Eine ganze Menge Leben — übrig
Ein Konzept, eine Ausstellung, ein Porträt.
Ich weiß nicht, was in Wien geschehen müßte, damit das Volk darüber keine Witze macht. Einen runden allerliebsten Witz, der schon der Dialekt von selbst hevorbringt ... Anderswo, in jeder anderen Stadt, würde die Regierung mit Schimpfworten überschüttet werden, in Wien lachen die Leute. Ist es schlechter so, ist es besser so, wer weiß das? Aber lustiger ist es allemal. Und Lustigkeit ist der erste Grundsatz Wiens. Lustig um jeden Preis, lustig trotz alledem. Nie werde ich begreifen, woher die Menschen diesen Frohsinn nehmen ... Das Leben ist bitter, schwer, voller Sorgen, voller Fehlschläge, voller Hoffnungslosigkeit. Und doch sieht man nirgendwo Verzweiflung ... Wien tötet Menschen, die etwas leisten wollen, auch diejenigen, die dazu die Fähigkeit haben. Weil sie nicht herausgefordert werden ... Wien ist ... ein Sumpf, es hat keine Kraft, um Lasten zu tragen. Es weicht ihnen aus, und schiebt sie beiseite.
(M. J., 1922)
Das war das Wien, nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie seiner Hinterländer beraubt und damit seines Wasser- und Geldkopfes, so wie es M. J. erlebte. Heute kommt sie wieder in diese Stadt, aus der sie einst nach Prag zurückflüchtete, und es läßt sich fragen, ob diese Stadt mit ihrem Galgenhumor und seinem EXPOnierten Wahn sich eigentlich geändert hat oder ob der Autorin, um die es hier geht mit ihrer sensibel kritischen Mentalitäts- und Atmosphärenbeschreibung, nach wie vor zuzustimmen ist.
Wer war, wer ist diese Frau? Diese Frage stellten sich auch zwei Frauen, die, angezogen durch den ‚kafkaesken Milenaboom‘, genauer wissen wollten, wer hinter den durch die Veröffentlichung von Kafkas an sie gerichteten Liebesbriefen berühmt gewordenen Frau stand: „Wir wollten, ausgehend von unserem Interesse an Frauenbiographien, die ‚wirkliche‘ Milena wiederentdecken und sie vom weißen jungfräulichen Brautgewand (= Briefpapier? Anm. d. Verf.), so wie sie Kafka und seine Forscher gern gesehen hätten, befreien und sie dem Leben zurückgeben.“
Oder, wie es Dorothea Rein im Vorwort der von ihr herausgegebenen Schriften „Alles ist Leben“ (Feuilletons und Reportagen 1919-1939) formuliert: „Ihr sind Liebesbriefe gewidmet, die zu den schönsten und bedeutendsten Zeugnissen dieses Genres zählen. Die Beziehung zwischen dem Verfasser ... und der Adressatin ... ist von Literaturwissenschaftlern bis ins kleinste Detail seziert worden. Wer nur ein wenig mit Leben und Werk M. J.s vertraut ist, kann die Reduktion dieser Frau auf ein Liebesverhältnis nur als Ausdruck tiefster Ignoranz seitens der Kafkaforscher begreifen.“
Im Frühjahr 1986 begannen Gertraud Auer, Architektin und Szenographin (Wien/Paris), und Catherine Stahly Mougin, Museographin (Paris), eine ganz eigene und andere Forschung mit und über M. J. Es wurde zu einer „leidenschaftlichen Begegnung“ mit dieser Frau, die die wichtigsten Momente ihrer Zeit in Chroniken und Reportagen einfing und die 1944 im KZ Ravensbrück ums Leben kam. „... ich dachte an die Große Illusion: werden wir wirklich einmal nebeneinander leben — Deutsche, Tschechen, Franzosen, Russen, Engländer — ohne uns gegenseitig Leid anzutun, ohne uns hassen zu müssen, ohne uns Unrecht zu tun?“ (M. J. 1939, ein halbes Jahr vor ihrer Verhaftung)
Aus dem Sich-Einlassen auf diese Frauengeschichte entstand die Idee einer Ausstellung. Es dauerte drei Jahre, bis die Realisierung von „VIVRE — M.J. 1896-1944“ stattfinden konnte, die in Wien vom 8. Mai — 17. Juni (Messepalast/Halle E1) zu sehen ist. Premiere war im Januar im Pariser Centre Pompidou.
Es war nicht beabsichtigt, eine museale Heroine als Identifikationsfigur zu reinstallieren, sondern der flüchtigen Spur einer normalen Frau Geschichte zu geben: Ein Gesicht hinter den Buchstaben, das aber jenseits männlicher Geschichtsschreibung nicht zum Monument gerinnen soll, keinen Ewigkeitswert beansprucht — eben analog den realen Frauenleben.
Dem Leben zurückgegeben
Dem entspricht die Form der Ausstellung, die keine fixierende Dokumentation, keine ikonographische Darstellung zu Hilfe nimmt, sondern als eine Abfolge szenischer Räume konzipiert ist. Inhaltliche Grundlage sind die Texte M. J.s, die, von Hanna Schygulla gesprochen, mit einer computergesteuerten Licht-Ton-Technik in neun ‚Bildern‘ inszeniert werden. Dabei begleitet den/die BesucherIn eine eigens für die Ausstellung von Flora St. Loup komponierte Musik, die in einen labyrinthischen Wandelgang auf eine Entdeckungsreise in die Gedankenwelt M. J.s entführt. Nach Themen in „Kammern der Erinnerung“ gruppiert, wird zwischen der Frau/Journalistin damals und heute eine Brücke geschlagen, die die Aktualität und Modernität ihrer Feuilletons und Chroniken hörbar, erfaßbar machen soll.
Und nun, vierzig Jahre später, ist sie wieder da ... Sie ist in Wirklichkeit viel mehr als nur die Heldin im Leben eines berühmten Schriftstellers. Sie war vor allem eine Persönlichkeit, die das tragische, komplizierte, reiche und gleichzeitig begrenzte Schicksal der tschechischen Intelligenzija in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts symbolisiert. Ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen, ihre Überzeugungen und Irrtümer sind untrennbar mit ihrer Zeit und dem Schicksal ihres Landes verbunden.
(Stasa Fleischmann, eine ihrer besten Freundinnen)
Die Architektur der Ausstellung, die Verwendung der Materialien, die Differenzierung der Farben und der sparsame Einsatz von Objekten als Blickfang, als Symbol des Gesprochenen, haben die Absicht, ihrem Wort Raum zu geben. Dem Vorwurf, die Ausstellung sei zu ästhetisierend, kann damit begegnet werden, daß durch diese Mischung von postmodernen Mitteln und weiblicher Ästhetik (z.B. wird auch die Begegnung von Auer/Stahly mit M. J., also der eigene Ausgangspunkt, für jeden beim Eintreten transparent gemacht) eine aktuelle Wahrnehmungsmöglichkeit evoziert wird, die gerade nicht durch die Imitation vergangener Authentizität musealen Muff entfremdend reproduziert, sondern solcherart eine Beziehung zur Gegenwart herstellt.
Und Gegenwart ist das, worum es M. J. zu tun war: „Wir hüten die Vergangenheit als Schatz und berechnen die Zukunft, aber vergeuden die Gegenwart auf hoffnungslose Weise. Es dringt kaum bis in unser Bewußtsein, daß sie das Leben ist, und allein sie. Wir kochen Tee und meinen, das sei nur ein Zwischenspiel zwischen etwas, was war und was sein wird. In Wahrheit ist es nicht so, sondern das ist das Leben.“
So lebte sie alles, was ihr begegnete, alles, was ihr passierte, was sie passieren wollte — widersprüchlich mit einer die anderen faszinierenden Intensität und einem offenen und empathischen Umgang, der ihr nicht zuletzt zu ihren journalistischen Qualitäten verhalf, verbunden mit der Fähigkeit, sich je und je treu zu bleiben.
Es geht nicht darum, der Welt etwas zu verraten, sondern darum, den einzelnen durch Verständnis zu bereichern. Es geht um den logischen Zusammenhang zwischen der Welt des Unbedeutenden und der Welt des Auserwählten.
M. J. wurde in eine wohlhabende tschechische Familie geboren. Der konservative Vater war Arzt und Professor. Mit ihm kämpfte M. zeitlebens einen haßliebenden Anerkennungskampf, was sie wohl auch mit Kafka verband, der dasselbe, nur unter umgekehrten Vorzeichen — sich unterwerfend — erlitt, während sie es immer offensiv zu lösen suchte. Von der Mutter weiß man nicht viel, außer, daß die ständig krank und bettlägerig war und die Tochter sie bis zu ihrem Tod im Auftrag des Vaters pflegen mußte.
Trotzdem kam M. auf das Minervagymnasium, das erste humanistische Mädchengymnasium Mitteleuropas. Die Absolventinnen waren die ersten selbstbewußten zielstrebigen Frauen, aus welchen sich später die dünne Schicht der emanzipierten Frauen der ersten tschechoslowakischen Republik rekrutierte.
M. J. genießt bzw. nimmt sich eine freizügige Jugend, die durch ihre Extravaganz im provinziellen Prag auffiel. Sie liest Klassiker, probiert Drogen aus der väterlichen Praxis, gibt sich lesbisch, wird schwanger, hat eine Abtreibung. Während der ersten Studiensemester lernt sie die erste große Liebe im deutsch-jüdischen Literatencafé kennen und darf E. Pollack schließlich, zwanzigjährig, nach einem psychiatrischen Aufenthalt heiraten — mit der Auflage des Vaters, nach Wien zu ziehen. Die Mitgift ist bald verbraucht, Pollack lebt hauptsächlich in der Wiener Bohème, und sie verarmt und vereinsamt zusehends. Sie gibt privaten Tschechischunterricht, schleppt auf dem Westbahnhof Koffer und verdingt sich in einem Wiener Haushalt. Pollack ist Lebemann, man spielt auf Ehe zu dritt, was sie unter der Devise, eine moderne Ehe zu führen, erträgt.
Hingabe und Aufgabe
In diesem finanziellen und emotionalen Desaster beginnt sie, ihre ersten Artikel an eine Prager liberale Zeitung zu schicken und wird bald feste Korrespondentin. Daneben fängt sie an, einen bis dahin weitgehend unbedeutenden Autor ins Tschechische zu übersetzen — Kafka. So lernt sie ihn auch persönlich kennen, und aus einer Brieffreundschaft entwickelt sich eine Briefliebe (sie sehen sich insgesamt zweimal für ein paar Tage), doch dann kann sie sich nicht von Pollack trennen und Kafkas Ängste und Askese lassen die Beziehung nach zwei Jahren ‚Schriftverkehr‘ auslaufen — obwohl sie ihn gerade dafür bewunderte. Nach einem Selbstmordversuch trennt sie sich 1923 schließlich doch von Pollack und schreibt nun für verschiedene Prager Zeitungen — über Mode, Alltagsgeschichten, Filmkritiken und lebensphilosphische Feuilletons. Nebenbei macht sie eine Art Pension mit Mittagstisch auf, lernt hier Schaffgotsch, einen ehemaligen k.u.k. Offizier kennen, der in Rußland zum Bolschewismus konvertierte, und beginnt, sich erstmalig mit dem Sozialismus auseinanderzusetzen.
1925 kehrt sie nach Prag zurück. Dort ist sie wieder ‚die‘ J.; sie verkehrt in avantgardistischen linken Kreisen, ihre Frauenseite in der „Narodny Listy“ wird immer populärer, sie animiert einen ganzen Mitarbeiterinnenstab, scherzhaft ‚Milenas Team‘ genannt, sie selbst schreibt kaum noch ernsthafte Feuilletons. Sie heiratet den jungen Architekten aus der ‚Szene‘, Krejcar, sie schreibt wegen Geldmangels weiterhin massenhaft Hausfrauen- und Modeartikel. 1927 übernimmt sie mit einer Schulfreundin die Redaktion einer neuen Avantgardeillustrierten, die sie jedoch nach einem Jahr wegen mangelndem finanziellem Erfolg verlassen müssen. Es folgt die schwere Geburt einer Tochter wonach sie lebenslänglich eine Beinbeschädigung hat und für Jahre morphiumsüchtig wird.
Die Ehe zerbricht, sie scheidet aus der Gesellschaft aus, ist finanziell wieder mittellos, es fängt der Kontakt zur kommunistischen Partei an, als deren Mitglied sie bald in den Parteizeitungen schreibt. Sie lernt den Genossen Klinger kennen, beide schreiben und übersetzen und entfernen sich zunehmend von der Parteidoktrin (Moskauer Prozesse ...)
1937 wird sie zur Mitarbeit in der damals bekannten unabhängigen Wochenzeitung namens „Gegenwart“ gebeten und schreibt zunehmend politisch sensible Kommentare zur tschechischen Situation bis zum Einmarsch der deutschen Truppen. M. J. kontaktiert antifaschistische Widerstandsgruppen, schreibt in illegalen Zeitungen und verhilft Juden und tschechischen Offizieren über die grüne Grenze nach Polen — auch ihrem Lebensgefährten Klinger. Sie selbst bleibt in Prag und wird im August 1939 von der Gestapo verhaftet, in Dresden wegen illegaler Tätigkeiten vor Gericht gestellt, wo sie, sich selbst verteidigend, mangels an Beweisen freigesprochen wird. Sie kommt jedoch — nach einem kurzen Abschied von ihrem Vater und ihrer Tochter in Prag — zur Umerziehung nach Ravensbrück.
Sie befreundet sich mit der deutschen Exilkommunistin M. Buber-Neumann, die ebenso wie die Tochter eine Biographie über sie geschrieben hat, was beiden die Feindschaft ihrer ‚Genossinnen‘ einträgt. Sie stirbt am 17. Mai 1944 im Alter von 48 Jahren eines sogenannten ‚natürlichen‘ Todes; sie, die „Du Dein Leben bis in solche Tiefen lebendig lebst.“ (Kafka)
- Franz Kafka: Briefe an Milena. Fischer Verlag.
- Jana Cerna: Milena Jesonská. Verlag Neue Kritik.
