friedhof
hier ist alles drauf, was zur friedhofsstimmung, etwa zu allerheiligen, gehört: fallende blätter, grabsteine, friedhofsbesucherInnen, die die hände falten (die dritte von links in einigermaßen bizarrem gestus). lichter und kränze werden zu gräbem gebracht (etwa zum grab des hermann löscher, zweite grabstelle von rechts), ansonsten stehen menschen in streifen, rauten und zickzackgemusterter kleidung und meist weit ausgebreiteten armen etwas ratlos herum.
das grab ganz links ist das grab meiner großeltern, fritz und anna. der ältere bruder meines vaters, der, nach dem vater ebenfalls fritz benannt worden war, liegt auch drin, nicht überlegt hatte ich mir, daß die sterbedaten der beiden fritzen in umgekehrter reihenfolge zur erfolgten steingravur gereiht sind: der zuerst verstorbene fritz ist unter den zuletzt verstorbenen graviert, die daten des zuletzt verstorbenen fritz, meines onkels, sind vermutlich „richtig“, d. h., sie stimmen mit der realität überein, wäre es nicht angebracht gewesen, meinen vater vor das grab seiner eltern und seines älteren bruders zu stellen?
die den friedhof besuchenden sind in überwiegender mehrzahl frauen: nur vor dem grab des hermann löscher steht vermutlich ein mann, erkennbar durch lange hosen, eine ohrfreie haartracht und ungemustert einfärbig graue kleidung, was mir als kind vermutlich kennzeichen genug war. der mann steht in seltsam schrägem Verhältnis zu der neben ihm stehenden frau, die überdies keinem grab eindeutig zugeordnet werden kann.
laut grabsteingravur wurde übrigens hermann löscher 158 jahre alt, was vermutlich auf eine rechenschwäche meinerseits zurückzuführen ist. überhaupt ist bei den geburts- und sterbedaten einigermaßen heftig radiert worden, so scheint sich bei ottilie meindel das sterbedatum mehrmals geändert zu haben.
bei längerem bemühen will mir eine erinnerung heraufdämmern an das rechnen mit geburts- und sterbedaten, an die bemühung um grabsprüche, von denen dann doch nur das legendäre ruhe(t) gut oder in frieden aufs zeichenblatt gebannt wurde, durch die gezeichnete „friedhofsimpression“ erscheint plötzlich das kopfrechnende schulkind und seine schwierigkeit beim errechnen eines menschenmöglichen, für das kind dennoch kaum vorstellbaren lebensalters. dazwischen das nachspitzen des immer wieder stumpfwerdenden bleistifts und zwischen dem ausradieren falscher, also unpassender bleistiftstriche die worte der lehrerin: drück doch nicht so fest auf.
