Ein Sprung ins eiskalte Wasser!
Die Zeitschrift Freibord hat ihre hundertste Nummer herausgebracht. Aus diesem Anlaß sprach Ilse Kilic mit dem Herausgeber Gerhard Jaschke.
Gerhard Jaschke: Ein Sprung ins eiskalte Wasser! Es war 1975, im Winter, Hermann Schürrer kam aus Berlin retour, ich hab damals bei einer Zeitschrift mitgearbeitet, das war die Integration, die der Kalman Kovacs herausgegeben hat. Es gab dort die Möglichkeit, so ungefähr 10 Seiten zu „bestimmen“, und das war natürlich die Faust aufs Auge für dieses Blatt, das doch ziemlich konservativ war. Wir haben Texte dort auffahren lassen von Peter Veit bis zur Friederike Mayröcker. Einmal bei einer Redaktionssitzung, die meisten haben dort gestritten, und ich hab immer mit dem Herausgeber Schach gespielt, sind wir eben draufgekommen, daß das alles nicht das Passende ist, und der Hermann Schürrer hat zu mir gesagt: „Was hält dich eigentlich da?“ Da hab ich dann gesagt: „Gut, versuchen wir halt selbst etwas.“ Da haben wir Kolleginnen und Kollegen angeschrieben und sind zusammengekommen, es waren vielleicht 50 oder 60 bei den ersten Zusammenkünften, und wie es dann zur Arbeit gekommen ist, waren wir sechs. Das war das Anfangsteam. Wir haben ja keinen Groschen Geld gehabt für eine Zeitschrift, und Schürrer war damals schon bekannter, renommierter, und ich bin mit ihm ins Ministerium gewandert, und ich kann mich noch gut erinnern, wie der Ministerialrat Lein gesagt hat zu uns: „Aber kommt’s nicht jede Woche angelaufen, das geht nicht!“ Wir waren dann so eifrig, wollten ohne jeden Schilling Subvention auskommen, wir wollten soviel Publikum haben für diese Zeitschrift, daß sich das halbwegs trägt — das war natürlich eine Illusion. 10.000 Schilling haben wir dann bekommen, und um das hat der Herr Toni Benedikt die erste Nummer gedruckt. Gesetzt hat diese Nummer damals die Krista Kempinger.
Ja, sicherlich, Texte von uns haben eigentlich nirgends so richtig reingepaßt. Hermann Schürrer hat natürlich schon weit mehr Möglichkeiten gehabt als ich, Mitte der siebziger Jahre zu publizieren, da und dort hat es auch von mir ein paar Publikationen gegeben, ich hätte ohne ihn auch kein Geld bekommen für die erste Nummer. Ab der zweiten Nummer hat der Buchbinder gesagt, naja, das bringt ihr doch selber zusammen, und er hat uns angelernt in ein paar Stunden, und das waren dann immer so Nachtsitzungen zum Zusammentragen und Kleben, ich kann mich noch gut erinnern, tausend Auflage damals, A4-Format und ziemlich dick.
So ist es gewesen. Von den „renommierten“ Literaturzeitschriften, Wespennest, Protokolle, Manuskripte, die drei und rundherum einige wenige. Ich denk dann an 77/78: Zusammenkünfte im Jägermayerhof in Linz, da gab es die Höchstzahl von Literatur- und Kulturzeitschriften, das waren 70 oder 80, diese Höchstzahl ist nie mehr wieder erreicht worden. Da hat es halt welche gegeben, die sind rausgekommen mit nur einer Nummer und dann verschwunden, dafür sind wieder neue gegründet worden, das war auch so ein fliegender Wechsel rund um die Arena, große Aufbruchstimmung, Versuche, etwas anderes zu machen, entweder der realistische Zweig oder formal experimentell oder natürlich auch scharf pointiert, so zu Beispiel die Forderung vom Hermann Schürrer „Wir wollen auch, als Pendant zur Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, eine Dokumentationsstelle für neuere österreichische Schweinereien“. Natürlich war es in der Zeitschrift wie in einem Minimundus trotz der tausend Auflage. Also ich kann mich auch dran erinnern, wenn wir Buchhandlungen aufgesucht haben, so fünf Exemplare in Kommission haben die genommen, ein paar Monate später haben wir uns davon vier zernudelt oder verstaubt wieder abholen können.
Im besten aller Fälle verträgt sich das, aber es ist natürlich ein großes Zeitproblem, Energieproblem, selbstverständlich, oder es steht einem auch wirklich manchmal völlig im Weg, wenn du grad eine intensive Schreibphase hast, zum Glück, oder du stehst unter Druck, vier Zeitschriftennummern herausgeben zu müssen, damit du einen Anspruch auf Subvention hast und alle diese Daumenschrauben, Zwänge, aus denen du dich als einzelner schwer und auch in einer kleinen Gruppe nur schwer befreien kannst. Die Gelder sind ja nie ausreichend da, du bist angewiesen auf diese Unterstützungen, es gibt keine Insertionen, oder sie sind rar ... also einmal bei diesen Zeitschriftentreffen wurde der Otto Breicha gefragt, für wen er seine Zeitschrift, die Protokolle rausgibt, und er hat gesagt, das weiß er nicht, er fühlt sich wie ein Käsehersteller, der einen Käse macht, in den er gern selber reinbeißt, und so soll es ja auch sein. Wenn man etwas aufgezwungen bekommt und so, nur weil es dann einen Schilling gibt, daß man weitermachen kann, das ist sicher nicht die glücklichste Lösung. Aber es gibt eben diese Zwänge und reihum, fast alle Periodika stecken da drinnen, also die interessanten ...
Du meinst bei dieser Fülle, na ja, diese Fülle schreckt mich eigentlich nicht ab ... für mich und viele andere ist, glaub ich, das große Problem, wie bringst du das zeitlich alles unter, weil der Reiz des Lesens ... wie vermittelt man den? Also, „die Lust am Kern“, dieses Anagramm von André Thomkins fällt mir da immer ein, aus „Kunstmaler“ machte er „Lust am Kern“, wie weckst du die Lust bei jemand, der oder die damit überhaupt nichts am Hut hat. Jemand, der sagt, na ja, lesen, Scheiße, warum oder darauf stolz ist, ich kenn’ solche Leute, die stolz drauf sind, was weiß ich, nur Micky Maus und „Nie im leben würde ich ein Buch in die Hand nehmen, das bringt doch nichts!“, na ja und wie antwortest du dem — nicht? Also wie vermittelst du diesen Reiz, diese Wichtigkeit auch ...
Ja, querlesen, Zitate suchen, aus 500 Seiten werden 50, dann werden es fünf, dann bleibt nur mehr der Klappentext. So wie beim Fernsehen, nichts wirklich anschauen, herumzappen, Koitus interruptus halt. Für einige Rezensenten muß es eine Qual sein, also Lesen wie am Fließband, um Rezensionen liefern zu können. Da gibt es doch eine köstliche Arbeit vom Oswald Wiener, wo er schreibt, daß er ein Jahr gebraucht hat, um „Zettels Traum“ von Arno Schmidt zu lesen — aber wer kann ein Jahr der intensiven Lesetätigkeit und Lesearbeit „opfern“? Er hat es sich leisten können, eine privilegierte Situation sozusagen, Luxus, wenn man will. Man kann natürlich sagen, Lesen ist für viele Menschen ein reiner Luxus geworden. Dann natürlich, also um da und dort seinen Kren halt dazugeben zu können, dieses Querlesen, Reinhacken, Zerkleinern, um Auszüge parat zu haben, Inhaltsangaben zücken oder auf Namen spontan reagieren zu können, um nicht als Idiot dazustehen, das bringt es aber natürlich nicht, nicht die Menge, sondern die Qualität des Lesens selber ist das Entscheidende. Es ist ja immer ein Problem, wenn man Quantität und Qualität verwechselt oder 1:1 gleichsetzt, so wie bei Veranstaltungen, man fragt jemanden: „Wie war’s?“. und er sagt: „Bummvoll war’s!“ Für die Vortragenden ist es natürlich ein Genuß, wenn Publikum da ist, so ist auch der Satz entstanden „Je mehr Publikum, desto weniger Kunst“, das war eigentlich positiv gemeint, ich meine, wenn da 10.000 Leute sitzen, ist es viel leichter, als wenn drinnen sitzen, in einer großen Halle zum Beispiel, zehn Personen ...
Ja, wenn ein Mensch da drin sitzt, der etwas damit anfangen kann, in welcher Hinsicht auch immer: wunderbar! Beim Lesen ist es ja sicher auch so, wenn ein Mensch, sagen wir zehn Bücher gelesen hat und damit etwas bewirken hat können, wär’s entscheidender, als wenn er Zigtausende so quergelesen hat, so eins zwei drei, nächstes, aha, und glaubt schon zu wissen, kenn’ ich. Genauso zum Beispiel mit Weltreisen, die zischen durch die Welt, haken ab, Tadjmahal: erledigt und weiter, was noch, drei Minuten da, drei Minuten dort und glauben, sie haben alles, nicht, und so schauen’s dann auch aus, und so treten sie auf, diese Typen, die alles haben, und es ist nichts dahinter. und so kommt mir das eben auch vor mit dem Schnellesen, da kann man ja gar nicht nachvollziehen, was das ist, Lesen, diese Freude, Begeisterung, auch der Schrecken, der da drinnen ist in all dem.
Ja, dann gibt es womöglich Animateure zum Lesen zum Beispiel ...
Die 101. Freibord-Nummer ist dem Hermann Schürrer gewidmet, drin enthalten ist das Theaterstück UNIFORM, das im Residenztheater jetzt uraufgeführt wird. Das Stück ist für mich eigentlich die Visualisierung einer Geisteshaltung, die gegen Uniformierung in jeder Hinsicht gerichtet ist, und da läßt er einige Figuren auftreten, wie den General Soldateska oder den Polizeipräsident Gummiknüppel, und dann hat er den Landstreicher Unbehaust und den Dichter Habenichts, gewissermaßen auch Gegenpole, irgendwie abstruse Figuren. Außer dem Stück sind auch zwei theoretische Arbeiten von Hermann Schürrer drin, eine Einleitung in den Anarchismus, das hat er einmal für eine Lesung geschrieben, da hat er aus den „Kriminellen Spielereien in der Sandkiste der Weltverbesserer“ gelesen, und ein Text, den er gemeinsam mit Bernt Burchart vorgetragen hat, ein Text über Werte im allgemeinen und was an Geschichte vermittelt wird und was dabei nicht vermittelt wird und warum. Da stützt er sich teilweise auf Arbeiten vom Bernt Engelmann, etwa auf das Buch „Wir Untertanen“ und „Einig gegen Recht und Freiheit“, das zweibändige Anti-Geschichtsbuch.
