MOZ, Nummer 54
Juli
1990
Interview

Eine fürchterlich kritische Zeit

Hannes Androsch galt lange Jahre als ‚Kronprinz‘ des ehemaligen Kanzlers Kreisky, war von 1970 bis 1981 Finanzminister, dann Vorstandsvorsitzender der „CA“. Heute ist Androsch, gegen den ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung gerichtsanhängig ist, als internationaler Wirtschaftsberater in Wien tätig.

Hannes Hofbauer und Christof Parnreiter sprachen mit ihm über die deutsche Einheit, über das neue Europa und über die wirtschaftlichen und politischen Chancen und Risken, die sich daraus, auch für Österreich, ergeben.

Hannes Androsch mit den MONATSZEITUNG-Redakteuren Christof Parnreiter (links) und Hannes Hofbauer (rechts)
MONATSZEITUNG: Die deutsch-deutsche Einheit macht Deutschland größer. Was bedeutet das für Europa, und zwar nicht nur gegen Westen, also die EG, sondern auch gegen Osten?

Androsch: Man muß da weiter ausholen. Der Erste Weltkrieg hat zur Folge gehabt, daß die Habsburger Monarchie und das Ottomanische Reich zerfallen sind. In der Folge wurde, vor allem von Frankreich aus, eine Friedensordnung versucht, die aus durchaus verständlichen Gründen gegen Deutschland gerichtet war. Das hat eine ’‚Ordnung‘ im östlichen und südöstlichen Mitteleuropa geschaffen, die nicht funktionieren konnte. Die Amerikaner haben sich beleidigt zurückgezogen, die Engländer haben andere Interessen verfolgt und die Franzosen waren zu schwach, um ihre Friedensordnung zu tragen. Das Ergebnis war eine Katastrophe und hat zu einer anderen Ordnung geführt, die sehr viel schlimmer war, nämlich die Ordnung Hitlers. Die ist auch gestorben, mit allen Opfern, die das bedeutete. Und danach hat eine stalinistische Sowjetunion ihre Ordnung geschaffen, die ist auch gefallen. Jetzt haben wir die Chance und die Hoffnung, daß es für die Vielfalt des europäischen Raums zum ersten Mal eine wirklich partnerschaftliche Ordnung geben kann.
Wir haben derzeit drei Tendenzen: die westeuropäische Integration der EG, die ja nicht zuletzt dazu bestimmt ist, eine Kontrolle Deutschlands herbeizuführen, die deutsche Einigung und drittens die Umwälzungen im östlichen Mitteleuropa. Das bedeutet große Chancen und sicherlich keine leichten Lösungen, weil es gilt, eine zeitgemäße Balance zu finden, die verschiedenes berücksichtigt: Die großen Staaten sind zu klein für die großen Dinge, nationalstaatliche Souveränitätsillusionen sind abzubauen, die Sowjetunion stellt immer noch eine Weltmacht dar, damit bedarf es sicherlich auch der amerikanischen Beteiligung, dann geht es auch darum, daß an Stelle des Stacheldrahtes keine unsichtbare Trennungslinie entsteht von Überfluß und Mangel. Diese Aufgabenstellung steht unter einem irrsinnigen Zeitdruck. Sie beobachten ja die Beschleunigung der Vereinigung Deutschlands durch die normative Kraft des Faktischen, weil die DDR in sich zusammenbricht.

Ist diese neue europäische Partnerschaft nicht vielmehr eine dritte versuchte Antwort der Deutschen auf die anglo-französischen Hegemonieansprüche?

Ja, da wird es sicherlich solche Tendenzen geben. Ich würde aber die beiden deutschen Staaten und ihre Menschen heute so einschätzen, daß sie erkannt haben, daß sie in einer besonders komplizierten geographischen Lage sind und wissen, daß das Wilhelminische Deutschland, das bis zu einem gewissen Grade erzwungene Weimarer Deutschland und Hitlerdeutschland keine Lösungen waren.

Welcher Ausgang des derzeitigen Umbruchs scheint Ihnen am wahrscheinlichsten?

Ich kann keine Prognosen stellen, nur Wünsche äußern. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten braucht eine feste Verankerung in Westeuropa, vornehmlich in Frankreich, sie braucht auch Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der Sowjetunion, sie muß die Versuchung meiden, aus Deutschland eine Nuklearmacht zu machen. Noch etwas: ich lege großen Wert darauf, daß es eine Vereinigung und nicht Wiedervereinigung ist. Und wenn ich sage: Vereinigung der beiden deutschen Staaten, will ich auch sagen, daß Österreich nicht der dritte deutsche Staat ist.

Warum betonen Sie dies so?

Weil ich es als einen Mangel empfinde, daß wir das nicht hinreichend klar gemacht haben, weil in Paris ein Herr Chirac von einer solchen Vorstellung ausgeht, was aber ein historisches Mißverständnis ist. Und für unsere Funktionserfüllung auch im Hinblick und im Rahmen der EG hinderlich, weil ganz falsche Ressentiments dadurch geweckt werden.

Namhafte Ökonomen befürchten heute, daß eine schnelle Einheit wirtschaftspolitisch große Gefahren in sich birgt. Wie sehen Sie das?

Ich bin überzeugt, daß es klappen wird, allerdings nicht ohne Reibungsverluste. Die Vereinigung wird nicht zum Nulltarif zu haben sein. Die Frage ist, wie die Kosten dargestellt werden und wer sie zu tragen hat. Das ist ein Verteilungsproblem. Wenn man sagt, es werden keine Steuern erhöht, dann wird es mehr Inflation geben; wenn man mehr Inflation hat, wird man höhere Zinsen haben usw. ... Es wird eine beachtliche Reibungsarbeitslosigkeit geben — mit sozialen Unruhen oder wenigstens die Gefahr dazu. Da ist es sicherlich vernünftiger, die Menschen noch einige Zeit in den Betrieben zu lassen und Übergangslösungen zu finden, denn die Kosten werden so oder so anfallen, und man wird gut beraten sein, sie in einer möglichst friktionsarmen Weise zu absorbieren. Wegbringen wird man sie nicht können. Ich unterschätze die Schwierigkeiten nicht.

Die Übergangslösungen würden voraussetzen, daß die Währungs- und Wirtschaftsunion etwas langsamer durchgeführt werden müßte.

Da haben sie gar keine Chance, weil die Menschen das erzwingen. Es gibt zwei antagonistische Zeitfaktoren. Der eine lautet: Jetzt haben wir uns die Freiheit erstritten, jetzt wollen wir statt dem Trabbi sofort einen Mercedes. Wir wissen aber, daß es zwar möglich ist, von heute auf morgen sich die politischen Freiheiten zu erstreiten, aber wirtschaftliche Ergebnisse zu erzielen, dauert Jahre. Das ist eine fürchterlich kritische Zwischenzeit.

Wie fürchterlich?

Wenn ich jetzt eine Zahl nenne, dann mit dem Wunsch, daß es nicht passiert, weil man weiß, daß es passieren kann. Rein mechanistisch kriegt die DDR eine Arbeitslosigkeit von 2 - 2 1/2 Millionen Menschen. Die Gefahr des sozialen Protests ist sehr groß ...

... der sich dann vielleicht sogar national äußert ...

... der sich national äußert und auch mißbraucht werden kann. Es ist ein Unterschied, ob ich über drei, vier Jahre einen Einschleifungsprozeß durchführe, oder ob ich sage: Stichtag X, Rübe ab.

Was auch passiert: Stichtag 2. Juli, Währungsunion, Rübe ab.

Nein. Das ist eine Gefahr; ich gehe aber davon aus, vielleicht hoffe ich auch nur, nein, ich gehe davon aus, daß man bei den Verantwortlichen weiß, daß auch die Arbeitslosigkeit Geld kostet und zudem politisch gefährlich ist und es daher klüger ist, dasselbe Geld, oder vielleicht noch etwas mehr, in eine einschleifende Periode zu investieren. Das gilt nicht nur für die DDR, sondern auch für Ungarn, die CSFR, Polen; von der Sowjetunion, Bulgarien oder Rumänien ganz zu schweigen.

Wer soll das alles bezahlen?

Es gibt keinen reichen Onkel aus Amerika. Bezahlt werden kann nur aus dem, was man erwirtschaftet. Es wird darum gehen, zu helfen, daß die Betroffenen sich möglichst rasch selbst helfen können.

Es gibt Stimmen, die sagen, daß die deutsche Vereinigung auf dem Rücken des übrigen Ostblocks ausgetragen wird, weil Hilfestellungen und Investitionen der größten Wirtschaftsmacht Europas, der BRD, sehr konzentriert nur in die heutige DDR fließen werden.

Wenn das so wäre, wäre die Sorge berechtigt. Es ist aber nicht so. Das Interesse in anderen Bereichen ist durchaus sehr groß und es soll auch nicht nur Sache der BRD sein. Es ist alles, was an Wirtschaftskraft in der OECD vereinigt ist, aufgerufen, auch im eigenen Interesse, sich mehr zu beteiligen.

Und Österreich?

Österreich wird aus den drei Entwicklungen — der Dynamik des Binnenmarktes, der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der Umwälzung in unserer östlichen, südöstlichen Nachbarschaft — einen beachtlichen Nutzen ziehen, den größten wahrscheinlich nach der BRD selbst. Wir haben die engste Verflechtung mit der BRD, aber zugleich die engste Verflechtung mit den sogenannten RGW-Staaten. Es wird von uns abhängen, wie weit wir profitieren können. Wir sollten und könnten also viel mehr tun, aber nicht als Geschenk, sondern in unserem eigenen Interesse. Daher ist die Diskussion um das Asylrecht ebenso eine Schande wie die Frage der Ausländerbeschäftigung. Zu fragen, ob ein Brünner ein Bier servieren oder als Lektor an der Uni Tschechisch lehren darf, ist lächerlich. Die Stimmung des Volkes ist auch nicht so, wie schwachsinnige Funktionäre herumblödeln und wie es in den Zeitungen von Gleichgesinnten wiedergegeben wird. Sofern der Vergleich für ein Binnenland überhaupt ein sinnvoller ist, muß man sagen: das Boot ist längst nicht voll, ganz im Gegenteil: wir brauchen die Leute, vordergründig ökonomisch, aber noch mehr demokratisch, kulturell, und jemand aus Budweis, Györ, Budapest, Prag oder sonstwo ist kein Ausländer, sondern ein Nachbar. Von dort kommen wir alle her.

Das Problem scheint zu sein, daß die Grenze zwischen Überfluß und Mangel, die jahrzehntelang durch Mauer und Stacheldraht fixiert war, nun offen ist: Überfluß und Mangel prallen aufeinander.

Und 1956 und ’68 und ’79? Da nicht? Dieser Teil Europas, in dem wir leben, war immer vom Zuzug gekennzeichnet. Die Leute heißen Vranitzky, Hawlicek, Lacina, Busek, Androsch usw. Es ist eine beschränkte, kleinbürgerliche und faschistoide Argumentation, daß ich mich nur aufregen kann darüber.

Nochmals zur Position Österreichs. Es schaut so aus, als ob eine autonome Politik, vor allem in währunigs- und wirtschaftspolitischer Hinsicht, heute kaum möglich ist. War das früher, als sie Finanzminister waren, noch anders?

Die Hartwährungspolitik, die wir gesteuert haben, war, wenn Sie wollen, die Aufgabe der Souveränitätsillusion. Wir haben halt internationaler gedacht als heute.

Das war jetzt positiv formuliert. Anders gefragt, war es auch damals nicht möglich, einen autonomeren Kurs zu steuern?

Natürlich nicht. Das haben wir zur Kenntnis genommen und danach gehandelt und uns nicht einer biedermeierlichen Souveränitätsillusion hingegeben.

Wäre es nicht dennoch besser, Österreich würde die Abhängigkeit streuen, statt nur Satellit der BRD zu sein?

Wenn Österreich als Satellit bezeichnet wird, dann ist das eine subjektive Beurteilung, die einen wahren Kern hat, aber das gilt für Dänemark, die Niederlande, Belgien , Frankreich ... auch. Denn die Feststellung, daß die stärkste Ökonomie ein Gravitationszentrum ist, ist eine Banalität. Zum anderen stimmt es eben nicht, denn neben der BRD-Orientierung haben wir noch eine sehr starke anderswo, denken Sie nur an unsere Nord-Süd-Funktion. Der Verkehr ist ja nicht nur von Deutschland nach Italien oder auf den Balkan, sondern er kommt von Skandinavien, Belgien oder den Niederlanden und geht auch in die andere Richtung. Im übrigen glaube ich, daß eine vernünftige Mitgliedschaft Österreichs in der EG auch den Zweck hätte, und das müßte man vor allem in Paris klarmachen, daß wir eben kein BRD-Satellit sind oder sein wollen. Die Ängste, aus Frankreich etwa, stammen aus der sehr reduzierten Betrachtungsweise, die Österreich als dritten deutschen Staat ansieht. Deshalb habe ich das ja so betont, daß wir das seit 1156 nicht sind.

Wenn Österreich wirtschafts- und währungspolitisch nicht souverän ist, warum gesteht man uns dann zumindest derzeit noch eine gewisse politische Souveränität zu? Warum dürfen wir den Schilling, der ja fix an die DM angekoppelt ist, noch Schilling nennen?

Weil das lange dauert, bis man solche Relikte überwindet. Es ist noch keine 150 Jahre her, da hat es in jedem Fürstentum eine eigene Währung gegeben und einen eigenen Brückenzoll. Was die Koppelung des Schillings an die DM betrifft, so haben wir uns an der stabilsten Währung orientiert, und das hat Erfolg gehabt. In der jetzigen Situation kann ich mir aber durchaus vorstellen, daß wir gegenüber der DM um 5 - 7% aufwerten.

Warum?

Weil wir eine boomende Ökonomie haben, weil wir dadurch mehr Stabilität bekämen, weil es inflationsdämpfend ist und strukturpolitisch fördend wäre.

Sollte das auch in der BRD passieren?

Die haben ein anderes Problem: die Kosten der DDR. Die haben wir ja nicht.

Und die BRD wird auch nicht versuchen, diese Kosten mit uns zu teilen?

Erstens hätte das vom Gewicht her keine Bedeutung, und zweitens wird es nicht gehen. Eine gewisse leichte Abkoppelung würde das sogar noch unterstützen, daß die Kosten nicht geteilt werden können.

Wie realistisch ist das?

Es ist möglich und erwägenswert.

Es ist doch etwas überraschend, daß es bezüglich der Abkoppelung einen breiten Konsens gibt, auch zwischen so verschiedenen Personen wie Ihnen und dem ehemaligen Außenminister Lanc.

Ich bin gar nicht der Meinung des Lanc, den ganz andere Motive leiten. Ich bin der Meinung, wir sollten das engstmögliche Verhältnis zur EG via Paris anstreben. Die Entkoppelung findet ja nicht in Schwarz-Weiß-Form statt, sondern in Grauschattierungen. Und innerhalb eines Trends kann ich mich ein bißchen mehr auf die oder jene Seite bewegen.

Eine letzte Frage: was würden Sie einem Geldanleger heute raten?

Das ist kein Anlegeproblem in einer spekulativen Weise. Ich sage jedem, der rasches Geld im Osten machen will, der soll es bleiben lassen. Im sogenannten Osten soll sich nur jemand orientieren, der langfristig eine Partnerschaft sucht.

Und einer, der nichts außer seiner Arbeitskraft zu verkaufen hat, was soll der in der derzeitigen Situation tun?

Seinen Kopf einsetzen. Das ist das wertvollste Kapital, das es heute gibt.

Danke für das Gespräch.
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