Fit für den Frieden?
Combined Joint Task Forces: die NATO auf dem Weg zu einem militärischen Interventionsorgan für Konflikte in aller Welt.
Endlich müssen die Europäer „nicht immer ihre amerikanischen Freunde zu Hilfe rufen, wenn es irgendwo brennt“. [1] Denn auf ihrer Frühjahrstagung im Juni hat die NATO das Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF) – Alliierte Streitkräftekommandos – verabschiedet, welches militärische Interventionen der europäischen NATO-Mitglieder mit Rückgriff auf NATO-Strukturen, aber ohne Beteiligung der USA möglich machen soll. Dies ist das Hauptsignal der „neuen“ NATO, die in Berlin von ihren Mitgliedstaaten zu einer Interventionsorganisation erklärt wurde. Zu ihrer traditionellen Aufgabe der kollektiven Verteidigung gegen einen Angriff auf das Bündnisgebiet kommt die Projektion von Sicherheit und Stabilität in Europa und der Welt – ein Euphemismus für die weltweite militärische Verteidigung eigener Interessen – und die Aufgabe der „Befriedung“ von Krisen und Konflikten out of area, außerhalb des Bündnisgebietes.
Die Erfahrung lehrt, daß militärische Bündnisse wie die NATO mit dem Wegfall ihres gemeinsamen Gegners zerbrechen. Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes, der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 stellte sich die Frage nach dem Sinn des Fortbestehens des transatlantischen Bündnisses. Um in dieser veränderten Welt nicht überflüssig zu werden, verschaffte sich die NATO neue Aufgaben. Auf der Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrates im November 1991 in Rom wurde das neue strategische Konzept (MC 400) des Bündnisses verabschiedet, welches Krisenmanagement und „peace support operations“ zu zentralen Aufgaben des Bündnisses ernannte. [2] Der Militärausschuß der NATO schrieb 1993 mit dem MC 327 (NATO Military Planning for Peace Support Operations) die internen Grundlagen für künftige „Friedens“einsätze der NATO fest. Nach dem MC 327 liegt die generelle politische Verantwortung für friedensunterstützende Maßnahmen der NATO bei der UNO oder der OSZE. Deren Mandat ist als Legitimationsgrundlage gern gesehen, die NATO beansprucht jedoch den militärischen Oberbefehl. [3] Obwohl das MC 327 politisch nicht gebilligt und nie offiziell verabschiedet worden ist, wird es weiterhin intern als Grundlage für die militärische Planung benutzt. [4] Seine Inhalte sind in die Neufassung des MC 400, das MC 400/1 eingegangen, das im November 1995 vom Militärausschuß gebilligt und von den Außenministern in Berlin verabschiedet wurde. [5]
Combined Joint Task Forces
Das Konzept der CJTF wurde schon seit 1993 im Militärausschuß diskutiert. Auf dem NATO-Gipfel im Januar 1994 (vgl. ami 2/94, D-9) wurde seine Konkretisierung beschlossen. Die CJTF sollen die NATO befähigen, militärische Operationen außerhalb des Bündnisgebietes und gemeinsam mit Nicht-NATO-Staaten durchzuführen. Sie können auch für Einsätze unter Leitung der Westeuropäischen Union (WEU) zur Verfügung stehen.2 Die CJTF sollen aus nationalen und multinationalen Verbänden (Combined) und verschiedenen Waffengattungen, d.h. aus Luft-, Land-, See- und anderen Streitkräften (Joint) gebildet werden. Je nach Aufgabe und Art der militärischen Operation sollen Einheiten und Führungsstäbe aus der NATO-Infrastruktur herausgezogen und zu einer speziellen, flexibel einsetzbaren Task Force zusammengesetzt werden. Das Konzept ermöglicht demnach die maßgerechte Zuschneidung von speziellen Einsatztruppen je nach Konfliktsituation und Eingriffswillen der NATO-Mitglieder. Das Konzept der CJTF ist ein Kompromiß zwischen der US-amerikanischen Forderung nach „burdensharing“, der gleichmäßigen Verteilung der Lasten bei „friedensunterstützenden“ Einsätzen auf Europäer und die USA, und der Forderung der Europäer, vor allem Frankeichs, nach einer „europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität“, die in der WEU als Verteidigungsarm der Europäischen Union sichtbar und aktiv werden sollte.
Strukturreform der NATO
Dieser Kompromiß und die Einigung über die Richtlinien des CJTF-Konzeptes wurde erst möglich, nachdem sich die USA und Frankreich im Februar 1996 verständigten, daß die CJTF auch unter Nicht-NATO-Kommando stehen können, die vorherige Entscheidung über ihren Einsatz aber im NATO-Rat und von allen NATO-Mitgliedern gefällt werden würde. [6]
Auf der Ministerratstagung des Nordatlantikrates am 3. und 4. Juni 1996 in Berlin wurde nun mit dem MC 400/1 eine Strukturreform der NATO beschlossen, deren Kernpunkt die CJTF bilden. Diese Strukturreform soll die Zukunft der NATO in einer veränderten Welt mit ihren mannigfaltigen Konfliktszenarien, „Risiken“ und „Instabilitäten“ militärisch sichern. [7]
In Zukunft muß sich die NATO also auf zwei Fälle einstellen: erstens einen eventuellen klassischen Angriff auf die Allianz oder eines ihrer Mitglieder, welches die Beistandspflicht aller Mitglieder gemäß Artikel 5 des NATO-Gründungsvertrages von 1949 nach sich ziehen würde, und zweitens auf Krisensituationen außerhalb des Bündnisgebietes, in denen die NATO gemäß ihrer in Rom festgeschriebenen Aufgaben des Krisenmanagements, der Friedenserhaltung und der Friedenserzwingung mit militärischen Mitteln den Frieden herbeibomben will.
Nach Ansicht der NATO-Strategen ist diese zweigeteilte Aufgabenstellung und die Einrichtung der CJTF in vielfacher Hinsicht von Nutzen: die Sinnfrage nach dem Fortbestehen der NATO erübrige sich, die neuen militärischen Strukturen seien kleiner, mobiler und billiger als eine auf die Abwehr einer kollektiven Bedrohung konzipierte Rüstung, die USA würden entlastet, die Europäer könnten sich endlich emanzipieren, und der vollständigen Wiedereingliederung Frankreichs in die militärische Organisation der NATO stehe nichts mehr im Wege. [8]
Ausdruck einer europäischen Verteidigungsidentität?
„Frankreich ist zufrieden“, sagte der französische Außenminister Hervé de Charette, [9] denn mit den CJTF sei nun die Möglichkeit gegeben, diese europäische Identität innerhab der NATO zu verwirklichen. Frankreich werde voll in die NATO zurückkehren, sobald die Beschlüsse von Berlin verwirklicht seien.
Der Militärausschuß der NATO erhält den Auftrag, bis zur Herbsttagung des NATO-Ministerrates im Dezember die Einzelheiten der Umsetzung des CJTF-Konzeptes auszuarbeiten, die dann von den Verteidigungs- und Außenministern beraten und gebilligt werden können. Damit ist offiziell zwar eine reformorientierte Entscheidung getroffen worden, intern aber noch einmal Zeit gewonnen, bis diese Reformen wirklich umgesetzt werden, und die einzelnen Nationen Posten innerhalb der alten Kommandostruktur räumen müssen.
Ein wichtiger Aspekt in der Kommandostruktur der NATO bleibt in jedem Fall unverändert: Es wird trotz aller Reformbekundungen weiterhin nur zwei oberste Befehlshaber an der Spitze der Kommandobehörden geben, SACLANT (Supreme Allied Commander Atlantic) in Norfolk/Virginia für den atlantischen Bereich und SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) in Mons/Belgien für den europäischen. Erst auf der darunter leigenden Ebene werden neue Kommandobehörden entstehen müssen, um einen friedensunterstützten Einsatz unter einem europäischen Befehlshaber und die Eingliederung von Streitkräften aus Nicht-NATO-Staaten zu ermöglichen. Auf welcher Konstruktion sich die Mitgliedsländer einigen werden, CJTF-Einsätze werden im Endeffekt immer unter dem Oberbefehl des SACEUR stehen. Es wird keinen europäischen Stellvertreter des SACEUR geben, der unabhängig Einsätze befehligen könnte. Weiterhin werden alle Kommandoebenen an der Spitze bei SACEUR zusammen laufen– und SACEUR wird wie bisher ein US-Amerikaner sein. [10]
Die Europäer haben nun zwar die Möglichkeit, militärische Einsätze ohne die direkte Beteiligung der USA, jedoch mit der Möglichkeit des Zugriffs auf amerikanische Führungs-, Aufklärungs- und logistische Mittel innerhalb der NATO durchzuführen. Die Entscheidung darüber liegt aber immer noch beim NATO-Rat, in dem natürlich auch die USA vertreten sind. Für die politische Kontrolle und die militärische Überwachung von CJTF-Einsätze wird im NATO-Hauptquartier in Brüssel eine „Policy Coordination Group“ eingerichtet, der Vertreter aller 16 Mitglieder angehören. Die von den NATO-Mitgliedsstaaten hochgelobte europäische Unabhängigkeit und die Eigenverantwortlichkeit bei friedensunterstützenden Einsätzen ist eine Farce. Wenn die USA dem militärischen Engagement der Europäer nicht zustimmen, wird es auch keines geben.
Rußland und die NATO
Dieses vielbeschworene Signal der Erneuerung der NATO auf der als historisch bezeichneten Tagung von Berlin hat die weiteren Themen weitgehen überschattet. Trotz aller Bekenntnisse der Politiker zu einer Öffnung der NATO nach Osten, wie der Prozeß der Osterweiterung seit neuestem genannt wird, wurden bezüglich der Aufnahme neuer Mitglieder mit Rücksichtnahme auf die Präsidentschaftswahlen in Rußland und den USA keine neuen Beschlüsse gefaßt. Stattdessen wurden die beitrittswilligen mittel- und osteuropäischen Staaten auf das Frühjahrstreffen 1997 vertröstet, bei dem die Kandidaten bezeichnet werden sollen.6 Rußland zeigte sich in Fragen der Osterweiterung kompromißbereit. Nach Aussagen Primakows sei eine Osterweiterung der NATO für Rußland akzeptabel, jedoch keine Verschiebung von NATO-Stützpunkten, Truppen und Nuklearwaffen an die russischen Grenzen. [11] Noch in diesem Jahr soll es zu Gesprächen über eine Teilnahme Rußlands an einem Raketenabwehrsystem der NATO und über die Nichtweitergabe von Massenvernichtungswaffen kommen.
Was sind also die Ergenisse dieser „historischen“ Tagung? Die Osterweiterung ist immer noch im Gespräch, jedoch ebenso unkonkret und konzeptlos wie vorher. Die IFOR-Operationen der NATO in Bosnien sind rückwirkend durch den Beschluß des CJTF-Konzeptes legitimiert. Das Konzept könnte schon bald auf eine erste Probe gestellt werden, wenn die USA zum Ende des Jahres ihre Truppen aus Bosnien abziehen und die Europäer sich gezwungen sehen, ihre „Sicherheits- und Verteidigungsidentität“ unter Beweis zu stellen. Mit den Beschlüssen der Ministerratstagung in Berlin hat sich die NATO offiziell und ohne Protest der UNO, der OSZE, der EU, der WEU zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsmaschine entwickelt.
[1] Erklärung des Bundesaußenministers, in: Bulletin, 12.6.1996.
[2] Siehe „Das Neue Strategische Konzept“ der NATO vom 7./8.11.1991.
[3] BITS: NATO, Peacekeeping, and the United Nations, Berlin 1994.
[4] tageszeitung, 4.6.1996.
[5] analyse & kritik 392, 1.7.1996.
[6] Neue Zürcher Zeitung, 4.6.1996.
[7] Die Zeit, 31.5.1996.
[8] Frankfurter Rundschau, 3.6.1996.
[9] Arthur Heinrich: Die neue, junge NATO. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/96, S. 775.
[10] Tagesspiegel, 1.6.1996.
[11] Neue Zürcher Zeitung, 5.6.1996 und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.6.1996
Leicht gekürzte Fassung eines zuerst in antimilitarismus information 7–8/96 erschienenen Artikels.
