Flaggschiff im Westen — Titanic im Osten
Das ‚amerikanische‘ Jahrhundert geht zur Neige, das sowjetische Imperium löst sich auf. Die neue Weltmacht heißt Europa. Der norwegische Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung warnt vor einem europäischen Großraum, dessen stärkster Teil als ‚Viertes Reich‘ in Richtung Osten expandiert. MONATSZEITUNG-Redakteur Hannes Hofbauer führte mit ihm das folgende Gespräch.
Galtung: Das wäre sehr europäisch gesehen. Wir haben heute in der Welt sechs Supermächte: Die USA, die Sowjetunion, die Europäische Union — und ich sage bewußt ‚Union‘, und nicht ‚Gemeinschaft‘ —, China, Japan und Indien. Die Situation ist folgende: Die Sowjetunion befindet sich in wilder Desintegration und existiert fast nicht mehr. Die Vereinigten Staaten sind teilweise bankrott, haben aber noch eine integrierte politische Struktur, und die Europäische Union wächst außerordentlich schnell.
Hier in Europa erleben wir gerade die Transformation des Systems von einer Bipolarität zur Unipolarität. Es gibt jetzt eine Hegemonialmacht, die Europäische Union. Aber die besteht aus mehreren Komponenten, zuallererst Großdeutschland — ich spreche nicht von ‚Wiedervereinigung‘, weil Deutschland ja in fünf Teile geteilt war und jetzt nur zwei Teile zusammenkommen.
... Österreich, die polnischen und die sowjetischen Gebiete, also Ostpommern.
Die zweite Komponente der europäischen Hegemonialmacht ist Westeuropa mit einer riesigen ökonomischen und kulturellen Ausstrahlung.
Ich nenne es nicht Integration, ich nenne es Unterwerfung.
Es gibt Integration in Westeuropa und Desintegration in Osteuropa. Was zusammenbricht, ist die Pax sowjetica in ihrer politischen, militärischen, ökonomischen und kulturellen Ausprägung. Was die Kultur betrifft, so glaubt niemand mehr an die Marxsche Mystik, an die Idee, daß nach dem Kapitalismus der Sozialismus und dann der Kommunismus folgt. Ökonomisch ist der Comecon, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, zerbrochen; und das war Planwirtschaft auf internationaler Ebene. Militärisch ist der Warschauer Pakt de facto nicht mehr existent, sondern nur mehr eine militärische Verhandlungsgemeinschaft, die keine Rolle mehr spielt. Und die politische Integration in Osteuropa ist ebenfalls obsolet geworden.
Wiewohl ich meine, daß 1992 nur ein kleiner Schritt im Vergleich zu dem sein wird, was einige Jahre später folgen wird, nämlich die politische und militärische Integration der Europäischen Union. In Wirklichkeit läuft alles auf diese europäische Supermacht hinaus, das ist schon in den Schubladen vorbereitet und ausgedacht.
Das Gefährlichste dabei ist, daß der Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa noch nie so groß war wie heute. Aber wir müssen auch sagen, daß die Gefahr nichts Neues ist. Früher hatten wir den Stalinismus im Osten und die Gefahr eines Nuklearkrieges, die vom Westen ausging. Diese beiden Gefahren scheinen jetzt überwunden.
Weil diese Art der Kriegsführung eine Bipolarität von Supermächten auf dem Kontinent voraussetzt.
Ja, denn wir leben heute in Europa in einer Konstellation Zentrum-Peripherie, statt Zentrum-Zentrum. Die neue Problemstellung wird sein, daß wir mit ständigen Unruhen an der Peripherie der Europäischen Union konfrontiert sein werden. Nehmen wir die deutschen Investitionen bis zum Ural — da kann ich mir nicht vorstellen, daß das ohne Unruhen vor sich gehen wird, wenn es Millionen von Arbeitslosen gibt.
Wenn wir eine Erfahrung vom Kapitalismus haben, dann ist es die: Kapitalismus ist das beste System für ökonomisches Wachstum und das schlimmste für die Verteilung. Das heißt, daß es am Rande der Zentren des kapitalistischen Systems immer Armut und Arbeitslosigkeit gibt. Die Voraussage für Polen z.B. zum nächsten Jahreswechsel ist eine Million Arbeitslose. In Warschau werden schon Suppen in Armenküchen verteilt.
Und für diese bevorstehenden sozialen Unruhen braucht man keine Nuklearwaffen, sondern rasche und flexible Einsatztruppen, Rapid Deployment Forces, die den Frieden garantieren können.
Genau. Alles bewegt sich in diese Richtung. Und die meisten Menschen in Osteuropa glauben, daß ihre neugewonnene, formale Demokratie alle Probleme lösen wird und vergessen dabei die ökonomische Lage, die Stärke des Westens bei gleichzeitiger Schwäche des Ostens.
Vor allem bei den nicht gut genug geschulten Arbeitern, und das sind eigentlich fast alle. Sie können zwar lesen und schreiben — und das unterscheidet sie von den Arbeitern in Lateinamerika —, aber sie haben durch den Sozialismus das Arbeiten verlernt. Ein beliebter Arbeiterspruch im Osten war: Sie, die Fabriksdirektoren, tun so, als ob sie uns bezahlen, und wir tun so, als ob wir arbeiten. Das findet man vielleicht noch am wenigsten in der Tschechoslowakei und der DDR, aber sonst überall.
Das jetzige Problem ist, daß die aus dem Westen importierte neue Technologie ja nicht besonders viel Arbeitskräfte brauchen wird. Die modernen Fabriken produzieren kapital- und forschungsintensiv, nicht arbeitsintensiv.
Genau. Aber differenzieren wir noch etwas mehr: Ostdeutschland wird in Deutschland eingeordnet, das wird eine Menge Geld kosten und mit der Ausbeutung des übrigen Osteuropa bezahlt werden.
Ganz einfach. Man bezahlt dem polnischen Arbeiter eine D-Mark pro Stunde. Der macht vielleicht nicht so gute Arbeit, aber er macht Arbeit. Und dann verkauft man die Produkte für kapitalistische Preise anderswo, macht damit eine Riesenmenge von Geld, und damit finanziert man die Integration Ostdeutschlands. Innerhalb von fünf bis zehn Jahren wird es so keine großen Unterschiede mehr geben zwischen Ost- und Westdeutschland.
Ich sehe vier neue Konfliktfelder: Erstens — nach dem Verschwinden der Pax sowjetica, die wie ein Teppich über den verschiedenen Nationen lag — das Auftauchen lokaler europäischer Stammeskriege.
Das ist die Sprache, die die Herren gebrauchen. Die Knechte sehen es anders. Für sie ist es Befreiung. Zweites Konfliktfeld ist die Dritt-Weltisierung von Osteuropa, die durch die ökonomische Durchdringung unweigerlich entsteht. Da stehen die Deutschen dahinter. Sie nennen es „ökonomische Zusammenarbeit“ und „Integration“, aber es ist Unterwerfung und Ausbeutung. Als drittes Konfliktfeld sehe ich die Wiederauferstehung von Deutschland als ‚Viertes Reich‘.
Nein. Ich sehe das als eigenständigen Konflikt. Denn, als Deutschland gespalten war, war ökonomische Unterwerfung auch möglich. Aber damals war Deutschland gezähmt, heute oder in naher Zukunft ist es das nicht mehr. Nazideutschland hat 17 europäische Länder besetzt, zehn davon waren neutral, die Sowjetunion allein hatte 26 Millionen Opfer zu beklagen. Ich möchte als Norweger sagen, daß ich nichts gegen die Vereinigung Deutschlands habe, aber ich will garantiert haben, daß das Sache der europäischen Staaten ist.
Der vierte Konfliktfaktor ist die Europäische Union als Supermacht.
Es gibt Leute, die das sagen, ich glaube nicht, daß das stimmt. Was im Moment vor sich geht, ist folgendes: Frankreich bejaht die deutsche Vereinigung, unter der Bedingung, daß Deutschland sich als ein Teil der Europäischen Union versteht.
Oder man könnte sagen, die Mutter Europa, die mit einem Riesenbaby schwanger ist. Die Frage ist nur, wie lange sie mit einem solchen Baby schwanger sein kann.
Ja, um die Mutter. Sehen Sie, die Europäische Union ist von Frankreich gedacht und von Deutschland bezahlt. Und so war es ab 1950. Und wenn die Deutschen nicht bezahlen, dann sagen die Franzosen, daß die Deutschen Nationalisten sind. Und wenn die Franzosen das sagen, schweigen die Deutschen ... und bezahlen.
In Europa gibt es keinen.
Japan vielleicht. Meine Voraussage ist, daß es bald einen gemeinsamen Markt zwischen China, Japan und Korea geben wird. Die dynamischste ökonomische Macht ist Japan, der größte Exporteur der Welt Deutschland. Das sind die Riesen der Zukunft. Die USA werden eine sehr viel kleinere Rolle spielen.
Richtig. Anfang 1980 war das bereits ersichtlich.
Zum ersten sähe ich gerne eine Zusammenarbeit zwischen den sechs EFTA-Ländern, Osteuropa und der Sowjetunion.
Das weiß ich. Die EG hat eine phantastische Anziehungskraft. Aber es wäre für den Erhalt des Friedens besser, wenn Osteuropa mit der EFTA kooperieren würde. Später könnte dann ein gemeinsamer EG-EFTA-Vertrag unterzeichnet werden, für einen sogenannten Europäischen Ökonomischen Wirtschaftsraum. So hätte man anstelle des vergangenen militärischen „Gleichgewichts“ ein ökonomisches. Mit der „Europäischen Union“-Lösung allerdings droht ein militärisches und ökonomisches Ungleichgewicht.
Ich weiß nicht genau, was er jetzt betreibt. Er hat die Geschichte verändert, und ich bin nicht so überzeugt, daß er das auch in der Zukunft machen kann. Denn jetzt liegt die Initiative in den Händen der politischen Führer in Westeuropa.
Ich fürchte zwei Sachen: Die Ausbeutung und Armut in Osteuropa und Konfrontationen, die sich daraus ergeben.
Eher viele kleine Konfliktherde und einen oftmaligen Einsatz von Rapid Deployment Forces. Krieg ist ein wenig überholt als Begriff. Wahrscheinlicher sind punktuelle gewalttätige Konfrontationen.
Das beste, was sein könnte, wäre ökonomisches Gleichgewicht und Aufbau einer paneuropäischen Sicherheitsstruktur, vielleicht ausgehend von der KSZE-Konferenz.
Ich hätte gerne drei Konföderationen mit jeweils mehreren Regierungen in Europa gesehen. Erstens eine deutsche Konföderation mit der BRD, der DDR und Westberlin als drittem Teil. Zweitens wäre mir statt der Sowjetunion eine sowjetische Konföderation lieber, mit 15 oder mehr Teilnehmern. Also Unabhängigkeit Litauens und der anderen Republiken und dann Zusammenarbeit und Konföderation mit Moskau. Ich sehe ja gar nicht, wie z. B. diese baltischen Länder ökonomisch überlebensfähig sind ohne den sowjetischen Rahmen. Und die dritte Konföderation wäre eine Bewahrung der EG, wie sie sich in etwa heute darstellt. Es gibt dort — noch — eigenständige Regierungen, die fruchtbar zusammenarbeiten können.
Die setzen ihre bisherige Politik fort. Österreich bleibt Österreich.
Ja, und deswegen ein guter Plan.
Außer man ist begeistert von einer Supermacht und einem unter deutscher Hegemonie stehenden europäischen Großraum. Aber die Welt braucht heutzutage keine Supermächte. Davon hat sie in der Vergangenheit schon genug gehabt.
