbeitete, war Betriebsrat, besuchte fortwährend Kurse, es gab keine Frage, auf die der keine Antwort gewußt hätte. Einige von ihnen gingen auch in die Volkshochschule oder machten Meisterprüfungskurse, aber die wenigsten brachten die Energie auf, nach einem Achtstundentag noch angestrengt zu studieren. Lernten sie nicht die neuen Motoren der neuen Modelle, das neue Einspritzsystem usw.? Bruno, den ältesten Gesellen in der Firma, lockte es überhaupt nicht, vorwärtszukommen, der würde nie die Meisterprüfung machen, er interessierte sich nicht einmal für die neuen. Motoren, überließ die neuen Wagen den Kollegen und machte nur das, was ihm vertraut war. Er scheute jede Anstrengung, weiterzukommen, beklagte sich aber dauernd über seinen niedrigen Stundenlohn. Manchmal schaute Rofner hin, wenn Bruno seinen Kaffee aus der Thermosflasche trank, und beneidete ihn ein wenig; der kannte die Unruhe nicht, mit der Rofner lebte, die Zweifel, die Ratlosigkeit, das Unzufriedensein.

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