Heft 5-6/2005
Oktober
2005

„… Geschlechtsmerkmale bei Juden auffallend häufig verwischt …“*

Eine Entgegnung auf Andreas Peham

Der jüdische Monotheismus habe als vergeistigte ‚Vaterreligion’ die Menschheit aus ihrer magisch-omnipotenten Einheit mit der ‚Urmutter’ gerissen, während das Christentum mit der Vergöttlichung des Individuums hinter diesen Schritt regrediert sei und seitdem alles den ‚Narzissmus der Unendlichkeit’ störende, in erster Linie also das Judentum, auszurotten suche – so die Hauptthese von Andreas Pehams Artikeln in den letzten beiden Ausgaben der Context XXI.**

Pehams Betonung christlicher Grundmuster im säkularisierten antisemitischen Denken und Empfinden ist berechtigt. Ebenso hat der Versuch eines psychoanalytisch-subjekttheoretischen Zugangs zu diesen Mustern nach wie vor seine Bedeutung.

Die konkrete Theorie, die Peham dabei zu Rate zieht, verwickelt sich jedoch in Remythologisierungen in der Konzipierung von ‚Geschlecht’. Seine Artikel stützen sich wesentlich auf den französischen Psychoanalytiker Béla Grunberger, der zusammen mit seiner Ehefrau Janine Chasseguet-Smirgel eine Narzissmustheorie entworfen hat, die auf m.E. problematischen Affirmationen des bestehenden Geschlechterverhältnisses basiert. Das Grundgerüst dieser Theorie soll im Folgenden kursorisch dargestellt werden. Danach wird es zu kritisieren und nach den Auswirkungen dieser Kritik auf Grunbergers Antisemitismuskonzeption zu fragen sein.

In seiner großen kulturtheoretischen Studie ‚Narzißmus, Christentum, Antisemitismus’ schildert Grunberger eindringlich das angeblich gottgleiche „ozeanische Gefühl“ des pränatalen „undifferenzierten Urzustands“, das in Form einer sehnsuchtsvollen „Erinnerung an höchste Harmonie und Allmacht“ als narzißtische Instanz in der topischen Struktur der Psyche verbleibe. [1] Postnatal könne es jedoch aufgrund des Aufpralls auf die Realität und die damit verbundene Erfahrung von Differenz nur gebrochen weiter bestehen: Der Säugling sei zunehmend gezwungen vom scheiternden primären Narzissmus zu libidinösen Objektbeziehungen zu wechseln. Die symbiotische tragende Beziehung zur Mutter bilde hierbei einen Übergang zwischen objektlos-narzisstischer Verschmelzung und dem sich entwickelnden Triebmodus. [2] Die omnipotente Herrschaft des Narzissten werde durch den „Besitz“ des Triebobjekts ersetzt. [3] Doch auch der Triebmodus könne sich nicht ungehemmt entfalten: Die das Realitätsprinzip komplettierenden ödipalen väterlichen Gebote, die den Mutterinszest, d.h. die tendenzielle Rückkehr zur Ungeschiedenheit, was einen „Verlust der Errungenschaften der Hominisation“ darstellen würde, endgültig verböten, verursachten eine noch tiefere „narzißtische Wunde“ als das ‚Geburtstrauma’. [4]

Für den weiteren Verlauf unterscheidet Grunberger eine bürgerliche „patri-ödipale“ und eine „matri-narzißtische“ Variante [5] – seine Fassung des autoritären Charakters. In der ersten, Subjektivität hervorbringenden Lösung werde das ‚Vaterprinzip’ akzeptiert, als Über-Ich verinnerlicht und der uneingeschränkte Narzissmus zugunsten des sublimierten Triebmodus aufgegeben. Jener könne damit ein Stück weit verwandelt realisiert werden, denn diese (männliche) Lösung des Ödipuskomplexes stelle in zweierlei Hinsicht einen „Verband für die narzißtische Wunde“ dar [6]: Erstens könne im Triebmodus über den ‚Besitz’ des Objektes weiter auf die omnipotente Ungetrenntheit gezielt werden und zweitens ermögliche die Identifikation mit dem Vater die Teilhabe an dessen phallischer Großartigkeit. Der Phallus werde nun in der Ablösung der mütterlichen Ungeschiedenheit durch die Teilhabe an der väterlichen Macht zum Symbol der „narzißtischen Integrität“. [7] Das zunächst den Narzissmus kränkende (väterliche) Überich bilde somit eine Synthese mit dem auf den pränatalen Zustand der magischen Allmacht zielenden Ichideal.

Der zum Antisemitismus Disponierte – der ‚matri-narzißtische Charakter’ – vermeide dagegen mit dem Durchgang durch den Ödipuskomplex sowohl die Integration eines realitätsgerechten Überichs als auch die „neue (triebhafte) Art“, das kompensatorische „Äquivalent des pränatalen erhaben-erhebenden Zustandes“. [8] Er verbleibe dagegen ganz in dem infantilen Zustand. Ungestört von den „Herausforderungen der Triebökonomie und des Ödipus“ schwelge dieses narzißtische Individuum weiterhin als Einheit mit Gott, d.h. „dem Universum oder der Ur-Mutter“ [9] in der Omnipotenz der „grandios-narzißtischen Verschmelzungsphantasien“ – ein Muster, das das Christentum charakterisiere. [10] Säkularisiert gehe der christliche Gott im alle Subjektivität auslöschenden ‚Volk’ auf. Der antisemitische Hass, der sich gegen alles diesen narzisstischen Zustand Störende richte, ziele sowohl auf das Über-Ich – also das ‚väterliche Prinzip’ –, als auch auf das Es – d.h. den Triebmodus und seine Objekte. Beides werde im ‚Juden’ gefunden. Bei Grunberger erscheint der völkische Antisemitismus somit als totale Regression um mehrere Jahrtausende, als Rückfall hinter die gesamte Zivilisationsgeschichte.

Dagegen lässt sich einiges sagen und so gibt es denn auch einige Kritik an Grunberger und Chasseguet-Smirgel, die Peham aber ignoriert. Abgesehen vom Zweifel, ob das Judentum sich wirklich treffend als ‚Vaterreligion’ bezeichnen lasse, [11] ist Grunbergers und Pehams Idealisierung des individuierenden Vaters und seiner ödipalen Gebote zu hinterfragen.

„Nach dieser Auffassung ist der ödipale Wunsch, die Mutter als ausschließliche Geliebte zu wählen, als später Ausdruck früherer narzisstischer Strebungen zu verstehen – nämlich als Sehnsucht nach primärer Fusion, als das Kleinkind noch Fülle und Vollkommenheit genoß. Die Erfüllung des Inzeßtwunsches würde daher eine Rückkehr zum narzisstischen Einssein bedeuten, den Verlust des unabhängigen Selbst, den psychischen Tod“ [12], so das Resümee der Psychoanalytikerin Jessica Benjamin. Doch: „Warum erscheint die Mutter nur als eine gefürchtete [und ersehnte, S.W.] archaische Figur, die der ödipale Vater zurückdrängen muß? […] Eher sollten wir meinen, daß die Beschwörung der weiblichen Bedrohung ein uralter Mythos ist, der die Unterordnung der Frau legitimiert.“ [13]

Benjamin entwirft ein anderes Bild menschlicher Entwicklung. Auch sie richtet dabei ihr Hauptaugenmerk auf die Verarbeitung der Erfahrung von Differenz. Sie wendet sich dabei aber gegen das Paradigma einer eindimensionalen Ablösung aus der mütterlichen Symbiose. Der Kontakt mit der Realität, die Differenzierung in Selbst und Andere, die schon die Erfahrung der frühesten Mutter-Kind-Interaktionen und nicht erst die Triangulierung präge, führe nicht ausschließlich zum Zurückweisen von deren Eigengesetzlichkeit und zum Verharren in der Symbiose – weder rein narzisstisch, noch sublimiert zum auf ‚Besitz’ zielenden Triebmodus –, sondern eröffne einen psychisch neuen, ‚intersubjektiven’ Raum, in dem sich die Erfahrung der unabhängigen Existenz des Anderen, des Selbst sowie ihre Verbundenheit miteinander bedingen und die Befriedigung des existentiellen „Bedürfnis nach Anerkennung“ ermöglichen: „Eine Person bekommt das Gefühl: ‚Ich bin es, die etwas tut, ich bin die Urheberin meines Tuns’, wenn sie mit einer anderen Person zusammen ist, die ihre Taten, ihre Gefühle, ihre Intentionen und ihre Existenz, ja, ihre Unabhängigkeit anerkennt.“ [14]

Die resultierende „Gedoppeltheit der Psyche“, einerseits die intersubjektive „Fähigkeit, die Mutter anzuerkennen“, andererseits die „Tendenz, an Allmachtsphantasien über die Mutter festzuhalten“, sei geprägt von einer unaufhebbaren Spannung. Vergleichbar mit Melanie Kleins Konzept der Ambivalenz „zwischen depressiver und schizoider Position“ sieht Benjamin nicht nur die defensive Leugnung der Realität (‚schizoide Position’), sondern auch die Freude an ihrer Existenz und die Angst vor deren Zerstörung durch eigene Omnipotenzwünsche (‚depressive Position’). „Die Phantasiewelt des Unbewussten, in der das Ich, ebenso wie andere Objekte, allmächtig sein kann, wird dann ausbalanciert durch die Welt der Beziehungen, in denen wir die Subjektivität anderer begreifen, das heißt emotional als real empfinden.“ [15] Vorraussetzung dieses Prozesses ist ein wirkliches Gegenüber, das mehr als ein Teil des Selbst ist, d.h. eines, das Omnipotenzphantasien auch frustriert. Erst im Erleben, dass es zwar angerührt, aber nicht zerstört werden kann, konstituiert sich der Unterschied. „[…] im Anerkennungskampf muß jedes der Subjekte sein Überleben aufs Spiel setzen, muß versuchen, den anderen zu negieren – und wehe, wenn es obsiegt: Denn wenn ich den anderen völlig negiere, existiert er ja nicht mehr; und wenn er nicht überlebt, ist niemand mehr da, der mich anerkennt.“ [16]

Der Andere ist bei Grunberger nur ein Werkzeug des monadischen Selbst zur (letztlich narzisstisch gespeisten) Triebbefriedigung. Bei Benjamin dagegen liegt gerade in seiner Eigenständigkeit der Wert für das Selbst, das Potential, sich aus dem „Gefangensein im Gefühl der Allmacht“ [17] zu befreien.

Der intersubjektive Raum werde nun aber systematisch verunmöglicht durch die symbolische Ordnung als (selbstbezügliches) gesellschaftliches Sinnstiftungssystem, in der das Erleben seinen Ausdruck finden müsse. [18] Von der realen Arbeitsteilung zusätzlich gestärkt, werde die Ambivalenz innerhalb intersubjektiver Anerkennung – der Wunsch nach Verbundenheit mit dem Anderen und der Wunsch nach narzisstischer Unabhängigkeit – nur als aufgespaltene, als Antagonismus repräsentierte und mit ‚Weiblich-’ bzw. ‚Männlichkeit’ verknüpfte dem Bewusstsein zugänglich. „Die beiden unversöhnlichen Bedürfnisse werden dann allmählich als eine Geschlechterspaltung formuliert: Die Mutter verkörpert die Bindung, der Vater die Anerkennung der Unabhängigkeit.“ [19] Ergebnis sind die vertrauten bürgerlichen Geschlechtszuweisungen. In Meyers Conversationslexikon von 1848 etwa wird das „‚Männliche als das relativ vorzugsweise Individuelle, das Weibliche als das relativ vorzugsweise Universelle’ charakterisiert, wobei Individualität den Charakter der ‚Selbstheit, Selbstständigkeit, der Kraft und Energie, der möglichsten Begrenzung und Abgeschlossenheit, des Antagonismus; – Universalität hingegen den der Abhängigkeit, Unbestimmtheit, Verschmelzung, Hingebung, der Sympathie’ hat“ [20] Wechselseitigkeit wird durch Komplementarität ersetzt. Zugleich impliziere diese Spaltung Herrschaft, was Grunberger in seinem Konzept von ‚Besitz’ als reifem Modus des Objektbezuges affirmiert. „Die Folge solcher Unfähigkeit, Abhängigkeit und Unabhängigkeit miteinander zu versöhnen, ist die Verwandlung des Bedürfnisses nach Anerkennung in Herrschaft […].“ [21] ‚Besitz’, bei dem ein Subjekt sich unterwirft, zum Anhängsel wird, das der Andere sich einverleibt, ist unter dem Zeichen der Geschlechterdifferenz das Ziel des Trieblebens. Letztlich hebt sich die Differenz, die das eindimensionale ‚väterliche Prinzip’ gewährleisten sollte, so selbst wieder auf.

Die Rekategorisierungen des Erlebens in der geschlechtlichen Systematik sind Wunscherfüllung und -versagung zugleich. Ihr Resultat – weibliche oder männliche Geschlechtsidentität – wäre demnach als ein Versuch zu begreifen, das Zerstörte doch noch zu realisieren – in den Kategorien der Zerstörung, den Schiefheilungen der strukturell sadomasochistisch organisierten Geschlechtsidentitäten. ‚Weiblichkeit’ und ‚Männlichkeit’ erscheinen gleichermaßen als Produkt dieses Prokrustesbettes, in das das Erleben gezwängt wird. Die Bedrohung der Schiefheilungen durch widersprechende Impulse bedarf permanenter Abwehrmechanismen.

Der hannoversche Sozialpsychologe Rolf Pohl, der deutlicher noch als Benjamin die Unversöhnlichkeit der Ambivalenz von Nähe und Autonomie, Liebe und Hass, die zu keiner Zeit harmonisch miteinander koordiniert, wohl aber in einer offenen Spannung gehalten waren, darstellt, analysiert in seinem Buch ‚Feindbild Frau’ die männliche Position. Sie sei geprägt von Angst vor und Hass auf ‚Weibliches’ und dessen Verlockungen, die die monadische Abgeschlossenheit gefährde (und bei etwas integrierterer Charakterbildung gerade deshalb ersehnt werde). Das Unbehagen am Triebmodus der Befriedigung, das Grunberger beschreibt, wird interpretiert als Angst vor dem (auch als ‚Besitz’ immer noch ein Stück weit) eigenständigen Objekt, das die Abhängigkeit wieder vor Augen führe und deshalb, quasi als Notwehrhandlung, vollkommen unterworfen, devitalisiert und vernichtet werden müsse. [22] Die Tendenz zum objektlosen Zustand, beschrieb Freud als ‚Todestrieb’. Pohl setzt fort: „In unserer Kultur jedenfalls kann der Todestrieb […] als exquisit männliches Prinzip gelten.“ [23]

Allerdings verliert dieser Fokus den Beitrag von (mit ihrer ‚Weiblichkeit’ argumentierenden) Frauen zum antisemitischen Diskurs und Mordprogramm aus dem Blick. Zudem erscheinen Rassismus und Antisemitismus wie auch schon bei Klaus Theweleit [24] als bloße Variante der ubiquitären Misogynie. [25] Antisemitismus begründet sich dagegen auch explizit antisexistisch:

„Zwei neue Erlösungstheorien stehen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie haben den selben Bezugspunkt, dasselbe Ziel, und doch scheinen sie einander entgegengesetzt. Der gemeinsame Bezugspunkt liegt im Weiblichen, das gemeinsame Ziel in der Erlösung vom Jüdischen: Aber während die eine die Erlösung vom Jüdischen durch die Überwindung der Weiblichen erstrebt, liegt in der anderen die Erlösung vom Jüdischen in dessen Überwindung durch das Weibliche.“ [26] ‚Weiblichkeit’ wurde ebenso als Hoffnung gegen die ‚jüdische’ Abstraktheit und Natur- bzw. ‚Volks’-Entfremdung, wie auch als identisch mit der ‚jüdischen’ Sinnlichkeit und Lüsternheit gesehen.

Mit Benjamin lässt sich hier weiterdenken. Dabei ist davon auszugehen, das der Nationalsozialismus weder eine „bloße Spielform des Patriarchats“, wie etwa die Historikerin Gisela Bock annahm, [27] noch potentiell „durchaus fortschrittlich“ in Bezug auf die Frauenrollen war, wie Christine Wittrock meinte. [28] Er war vielmehr mitgetragen von den eigenständigen projektiv-reaktionären Phantasien und dem daraus folgenden Handeln deutscher Frauen. „Ich vermute“, so die Soziologin Karin Windaus-Walser, „daß die spezifische, nicht bloß patriarchal zu nennende nationalsozialistische Konstruktion des Geschlechterverhältnisses keineswegs nur ‚Männerphantasien’ (Theweleit) entstammte, sondern daß es dazu ein aktives Gegenstück auf seiten der Frauen gab, eine weibliche ‚Logik’, die sich mit der männlichen zu einer Einheit verband. Nur Männer und Frauen zusammen konnten einen solchen Vernichtungskosmos wie den Nationalsozialismus Realität werden lassen.“ [29]

Projektive Phantasien ‚auf seiten der Frauen’ geraten aber aus dem Blick, wenn etwa mit Grunberger Frauen ein geringeres Maß an Gebrochenheit in der Entwicklung unterstellt wird (die – scheiternde –Loslösung von der ‚Urmutter’ ist ein männliches Prinzip). Doch: „Das Weib als vorgebliches Naturwesen ist Produkt der Geschichte, die es denaturiert.“ [30] Im Sinne dieses Satzes aus der ‚Dialektik der Aufklärung’ beschreibt die Politologin Ljiljana Radonic die Genese eines „weibliche[n] autoritäre[n] Charakter[s]’, wobei sie sich vor allem auf die Teilstudie von Else Frenkel-Brunswick und R. Nevitt Sanford zu den ‚Studies in Prejudice’ stützt. ‚Weiblichkeit’, als Produkt der Abspaltung selbstbehauptend-narzißtischer Aggression, erfordere demnach die selben Mechanismen der Projektion von Verdrängtem wie ‚Männlichkeit’, bloß wird Anderes, ‚Unweibliches’ projiziert – v.a. Aggressions- und Autonomiewünsche. [31]

Völkisches Denken trieb die Verhärtung der Geschlechterdifferenz in ihr Extrem. Ihre Spannung, die selbst im Machismo noch lag, war im NS erstarrt. Der Verdinglichung fielen beide Seiten zum Opfer, so dass völkische Geschlechtsidentitäten nicht mehr den bürgerlichen entsprachen: Im völkischen Denken ging das ‚autonome männliche Individuum’ ebenso unter wie die ‚liebende Hausfrau und Mutter’. Beide Geschlechter wurden so selbstlos wie unanrührbar – daher die paradoxe ‚Angleichung’ der Geschlechter im Nationalsozialismus, von der die Historikerin Ute Planert spricht. [32] Im Phantasma vom ‚Volk’, dem Körper, der den eigenen ersetzen sollte, fand die ‚Versöhnung’ statt: ‚Weibliches’ Verschwimmen und ‚männliches’ Grenzenbewahren zeichnete alle ‚Zellen’ im ‚Volkskörper’ aus. Die Versöhnung eliminierte das zu Versöhnende. Adorno und Horkheimer schrieben über den Prozess, der im NS kulminierte: „Er hat den Selbstvergessenen des Gedankens wie den der Lust mit Fluch belegt.“ [33] Denn Geist sogut wie Lust hätten die Starrheit des Denkens derer, die vermeinten, sie zu versöhnen, zersetzt.

Der Hass traf den ‚Juden’, der nicht nur die ‚Vaterreligion’ repräsentierte, sondern durch – im phantasmatischen Bild – „auffallend häufiges Auftreten sexueller Applanation“, [34] also Geschlechterdifferenzverwischungen eine Erinnerung an die unbefriedete Spannung darstellte. Der/die AntisemitIn regrediert mithin nicht einfach auf ein real existent gewesenes Stadium ihrer Frühgeschichte, sondern verweigert sich dem intersubjektivem Raum, der ihr aufgrund der petrifizierten Geschlechterdifferenz nicht zugänglich ist.

Der an sich und seiner jüdischen Abstammung verzweifelnde Antisemit Otto Weininger formulierte 1903 das Unverständnis für nicht herrschafts- und geschlechtsförmige Ausgänge der Anerkennungsdialektik, d.h. für jenes „Glück ohne Macht“, das Adorno und Horkheimer als Feindbild des Antisemitismus erkannten, [35] zusammenfassend: „Dem Juden fehlt die Härte, aber auch die Sanftmut – eher ist er zäh und weich; er ist weder roh noch fein, weder grob noch höflich. Er ist nicht König, nicht Führer, aber auch nicht Lehnsmann, nicht Vasall.“ [36]

*) Schickedanz, Arno (1933): Ein abschließendes Wort zur Judenfrage, in: Nationalsozialistische Monatshefte, 4. Jg., H. 34, Januar 1933, S. 30; Schickedanz war Mitarbeiter im Amt Rosenberg der NSDAP.
**) siehe Context XXI 8/2004

[1vgl. Grunberger, Béla (1971 Erstveröff.): Vom Narzissmus zum Objekt, FfM 1976: Suhrkamp, S. 26ff

[2vgl. Dessuant, Pierre/Grunberger, Béla (1997 Erstveröff.): Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung, Stuttgart 2000: Klett-Cotta, S. 53

[3vgl. ebd.: S. 42

[4vgl. ebd.: S. 359

[5vgl. ebd.: S. 74

[6vgl. ebd.: S. 56

[7vgl. Grunberger (1971): S. 208

[8vgl. ebd.: S. 44

[9vgl. Peham, Andreas (2004): Vom Reinheitswahn zum Vernichtungswunsch. Christentum, Narzissmus und Antisemitismus, in: Context XXI, Nr. 8, 2004, S. 7

[10vgl. Peham, Andreas (2005): Von Paulus zu Luther. Der Protestantismus und die Erneuerung des Glaubens, in: Context XXI, Nr. 1-2, 2005, S. 39

[11vgl. hierzu z.B. Wallach-Faller, Marianne (2000): Frau im Tallit. Judentum feministisch gelesen, Zürich:Chronos

[12Benjamin, Jessica (1988 Erstveröff.): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, FfM 1999: Fischer TB, S. 145

[13ebd.: S. 148ff

[14vgl. Benjamin (1988), S. 24

[15vgl. Benjamin, Jessica (1993): Die allmächtige Mutter. Ein psychoanalytischer Versuch über das Verhältnis von Phantasie und Realität, in: dies.: Phantasie und Geschlecht. Studien über Idealisierung, Anerkennung und Differenz, Basel: Stroemfeld, S. 63f

[16vgl. ebd., S. 40ff, Herv. i.O.

[17vgl. Benjamin (1993), S. 68

[18vgl. hierzu auch: Lorenzer, Alfred (1984): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt: Fischer TB, S. 109ff

[19Benjamin, Jessica (1991 Erstveröff.): Vater und Tochter. Differentielle Identifizierung. Ein Beitrag zur Heterodoxie der Geschlechter, in: dies.: Phantasie und Geschlecht. Studien über Idealisierung, Anerkennung und Differenz, Basel: Stroemfeld, S. 93

[20Hausen, Karin (1976): Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere’ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart: Klett, S. 366

[21Benjamin (1988), S. 55

[22vgl. Pohl, Rolf (2004): Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen, Hannover: Offizin, S. 200ff

[23ebd.: S. 280

[24vgl. Theweleit, Klaus (1977/1978 Erstveröff.): Männerphantasien (2 Bde.), Reinbek bei Hamburg1987/1989: Rowohlt TB

[25vgl. Pohl (2004), S. 299ff

[26Ziege, Eva-Maria (1996): Die ‚Mörder der Göttinnen’. In: Schoeps, Julius H./ Schlör, Joachim (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München/Zürich: Piper, S. 180; Herv. i.O.

[27vgl. Windaus-Walser, Karin (1988): Antisemitismus – eine Männerkrankheit?? Zum feministischen Umgang mit dem Nationalsozialismus, in: SFBF e.V. (Hg.): Materialienband. Vorträge aus der Frankfurter Frauenschule, Bd. 3, S. 30; „In der frauen- und geschlechterhistorischen Literatur zum Nationalsozialismus, wie sie seit den späten siebziger Jahren entstand, […] herrschte, überspitzt formuliert, die Auffassung vor, das Dritte Reich sei eine Frauenhölle gewesen, ein zutiefst patriarchalischer Staat, der Frauen um Menschenwürde und -rechte betrogen und sie zu überwiegend willfährigen Sklavinnen der Männer degradiert habe.“ Frevert, Ute (1997 Erstveröff.): Frauen. In: Benz, Wolfgang u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus (= Digitale Bibliothek, Bd. 25), Berlin 1999: Klett-Cotta, S. 545

[28vgl. Windaus-Walser(1988), S. 32

[29ebd.: S. 38

[30Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1944 Erstveröff.): Dialektik der Aufklärung (= Adorno, Theodor W.: GS, Bd. 3), FfM 1997: Suhrkamp, S. 132

[31Radonic, Ljiljana (2004): Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus, FfM: Europäischer Verlag der Wissenschaften, S. 152ff

[32vgl. Planert, Ute (2002): ‚Weise Zuchtwahl der Tüchtigen’ und die ‚Pflicht, gesund zu sein’: Rassenhygiene und Körperpolitik im frühen 20. Jahrhundert, in: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie, H. 25, Juni 2002, S. 68f

[33ebd.: S. 46

[34Schickedanz (1933), S. 30

[35vgl. Adorno/Horkheimer (1944), S. 196

[36Weininger, Otto (1903 Erstveröff.): Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Berlin 1932: Gustav Kiepenheuer, S. 432

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