MOZ, Nummer 50
März
1990
Philosophischer Diskurs:

Funktion der Wahrheit

Ein Essay zur realen und potentiellen Rolle der Philosophie in der kaiptalistischen Gesellschaft.

Auch wenn die Apologeten des Evangeliums der ‚freien‘ Marktwirtschaft über den ihrer Meinung nach eindeutigen, nie ernstlich in Zweifel gezogenen ‚Sieg‘ der kapitalistischen Gesellschaftsordnung über die einzige real-existierende Alternative in Gestalt der real-sozialistischen Systeme jubeln und den ‚Endsieg‘ des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts proklamieren, so schaffen sie es doch nicht, die tiefe Sinnkrise industriekapitalistischer Lebensformen zu entschärfen. Sie geben sich einzig dem Schein des Triumphes kapitalistischer über sozialistische Werte hin, um so den durch die Sackgasse instrumenteller Vernunft bereits in uns ‚ruhenden‘ Nihilismus noch einmal wegzuschieben. Nihilismus ist nicht das An-nichts-mehr-Glaubenkönnen, sondern das Nicht-mehr-Glaubenkönnen an das, was ist. Also der Bruch des integrierenden gesellschaftlichen Mythos, in unserem Falle des Mythos von der ‚freien, sozialen Marktwirtschaft‘ als Materialisation des patriarchalen Vernunftparadigmas.

Der Glaube an den Triumph dieses Mythos ist aus zwei Gründen haltlos. Zum einen nimmt er implizit die Verwirklichung der Idee des Sozialismus in der historischen Formation des realexistierenden Sozialismus an, was ich bezweifeln möchte, setzt aber gleichzeitig Werte wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als in den kapitalistischen Gesellschaften verwirklicht an. Zum anderen ist es kein Sieg von Werten, sondern ausschließlich ein Sieg der Produktivität kapitalistischer Ausbeutung über jene der Planwirtschaft. Vor diesem Hintergrund steht der Selbstbetrug des Egoismus, der sich mit einer Moral der ‚Hilfe für den Osten‘ als ‚Brautgeschenk‘ zur ‚großen bürgerlichen Hochzeit‘ (Marc Ries, Monatszeitung 2/90) schmückt.

Die Frage nach dem Sinn, nach dem, „was ‚wir‘ eigentlicht wollen“, bleibt, da auch die Krise bleibt. Die Philosophen hoffen nun, endlich aus ihrer von den exakten Wissenschaften verordneten ‚Unmündigkeit‘ heraustreten und eine neue Sinnsetzung verkünden zu dürfen. Aber dieses ‚Dürfen‘ von Seiten der Herrschenden hätte nun nichts damit zu tun, daß diese ihren Machtanspruch zur Disposition stellten. Vielmehr hat „der Naturalismus im Laufe des letzten Jahrhunderts als Technik überall triumphiert“, ist „zur universellen Weltanschauung der Epoche geworden“. Natürlich ist der Naturalismus nicht überall als offizielle Philosophie proklamiert, da „Prinzipien, die als modi operandi unzweideutig gesiegt haben, auf ihre programmatische philosophische Formulierung verzichten können“. Da dürfen dann schon mal wieder bona fide humanistische Welt- und Menschenbegriffe formuliert werden, „denn effektive Philosophie besteht nicht in Worten, sondern in den faktisch angewandten Prinzipien der Welt und Menschenbehandlung“ (Günther Anders). Tendenzen der modernen Diskussionen über Ethik, die einen Rahmen unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu deren Legitimation zu finden trachten, geben Zeugnis genug. Die Philosophie ist ein Instrument des Scheins, das uns das Wollen der Herrschenden immer wieder neu überstülpen soll.

Philosophie als Opfer?

Die Rolle der Philosophie in der kapitalistischen Gesellschaft ergibt sich aus der Logik des herrschenden Vernunfttypus, wobei die Philosophie selbst die Fundierung dieses Vernunftbegriffes geliefert hat, also eigentlich ihr eigenes Opfer ist. Die Logik ist jene instrumenteller Rationalität, die teleologisch, d.h. zielgerichtet, im Mittel-Zweck-Schematismus verhaftet, auf das Mensch-Ding-Verhältnis gerichtet, patriarchal ist. Der Kapitalismus als konsequente ‚Spielart‘ des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft liegt mit seiner Ausbeutungs- und Unterdrückungslogik auf der Linie dieses Vernunfttypus. Jedoch konnte der industrielle Kapitalismus „erst ab dem Zeitpunkt seinen Aufschwung nehmen, als sich die ökonomische Rationalität von allen anderen Rationalisierungsprinzipien emanzipierte, um diese ihrerseits seiner Diktatur zu unterwerfen“ (André Gorz). Kommunikative Vernunft im Sinne von Reziprozität, Gleichberechtigung, auf das Mensch-Mensch-Verhältnis gerichtet, wurde somit verdrängt. Eine mögliche wechselseitige Regulierung wurde zu Gunsten der uneingeschränkten Destruktivität der einen Wahrheit aufgegeben.

Innerhalb der Wissenschaften gibt es eine Hierarchie nach ihrer Instrumentalisierbarkeit für Profitinteressen und Macht, an deren oberem Ende die modernen Naturwissenschaften in ihren übelsten menschen- und mitweltfeindlichen Ausprägungen thronen, während am unteren Ende die Philosophie begraben liegt.

Die technisch-naturwissenschaftliche Vernunft kann die Philosophie nur in der Beschränkung auf Beschaulichkeit sehen, insofern sie sich bei Bedarf instrumentalisieren läßt. So ist die Rolle der Philosophie eine des Verharrens in der Beschränkung auf die Apologie der eigenen Geschichte, ohne den Schritt heraus in die Praxis der Gegenwart eine Rolle der Beschaulichkeit als ‚Nach-Denken‘ im Sinne von eklektischem ‚Hinter-Her-Denken‘ von schon Gedachtem. Diese ‚Ursprungsfixiertheit‘ hat zu einem zwar elaborierten, aber erstarrten Begriffsapparat geführt, der vor dem Komplexitätsdruck der Moderne resigniert und das doch nicht wahrhaben will. Die Erstarrung der Begriffe unterstützt durch deren Loslösung von der Realität das Ausfließen des Sinnes aus eben diesen, „bis der Name nutzlos wird“ (Barthes). Diese philosophische „Nicht-Praxis“ ist so Teil jener „Technik der ‚Ent-Nennung‘“, die Marc Ries mit Roland Barthes so treffend als eine Wesenheit bürgerlicher Gesellschaft gesetzt hat.

Beschaulichkeit ist nicht ihr eigentliches ‚Wesen‘, sondern Ausdruck der Verkürzung von Kontemplation zum Selbstzweck. Es fehlt das permanente Abstoßen vom Ursprung ins Jetzt.

Das bedingt den ‚politischen und wissenschaftlichen Diskurs‘ als herrschenden — wobei sich hier ‚Diskurs‘ als asymmetrische Einweg-Kommunikation präsentiert. Philosophie ja, aber nur dann, wenn sie sich als geistiges Kapital zur Legitimation des Status quo und seiner Fortschreibung einsetzen läßt.

Beschaulichkeit muß ein Teil des „Wesensganzen“ der Philosophie sein, als Reflexion und Konkretion, als Basis des Heraustretens aus der selbstgewählten Einsamkeit und des Eintretens in den praktischen politischen Diskurs und Aktionismus. Nur in dieser Weise kann Reflexion die Unterwanderung etablierter Hierarchien bedeuten. Ist dies nicht der Fall, so ist die Philosophie bloße Verwalterin der eigenen traditionalistischen „Großen Erzählung“ (Lyotard) und beraubt sich somit der eigenen Handlungsfähigkeit. Will „geistige Schwangerschaft“ — „zu deren Instinktklugheiten“ die „Selbstvermauerung“ (Nietzsche) zählt — mehr sein als Selbstzweck, so muß sie sich im Sinne eines „Engagements für das Ganze“ (Sartre) in eine Dialektik von Philosophie und Politik integrieren.

Als zweite wesentliche Bedingung der anhaltenden Versteinerung der Philosophie ist Günther Anders’ „Antiquiertheit der Ideologien“ einzuführen. Demnach können es sich die Interessengruppen von heute, die „uns in ‚falschem Bewußtsein‘ zu halten wünschen“, ersparen, „uns mit künstlich hergestellten Weltanschauungen auszurüsten“. Sie umgeben uns mit einer künstlich hergestellten Welt, einer ‚Gerätewelt‘, und treiben unser Bewußtsein in eine Fixierung, die den Bedarf an bewußtseinsprägenden Weltanschauungen erlöschen läßt. So kann der „Betrieb jener Werkstätten, die früher farbige Ideologiebrillen produziert hatten“, eingeschränkt oder gar stillgelegt werden. Das Ideologische materialisiert sich in der Produktewelt und reproduziert sich auf diese Weise selbst. In Zeiten der Heimholung der ‚Renegaten‘ des Ostens in die große Familie des massenkonsumistischen kapitalistischen Einheitsmenschentyps drohte sogar die Stillegung der egozentrischen Propaganda als letztem, aber massivem Überrest der ‚Brillenproduktion‘, würde nicht der gesellschaftliche Mythos des ‚Westens‘ aus seiner eigenen Widersprüchlichkeit heraus schon massive Risse zeigen. An die Stelle nun, wo die automatistische Ideologieproduktion brüchig wird (z.B. Ökologieproblematik), zitieren die Herrschenden die ‚Weisheiten‘ der abrufbereiten Philosophie, um die ideologischen Risse zu verkitten. Die Intention einer kritischen Philosophie müßte hier das Aufbrechen, das ‚Be-nennen‘ dieser Widersprüche sein, um das Totalitätsdenken der Moderne zu durchbrechen und die „zynische Realität der Differenz“ von Mythos und sozialer wie kosmischer Wirklichkeit zu zeigen. Also die Legitimation eines Rechtes auf Dissens ohne die faktische Dominanz eines einheitlichen Prinzips, welches dieses Recht — wie es in westlichen Demokratien der Fall ist — schon a priori zur bloßen Farce verkommen ließe.

Von der Sackgasse zum Labyrinth

Die Frage der sexuellen Differenz ist die dritte Ebene, auf der die Philosophie in die Sackgasse der instrumentellen Vernunft geführt wurde.

Mit der eleatischen [1] Philosophie begann um 500 v.u.Z. die patriarchale Tradition abendländischer Rationalität, deren Dogma eines absoluten Wahrheitsbegriffes den Untergang des Einzelnen vor dem Allgemeinen festschrieb. Dieses Allgemeine ist ein inhumaner männlicher Vernunftbegriff, der alles Seiende der imperialistischen Logik seines hierarchisierenden Gesetzestriebes unterwirft und eine Verabschiedung des Menschen als des Idioten des Universums bringen sollte, ihn aber in Wirklichkeit zum Gefangenen seiner Produkte machte. In dieser Logik liegen Faschismus und Nationalsozialismus ebenso wie die Atombombe und die ‚Diktatur der Gerätewelt‘. All das erscheint vor dem Hintergrund eines Subjektbegriffes, der im Sinne einer Idealität der Männlichkeit als gesellschaftlicher Identität zu verstehen ist. Gesellschaft ist die Realität männlichen Denkens geworden. Eine Orgienfolge von Grenzziehungen und damit Ausgrenzung, eine Diskurslogik von These gegen These, die zur Festgefahrenheit im eigenen Denken und zur Kommunikationsunfähigkeit führt, eine permanent spürbare Mittel-Zweck-Schablone. Ausbeutung im Sinne des „Rechts des (ökonomisch) Stärkeren“ gehören zu diesem „herrschaftlichen Diskurs“, der unsere Gesellschaft ausmacht.

Von einer feministischen Philosophie als „Philosophieren am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau“ (Herta Nagl-Docekal) wird vor diesen Abgründen die Frage nach der Realität weiblichen Denkens gestellt. Die Reduktion von Vernunft im allgemeinen auf die Dimension instrumenteller, männlicher Ratio, die „Eindimensionalität des Menschen“ (Marcuse) ist unter anderem durch die Unterdrückung der Frage nach der Realität weiblichen Denkens bedingt. „Vielleicht ist das die einzige Frage, die sich der Philosoph nicht stellen konnte; welche die unerschütterliche Macht eines Wissens verletzt hätte, das in der Zuordnung schließlich zur Vernunft sich darin noch an ein ganz altes, nicht vernünftiges Prinzip hielt: mit der magischen Kraft des Glaubens, sich nur einer einzigen, absoluten Wirklichkeit zu versichern: der des männlichen Denkens“ (Margaretha Huber). Und diese „weibliche Realität“ kann sich nur durch die Destruktion einer Raumvorstellung hin zur Unendlichkeit eines Labyrinths finden, wäre doch alles andere bloße Reproduktion herkömmlicher männlicher Logik der Grenzziehung. Es ist eine Verabschiedung vom Eleatismus hin zum Idiotismus im Sinne des griech. „idios“: „eigen, privat eigentümlich“. Also zur Unendlichkeit individueller Wahrheiten. Eine Absage an die willkürliche Konstruktion von Innen und Außen, von Feindbildern. Nur auf diese Weise kann es zu einem ‚herrschaftsfreien Diskurs‘, zu einer antitotalitären Idee von Gerechtigkeit kommen, die einen wirklichen Widerstreit ermöglicht.

Die Philosophie als Vermittlung von Faktizität und Zeitlichkeit (Geschichte), die ‚Ent-nanntes‘ wieder ‚Benennen‘ muß. Durch diese ‚Be-nennung‘ der Differenz von Traum und Wirklichkeit soll die Monopolstellung des Mythos von der ‚freien, sozialen Marktwirtschaft‘ aufgebrochen werden. Ein Raum für Utopiefähigkeit entsteht aus dem Ende des „kategorischen Einverständnisses mit dem Sein“.

Im Reich des totalitären Kitsches sind die Antworten von vorneherein gegeben und schließen jede Frage aus. Daraus geht hervor, daß der eigentliche Gegner des totalitären Kitsches ein Mensch ist, der Fragen stellt. Die Frage gleicht einem Messer, das die gemalte Leinwand eines Bühnenbildes zerschneidet. Damit man sehen kann, was sich dahinter verbirgt

(Milan Kundera)

[1Eleatismus: nur durch Denken zu erfassendes Sein, dem die sichtbare Welt und das Werden als Schein entgegengesetzt werden.

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